Walter Scheidt (geboren am 27. Juli 1895 in Weiler im Allgäu; gestorben am 9. Juli 1976 in Lindenberg im Allgäu) war ein deutscher Eugeniker (Rassenbiologe) und Anthropologe. Er gilt als Begründer der Familienanthropologie. Unter dem Pseudonym Berchtold Gierer verfasste er auch Trivialliteratur.

Leben

Scheidt nahm am Ersten Weltkrieg teil. Danach studierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München Medizin und Naturwissenschaften bis zur Promotion 1921. Er wurde erster Assistent am Anthropologischen Institut der Universität unter dem Schweizer Rudolf Martin (1864–1925) und habilitierte sich 1923 für Anthropologie. 1928 wurde ihm die Bezeichnung Professor verliehen. Seit etwa 1930 zählte er zum führenden Kreis deutscher Anthropologen. 1933 wurde er als Ordinarius der erste Direktor des neu gegründeten Institut für Rassen und Kulturbiologie der Universität Hamburg. Sein an der Philosophischen Fakultät eingerichteter Lehrstuhl für Rassenbiologie (mit Rassenbiologischem Institut) entstand durch Umwidmung des Lehrstuhls des kurz zuvor emigrierten Ernst Cassirer, der 1929 der erste jüdische Rektor einer deutschen Universität geworden war. Auch nach der Umbenennung 1945 in Anthropologisches Institut wirkte Scheidt dort bis zu seiner Pensionierung 1964.

Scheidt trat bereits in den 1920er Jahren für eine Verbindung von Populationsgenetik, Bevölkerungsgeschichte und Genealogie ein. Scheidt vertrat wie Karl Saller und Friedrich Merkenschlager einen dynamischen Rassenbegriff (im Gegensatz zu dem von Hans Friedrich Karl Günther in dessen 1922 verbreiteter statischen Rassenlehre, die in der nationalsozialistischen Rassendogmatik popularisiert wurde). Seine Mitarbeiter und er selbst führten von 1923 bis 1936 zehn Forschungsprojekte durch. Dazu zählt Scheidts 1932 erschienenes Buch Bevölkerungsbiologie der Elbinsel Finkenwärder vom Dreißigjährigen Kriege bis zur Gegenwart. Von 1926 bis 1927 war Scheidt Herausgeber der Zeitschrift Volk und Rasse. Nach der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten unterzeichnete er am 11. November 1933 das Bekenntnis der deutschen Professoren zu Adolf Hitler. Zu seinen Assistenten am Rassenbiologischen Institut der Philosophischen Fakultät in Hamburg gehörte ab dem 1. Januar 1934 Friedrich Keiter, den Scheidt 1938 der Philosophischen Fakultät als Extraordinarius vorschlug.

Im Gegensatz zu massenstatistischen Erhebungen der auch anthropologisch tätigen Wissenschaftler Rudolf Virchows und Otto Ammons führte Scheidt eine rassenbiologische Untersuchung an begrenzten Bevölkerungsgruppen ein, die zur zentralen Methodik der deutschen Anthropologie wurde. Historisch wird Scheidt als gemäßigter Vertreter der von den Nationalsozialisten institutionalisierten Rassenbiologie eingeordnet sowie als Ausnahmeerscheinung und Sonderling unter den deutschen Rassenhygienikern und -biologen bezeichnet. Einerseits begrüßte er 1935, dass die Rassenbiologie durch den Nationalsozialismus „zur Wirklichkeit Aller“ gemacht wurde, und gab zusammen mit Ernst Dobers Hefte für den rassenbiologischen Schulunterricht heraus. Andererseits machte er ohne Parteibuch Karriere, wahrte Distanz zur Politik und bestand auf seiner Unabhängigkeit als Wissenschaftler. Scheidt lehnte die Erstellung erbgesundheitlicher Gutachten strikt ab, und Scheidts Institut gab als einziges Anthropologisches Institut keine Rassegutachten ab.

Unter dem Pseudonym Berchtold Gierer erhielt er 1941 als völkisch-propagandistischer Schriftsteller für Geschlechter am See den neu gestifteten Wilhelm-Raabe-Preis der Stadt Braunschweig.

Veröffentlichungen (Auswahl)

Unter dem Namen Walter Scheidt:

  • Einführung in die naturwissenschaftliche Familienkunde / Familienanthropologie, 1923, J.F. Lehmann, München.
  • Familienbuch. Anleitungen und Vordrucke zur Herstellung einer Familiengeschichte. Lehmann, München 1936.
  • Allgemeine Rassenkunde als Einführung in das Studium der Menschenrassen, 1925, J.F. Lehmann, München.
  • Kulturbiologie: Vorlesungen für Studierende aller Wissensgebiete, 1930, Fischer, Jena.
  • Rassenbiologie und Kulturpolitik (1) Rassenkunde, 1930, Reclam, Leipzig.
  • Rassenbiologie und Kulturpolitik (1) Kulturkunde, 1931, Reclam, Leipzig.
  • Die politische Sendung der Rassenbiologie. In: Kölnische Zeitung vom 14. August 1933.
  • Die Träger der Kultur, 1934, Metzner, Berlin
  • Die Lebensgeschichte eines Volkes: Einführung in die rassenbiologische und kulturbiologische Forschung 1934, Hermes, Hamburg.
  • Niedersächsische Bauern in der Lüneburger Heide: Lebensgeschichte eines Heidekirchspiels, 1936, Hermes, Hamburg.
  • Die Sprachoberfläche der Seele (1): Versuch einer Sprachdeutung für rassenpsychologische Forschungen, 1936, Hermes, Hamburg.
  • Die Sprachoberfläche der Seele (2):Die zahlenmäßige Kennzeichnung verschiedener Stile, 1936, Hermes, Hamburg.
  • Schriftleiter (1926–1927) von „Volk und Rasse. Illustrierte Vierteljahresschrift für deutsches Volkstum“ Julius Friedrich Lehmann Verlag

Unter dem Pseudonym Berchtold Gierer:

  • Tross der Reiter, Berlin: Verl. d. Druckhauses Tempelhof, 1949
  • Geschlechter am See, Berlin: Propyläen-Verlag G.m.b.H., 1940
  • Die Geige, Berlin: Propyläen-Verl., 1944
  • Pallasch und Federkiel, Berlin: Propyläen-Verl., 1939

Literatur

  • Heidrun Kaupen-Haas, Christian Saller (Hrsg.): Wissenschaftlicher Rassismus: Analysen einer Kontinuität in den Human- und Naturwissenschaften. Campus, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-593-36228-7.
  • Michael Vetsch: Ideologisierte Wissenschaft: Rassentheorien deutscher Anthropologen zwischen 1918 und 1933. (Lizenziatsarbeit, Universität Bern, 2003). (PDF-Datei; 0,80 MB)

Einzelnachweise

  1. 1 2 3 Ernst Klee: Das Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945. Fischer Taschenbuch Verlag, Zweite aktualisierte Auflage, Frankfurt am Main 2005, ISBN 978-3-596-16048-8, S. 529.
  2. Ute Felbor: Das Institut für Vererbungswissenschaft und Rasseforschung der Universität Würzburg 1937–1945. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen, Band 11, 1993, S. 155–173, hier: S. 162–164.
  3. Nachweis des Pseudonyms im Nominalkatalog der ULB Tirol
  4. Ute Felbor: Rassenbiologie und Vererbungswissenschaft in der Medizinischen Fakultät der Universität Würzburg 1937–1945. Königshausen & Neumann, Würzburg 1995 (= Würzburger medizinhistorische Forschungen. Beiheft 3.) Zugleich Dissertation Würzburg 1995, ISBN 3-88479-932-0, S. 7 f.
  5. Ute Felbor: Rassenbiologie und Vererbungswissenschaft in der Medizinischen Fakultät der Universität Würzburg 1937–1945. 1995, S. 115 f.
  6. Eugen Fischer (Hrsg.): Deutsche Rassenkunde. Forschungen über Rassen und Stämme, Volkstum und Familien im Deutschen Volk; Bd. 10: Niedersächsische Bauern, Walter Scheidt: II. Bevölkerungsbiologie der Elbinsel Finkenwärder vom dreißigjährigen Krieg bis zur Gegenwart, Verlag von Gustav Fischer, Jena 1932.
  7. Ute Felbor: Rassenbiologie und Vererbungswissenschaft in der Medizinischen Fakultät der Universität Würzburg 1937–1945. 1995, S. 93 f., 101–103.
  8. Ute Felbor: Rassenbiologie und Vererbungswissenschaft in der Medizinischen Fakultät der Universität Würzburg 1937–1945. Königshausen & Neumann, Würzburg 1995 (= Würzburger medizinhistorische Forschungen. Beiheft 3.) Zugleich Dissertation Würzburg 1995, ISBN 3-88479-932-0, S. 77 f.
  9. 1 2 3 Heidrun Kaupen-Haas, Christian Saller (Hrsg.): Wissenschaftlicher Rassismus: Analysen einer Kontinuität in den Human- und Naturwissenschaften. Campus, Frankfurt am Main 1999, ISBN 3-593-36228-7, S. 37, S. 42; S. 19: „Sogar der als gemäßigt einzustufende Walter Scheidt führt 1935 aus […] ‚daß die nationalsozialistische Bewegung als politische Macht in auf eine ihrem Geiste wesensgleiche wissenschaftliche Entwicklung der Rassenbiologie traf‘. In seinem Buch Die Träger der Kultur (1934) ist außerdem zu lesen ‚[…] die weltgeschichtliche Tat unseres Führers Adolf Hitler hat, das, was einmal Theorie Weniger gewesen ist, zur Wirklichkeit Aller gemacht. […] Die Zeit, da rassenbiologische Lehren belächelt, bezweifelt und bekämpft wurden, liegt für immer hinter uns.‘“
  10. 1 2 3 Hans-Christian Harten, Uwe Neirich, Matthias Schwerendt: Rassenhygiene als Erziehungsideologie des Dritten Reichs. Akademie, Berlin 2006, ISBN 3-05-004094-7, S. 324, S. 333; S. 285 f.: „1936 schrieb der Rektor der Hamburger Universität, Scheidt sei zwar nicht Parteigenosse, ‚er bejaht aber unbedingt den Nationalsozialismus […]‘. Die Gauleitung der NSDAP äußert sich zwei Jahre später erheblich kritischer über ihn: Er hänge zwar die Hakenkreuzfahne heraus, lehne aber den Beitritt seiner Kinder zur HJ ab, beteilige sich nicht an Gemeinschaftsfeiern der Partei, sein Leben […] stimme nicht mit seiner Lehre überein. 1941 wird er als politisch unzuverlässig bezeichnet, die Kinder immer noch nicht in der HJ, schlimmer noch, Scheidt soll zu jenen Personen gehören, ‚die den Führer in ihren Reden ironisch behandeln.‘“
  11. Ute Felbor: Rassenbiologie und Vererbungswissenschaft in der Medizinischen Fakultät der Universität Würzburg 1937–1945. 1995, S. 97 f.
  12. Hanna Leitgeb: Der ausgezeichnete Autor: Städtische Literaturpreise und Kulturpolitik. Walter de Gruyter, Berlin 1994, ISBN 3-11-014402-6, S. 227 (online).
  13. Frank Westenfelder: Genese, Problematik und Wirkung nationalsozialistischer Literatur am Beispiel des historischen Romans zwischen 1890 und 1945. Lang, Frankfurt am Main 1989, Kapitel IV.8.2: Völkische Romane, S. 307 ff. (online).
  14. http://links.jstor.org/sici?sici=0002-7294(192701%2F03)2%3A29%3A1%3C146%3AAN%3E2.0.CO%3B2-R
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