Das Judenauto betitelte Franz Fühmann eine Sammlung von 14 Erzählungen.

Handlung

„Wie tief hinab reicht das Erinnern?“ Mit dieser leitmotivischen Fragehaltung eröffnet der DDR-Schriftsteller Franz Fühmann in Das Judenauto eine literarische Vergegenwärtigung seiner ersten Lebensjahrzehnte. In vierzehn autofiktiv gestalteten Berichten wird erzählt, wie die Ich-Figur gewichtige historische Ereignisse zwischen 1929 und 1949 („14 Tage in zwei Jahrzehnten“) erlebt: als Schüler, begeisterter Wehrmachtssoldat und sowjetischer Kriegsgefangener, der sich für die DDR als neue Heimat entscheidet. Mit dem 1962 erschienenen Täterbekenntnis legt Fühmann in Zeiten kollektiver Amnesie auf der einen (BRD) und der Antifaschismus-Doktrin auf der anderen Seite (DDR) des Eisernen Vorhangs einen mutigen, um Wahrhaftigkeit ringenden Text vor, dem lange die gebührende Anerkennung versagt blieb. Dass der Erzählzyklus als beispielhafter „Zensurfall im DDR-Literaturbetrieb“ zu werten ist, wird in einer historisch-kritischen Forschungsarbeit zu einem Werk Fühmanns mit einem synoptischen Vergleich zwischen den publizierten Editionen und der bisher unbekannten Urfassung des Textes nachgewiesen.

Inhaltsverzeichnis der Erstausgabe 1962 [Abweichungen in der vermeintlichen Urfassung 1979]

Publikationsgeschichte

Anfang 1962 übergibt Fühmann dem Aufbau-Verlag das Manuskript seines Erzählbandes unter dem Titel „Tage. Ein Sonett in Berichten“. Schon Mitte Februar wird ihm von den Lektoren Günter Caspar und Joachim Schreck mitgeteilt, dass der gesamte Erzählzyklus den Titel (der ersten Episode) Das Judenauto erhält und mit erheblichen Texteingriffen in den Druck gehen wird. Titel und Text des im Herbst 1962 auf oder unter den Ladentischen liegenden Bandes sind vom Autor so nicht gewollt.

Die Aufbau-Lektoren weisen auch Fühmanns Begehren zurück, für die 2. Aufl. (1969) sowie die Nachdrucke bei Reclam (1965, 1987) die Urfassung des Textes zu verwenden. Parallel dazu wird dem Autor verwehrt, Das Judenauto im NSW bei einem Verleger seiner Wahl (Klaus Wagenbach) aufzulegen, weil Wagenbach Biermanns Die Drahtharfe herausgebracht hatte. Nach einer zermürbenden zweijährigen Hängepartie erscheint der Erzählband dann 1968 in Zürich bei Diogenes mit einer ‚Nachbemerkung‘, in der der Autor einen „Stilbruch“ im abschließenden Bericht eingesteht. Übersetzt wird diese Textversion ins Tschechische (1964), Russische (1966, 1973), Englische (1968) und Französische (1975, 22016). Dass Das Judenauto – im Gegensatz zu anderen Texten Fühmanns – nicht in polnischer Übersetzung erscheint, dürfte dem latenten Antisemitismus in Polen geschuldet sein. Während in der DDR eine einzige Geschichte aus dem Erzählband nachgedruckt wird, erscheint im Ausland allein die Titelepisode in 30 verschiedenen Textsammlungen.

Vierzehn Jahre später will Siegfried Scheibe, Textologe an der Akademie der Wissenschaften der DDR, auf Basis des Judenautos editionswissenschaftliches Neuland betreten und eine historisch-kritische Untersuchung zum Text eines lebenden Autors vorlegen. Da das von Fühmann dem Aufbau-Verlag seinerzeit übergebene Manuskript dort verschollen ist, erarbeitet Scheibe eine Rekonstruktion der Urfassung und legt sie Hinstorff – Fühmanns neuem ‚Hausverlag‘ – für einen geplanten Neudruck vor. Allerdings erscheint 1979 Das Judenauto dann in einer neuerlichen Bearbeitung mit fragwürdigen Texteingriffen der Hinstorff-Lektorin Ingrid Prignitz, ohne dass dem Lesepublikum der Charakter der jetzt edierten Textversion transparent erläutert wird. Erst nach weiteren 35 Jahren wird Scheibes rekonstruierte Urfassung zufällig entdeckt und 2017 in einer Synopse zugänglich gemacht, in der gleichzeitig die Differenzen zu sämtlichen publizierten Textvarianten (Aufbau 1962 und Hinstorff 1979 sowie Vorabdrucke einzelner Episoden) übersichtlich erkennbar werden. Die vermeintliche Urfassung (Hinstorff 1979) liegt auch in englischer (2013) und niederländischer Übersetzung (2014) vor.

Rezeption

Die zeitgenössische Resonanz in der DDR auf die 14 Erzählungen über den einstigen Nazi bleibt überschaubar: Ein Protagonist, der nicht schon immer das antifaschistische Gras hat wachsen hören, passt nicht ins kulturpolitische Konzept eines Staates, der sich per Proklamation zu einem antifaschistischen gewandelt hat. In der Bonner Republik findet die Diogenes-Ausgabe (1968) durchaus Beachtung, zunächst allerdings eher wegen Fühmanns distanzierender Nachbemerkung, mit der die „für wahr genommene Wunschvorstellung“ im Text der Schlusserzählung geheilt werde. Erst mit dem gesellschaftspolitischen Paradigmenwechsel nach ‘68 hin zu einer offenen Zivilgesellschaft erlangen die autofiktiven Täterberichte eines DDR-Schriftstellers zunehmend Aufmerksamkeit, werden – v. a. im Bildungsbereich – häufig nachgedruckt und von manch einem Literaturpapst in den Rang kanonischer Literatur der kurzen Form gehoben. Das beschränkt sich allerdings meist auf die Titelepisode, der Mochem attestiert: „Wohl nur selten ist der Prozeß der Indoktrination, der schleichenden Inbesitznahme eines harmlosen Heranwachsenden durch die verderbliche Ideologie – und hier könnte man anstelle des Antisemitismus oder der Xenophobie durchaus auch andere Irrlehren setzen – mit ähnlicher Glaubwürdigkeit und poetischer Intensität dargestellt worden.“ Übersehen wurde bisher allerdings auch, dass Fühmann schon Anfang der 60er Jahre in anderen Episoden des Judenautos eine erinnerungskulturelle Sicht auf die Verbrechen der Wehrmacht, den Vernichtungsfeldzug gegen den Bolschewismus, Zwangsarbeit und Raubbau sowie den Alltagsrassismus freilegt, wie sie sich erst seit den 90er Jahren langsam und gegen erheblichen Widerstand auch aus Politik und Wissenschaft im kollektiven Gedächtnis der gesamtdeutschen Mehrheitsgesellschaft durchzusetzen begonnen hat.

Zensur

Fühmann legt dem Aufbau-Verlag sein Manuskript mit Berichten über das Erleben an bestimmten historischen Tagen zu einem Zeitpunkt vor, da sich das Zensurwesen im DDR-Literaturbetrieb „stabilisiert“ hat und mit der ‚Abteilung Literatur- und Buchwesen‘ (ab 1962 ‚Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur‘) eine „literaturpolitische Schaltzentrale“ installiert wird, die die Hauptverantwortung für die Zensur an die Verlage delegiert. Vor diesem Hintergrund sind auf der Basis des synoptischen Abgleichs mehr als 5300 Texteingriffe durch die Aufbau-Lektoren nachzuweisen, die neben stilistischen Veränderungen eindeutig ideologisch motivierter Zensur zuzurechnen sind. Ein erstes und ein letztes Mal können sie dabei vom „Mitmachzwang“ profitieren, dem sich der Autor verpflichtet fühlt; denn Fühmanns Konsequenz nach diesem Zensurfall ist nachhaltig: „Nie wieder lasse ich mich zensieren.“

Einzelnachweise

  1. Franz Fühmann: Das Judenauto. Vierzehn Tage aus zwei Jahrzehnten. Aufbau, Berlin 1962.
  2. Franz Fühmann: Das Judenauto. Vierzehn Tage aus zwei Jahrzehnten. In: Das Judenauto. Kabelkran und Blauer Peter. Zweiundzwanzig Tage oder Die Hälfte des Lebens. Hinstorff, Rostock 1979, S. 7–172.
  3. 1 2 Uwe Buckendahl: Franz Fühmann: Das Judenauto – ein Zensurfall im DDR-Literaturbetrieb. Eine historisch-kritische Erkundung mit einer Synopse aller publizierten Textvarianten. Peter Lang, Frankfurt am Main 2017.
  4. Wolfgang Werth: Der Augenblick des Glaubens. Die Vergangenheit des Schriftstellers Franz Fühmann. In: Die Zeit. 23. Jg., Nr. 44, 1. November 1968, S. 26.
  5. Helmuth Mojem: Die Vertreibung aus dem Paradies. Antisemitismus und Sexualität in Franz Fühmanns Erzählung Das Judenauto. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft. 41. Jg. 1997, S. 479.
  6. Siegfried Lokatis: Erfolge zentraler Literatursteuerung in der frühen DDR. In: Monika Estermann u. Edgar Lersch (Hrsg.): Buch, Buchhandel und Rundfunk 1950–1960. Harrassowitz, Wiesbaden 1999, S. 100.
  7. Manfred Jäger: Das Wechselspiel von Selbstzensur und Literaturlenkung in der DDR. In: Ernest Wichner (Hrsg.): ‚Literaturentwicklungsprozesse‘. Die Zensur der Literatur in der DDR. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1993, S. 37–41.
  8. Franz Fühmann an Dora Speer am 23. September 1974. In: Hans-Jürgen Schmitt (Hrsg.): Franz Fühmann. Briefe 1950–1984. Eine Auswahl. Hinstorff, Rostock 1994, S. 153.
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