Ein Deformationsgeschoss ist ein aus Handfeuerwaffen verschossenes Projektil, welches so konstruiert ist, dass es sich beim Eindringen in den Körper aufpilzt und so die Energie dort abgibt. Traditionell handelt es sich dabei um Teilmantelgeschosse oder Hohlspitzgeschosse, aber es gibt auch moderne Formen. Bei vielen Deformationsgeschossen zersplittert ein Teil des Geschosses. Wenn mehr als die Hälfte des Geschosses zersplittert, spricht man von einem Zerlegungsgeschoss.

Einsatz bei der Jagd

Ab etwa Mitte der 19. Jahrhundert wurden Hohlspitzgeschosse aus Blei, damals Express-Geschosse genannt, bei der Jagd auf Großwild verwendet. Bei der Jagd werden größtenteils Teilmantelgeschosse oder Hohlspitzgeschosse verwendet, da diese bei waidgerechtem Schuss durch die effektive Energieabgabe im Wildkörper zuverlässiger zum schnelleren Tod des beschossenen Wildes führen als Vollmantelgeschosse. Moderne Jagdgeschosse haben manchmal eine Spitze aus Kunststoff. Diese begünstigt die Aerodynamik und leitet die Verformung des Geschosses ein. Um eine Zersplitterung möglichst zu minimieren, ist bei manchen Geschossen der Bleikern mit dem Mantel chemisch verbunden (Bonding). Der Mantel der Jagdgeschosse kann Schlitzungen haben, die wie Sollbruchstellen wirken damit sich das Geschoss kontrolliert verformt.

Militärische Verwendung (Dum-Dum-Geschoss)

Die British Army führte 1889 die Patrone .303 British mit einem Vollmantelgeschoss für das Lee-Metford-Gewehr ein. Als die britischen Truppen in Chitral kämpften, bemerkte sie eine mangelnde Mannstoppwirkung. Untersuchungen ergaben, dass die Geschosse die Körper der Gegner durchschlugen und dabei nicht wie bei früher benutzten Bleigeschossen deformiert wurden. Somit gaben sie nur einen Teil der Energie im Zielkörper ab. Der britische Offizier Neville Bertie-Clay, Leiter des Arsenals in Dum Dum (daher der umgangssprachlich oft benutzte Name Dum-Dum-Geschoss) im Norden von Kalkutta in Indien, wurde beauftragt diesen Umstand zu ändern. Er entwickelte ein Teilmantelgeschoss, bei dem der Mantel an der Spitze fehlte und stattdessen aus Blei bestand („Soft Point Bullet“). Das Geschoss wurde 1896 getestet und dann als „Cartridge, S.A., Ball, .303-Inch Corodite Mark III.“ offiziell eingeführt. Probleme mit sich lösendem Geschossmantel beim Abschuss führten zu modifizierten Hohlspitzgeschossen Mark IV und V, aber diese Problematik konnte bis zum Rückzug dieser Patronen nicht vollständig behoben werden.

Während des Mahdi-Aufstands 1889 im Sudan benutzte die British Army Mark III, IV und V Geschosse sowie von britischen Soldaten behelfsmäßig abgefeilte Mark II. Das Abfeilen bewirkte die Freilegung des Bleikerns und somit zu einer ähnlichen Wirkung wie die industriell gefertigter Geschosse.

Allen diesen Geschossen gemein war eine Verformung bis hin zur Zerlegung des Geschosskörpers. Dieses führte zu sehr schweren Verletzungen. Zudem machen die vielen Splitter des Bleikerns eine wirksame Wundversorgung sehr schwierig. Deshalb wurden diese Geschosse 1899 im Artikel 23 der Haager Landkriegsordnung geächtet. Sie fallen unter das Verbot von „Waffen, Geschossen oder Stoffen, die geeignet sind, unnötige Leiden zu verursachen“.

Im Ersten Weltkrieg beschuldigten sich die Kriegsparteien gegenseitig der Nutzung der geächteten Dum-Dum-Geschosse. Die Anschuldigungen wurden auch propagandistisch verwendet. Es gab jedoch keine systematische Verwendung der Dum-Dum-Geschosse im Ersten Weltkrieg. Vielmehr war es die Initiative einzelner Soldaten, welche die Standardmunition manipulierten, in der Regel einfach die Geschossspitze abfeilten.

Auch wenn die Ächtung von Deformationsgeschossen im militärischen Bereich international anerkannt ist, gibt es ähnliche Kritik an modernen Hochgeschwindigkeitsgeschossen (z. B. 5,56 × 45 mm NATO). Diese Überschlagen sich im Körper des Zieles, was zu ähnlichen Verletzungen wie bei Deformationsgeschossen führen kann.

Einsatz bei zivilen Behörden

Spezielle Deformationsgeschosse werden von zivilen Behörden (Polizei, Justizvollzug …) verwendet. Da sich die Haager Landkriegsverordnung nur auf das Militär beschränkt ist dieses rechtlich möglich, auch wenn es immer wieder Diskussionen darüber gibt. In Deutschland wurde 1999 durch die Innenministerkonferenz der Länder die Entwicklung eines Deformationgeschosses für den polizeilichen Einsatz beauftragt. Vorangegangen war eine seit den frühen 1970er Jahren andauernde Kontroverse um Deformationsgeschosse, wobei auch auf die Landkriegsordnung verwiesen wurde, deren Geltung für Bundesgrenzschutz und Bereitschaftspolizei strittig war. Schwere Zwischenfälle als Folge des zielballistischen Verhaltens der 9-mm-Vollmantelgeschosse führten zu einer Neubewertung des zivilen Einsatzes von Deformationsgeschossen.

Die Anforderungen an diese Geschosse unterscheiden sich etwas gegenüber denen des Militärs und der Jäger. Bei Einsatz von Schusswaffen durch zivile Behörden ist es neben einer großen Mannstoppwirkung wichtig, dass Unbeteiligte nicht zu Schaden kommen. Mit Deformationsgeschossen soll ein Durchschuss minimiert werden, um so Unbeteiligte vor Querschlägern und Abprallern zu schützen. Gegenüber Jagdmunition soll es zu keiner Splitterbildung kommen, um unnötige Verletzungen zu vermeiden. Trotzdem soll das Geschoss eine ausreichende Wirkung bei Beschuss von Hartzielen (z. B. Autoreifen) haben.

Diese Deformationsgeschosse besitzen oft Sollbruchstellen oder Hohlräume, um trotz der harten Materialien ein Aufpilzen im Ziel zu erreichen, ohne dass das Geschoss zerlegt wird. Viele dieser Geschosstypen enthalten aus Gründen des Gesundheits- und Umweltschutzes kein Blei (Bleifreie Munition). In Deutschland benutzen einige Bundesländer seitdem neben der herkömmlichen Munition eine Polizei-Einsatz-Patrone (PEP). In Deutschland sind mehrere Produkte zugelassen. Diese Geschosse sind auf größtmögliche Stoppwirkung ausgelegt. Nach dem Aufprall deformieren sie bis zu dem 1,3-fachen ihres ursprünglichen 9-mm-Kalibers.

Siehe auch

Literatur

  • Beat Kneubuehl: Geschosse. Band 1: Ballistik, Treffsicherheit, Wirkungsweise. 2. Auflage. Motorbuch Verlag, Stuttgart 1998, ISBN 3-7276-7119-X.
  • Beat Kneubuehl: Geschosse. Band 2: Ballistik, Wirksamkeit, Messtechnik. Motorbuch Verlag u. a., Stuttgart u. a. 2004, ISBN 3-613-30501-1.
  • Manfred R. Rosenberger: Waffen und Einsatzmunition der Polizei. Motorbuch Verlag, Stuttgart 2002, ISBN 3-613-02246-X.
  • Markus Stappen: Polizeigeschosse und andere Deformationsgeschosse, Sonderband für Munition im Polizeigebrauch und handelsübliche Munition, Verlag Sascha Ulderup, 2015, ISBN 978-3-9817001-2-1.
Wiktionary: Dum-Dum-Geschoss – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen
Wiktionary: Dumdumgeschoss – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. 1 2 Christian Neitzel, Karsten Ladehof (Hrsg.): Taktische Medizin: Notfallmedizin und Einsatzmedizin, Ausgabe 2, Springer-Verlag, 2015, ISBN 978-3-642-39689-2, S. 261–262
  2. 1 2 Karl Sellier, Beat P. Kneubuehl: Wundballistik: und ihre ballistischen Grundlagen, Ausgabe 2, Springer-Verlag, 2013, ISBN 978-3-662-10978-6, S. 166–167, 421
  3. 1 2 Gerald Prenderghast: Repeating and Multi-Fire Weapons: A History from the Zhuge Crossbow Through the AK-47, Verlag McFarland, 2018, ISBN 978-1-4766-3110-3, S. 173–174
  4. Dum-Dum-Geschoß in: Brockhaus’ Kleines Konversations-Lexikon, fünfte Auflage, Band 1, 1911, S. 468
  5. Hagen Schönrich: The Soldier at the Western Front – The Use of Dum-Dum-Projectiles, Universität Stuttgart, 2015
  6. The Medical Department of the United States Army in the World War: Surgery, Surgeon General of the United States Army, 1927, S. 43
  7. Gary D. Solis: The Law of Armed Conflict: International Humanitarian Law in War, Cambridge University Press, 2016, ISBN 978-1-107-13560-4, S. 60
  8. Einsatz von Teilmantelgeschossen durch die Polizei. (PDF; 289 kB) WD 3 – 3000 – 195/21. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages, 17. Dezember 2021, abgerufen am 7. Oktober 2023.
  9. David Th. Schiller, Siegfried Schwarz: Aus traurigem Anlass, Visier, Das internationale Waffenmagazin, Paul Parey Zeitschriftenverlag GmbH, 01/1999 S. 40 ff
  10. Christopher Hocke: Auf eine harte Probe gestellt, Visier, Das internationale Waffenmagazin, Vogt-Schildt Deutschland GmbH, 05/2008 S. 128
  11. Auszug aus „Deutsche Polizei“, 6/2001 – Quelle: www.gdp.de (PDF-Datei; 196 kB)
  12. Thomas Enke: Grundlagen der Waffen- und Munitionstechnik, Ausgabe 4, Walhalla Fachverlag, 2023, ISBN 978-3-8029-6923-2, S. 272
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