Das Dekameron (italienisch Il Decamerone, von griechisch δέκα déka „zehn“ und ἡμέρα hēméra „Tag“) ist eine Sammlung von 100 Novellen von Giovanni Boccaccio. Die Abfassung erfolgte aller Wahrscheinlichkeit nach zwischen 1349 und 1353. Der Titel Decamerone bedeutet – in Anlehnung an das Griechische – „Zehn-Tage-Werk“. Es handelt sich um ein stilbildendes Werk der Renaissance, das zum Vorbild fast aller weiteren abendländischen Novellensammlungen wurde.

Handlung

Die Rahmenhandlung verlegt Boccaccio in ein Landhaus in den Hügeln von Florenz (im Vorort Fiesole), drei Kilometer vom damaligen Stadtkern von Florenz entfernt. In dieses Landhaus sind sieben Frauen und drei junge Männer vor der Pest (Schwarzer Tod) geflüchtet, die im Frühjahr und Sommer des Jahres 1348 Florenz heimsuchte. Im Landhaus versuchen sich die Flüchtlinge gegenseitig zu unterhalten. Daher wird jeden Tag eine Königin oder ein König bestimmt, welcher einen Themenkreis vorgibt. Zu diesem Themenkreis hat sich nun jeder der Anwesenden eine Geschichte auszudenken und zum Besten zu geben. Jeder Tag wird mit dem Singen einer Kanzone beendet. Nach zehn Tagen und zehn mal zehn Novellen kehrt die Gruppe wieder nach Florenz zurück.

Über das Werk

Der zyklische Aufbau des Werkes bezieht sich auf die Bedeutung der alten heiligen Zahl Zehn, die Bonaventura als numerus perfectissimus bezeichnet hatte, wobei vor allem Dantes Göttliche Komödie, die in hundert Gesänge gegliedert ist, als Vorbild diente.

Die Schilderung der Pest in Florenz ist beklemmend realistisch und detailreich dargestellt. Sie dient auch bis heute als historische Quelle über diese Epidemie. Man kann die Einleitung zweifellos als memento mori auffassen, das am Beginn der unbeschwert und daseinsfroh erzählten Novellen steht. Sie werden von den jungen Menschen in einer kultivierten Atmosphäre des Landhauses erzählt, das von üppigen Gärten umgeben ist, bei Spiel und Tanz. Da die Themen der Erzählungen variabel und zudem allgemein gehalten sind, entsteht eine große Vielfalt von fein oder derb, tragisch oder komisch erzählten Geschichten. In ihnen wird ein ganzes Welttheater ausgespannt, dessen handelnde Personen sowohl Sultane und Könige als auch Bauern, Handwerker oder Spitzbuben sind. Auch die Schauplätze umfassen nahezu die gesamte damals bekannte Welt. Kirchenleute und besonders Mönche kommen dabei meist besonders schlecht weg. Vor allem die Schilderung der Kleriker und zunächst weniger die Erotik mancher Novellen hat später zur Ablehnung Boccaccios durch die Kirche geführt. Sexuelle Freizügigkeit und Sinnengenuss werden häufig über die christliche Sittenlehre gestellt, so zum Beispiel, wenn eine Geschichte mit den Worten endet (III.3): „Dann aber wussten sie es so einzurichten, dass sie, ohne der Hilfe des Paters ferner zu bedürfen, in gleicher Freude noch viele Nächte verbringen konnten, zu welchem Glück Gott mir und anderen Christenseelen (…) in seiner Barmherzigkeit auch bald verhelfen möge“, wobei mit der „Freude“ beziehungsweise dem „Glück“ in diesem Fall der Ehebruch gemeint ist. Das Werk von Boccaccio galt bis in das 20. Jahrhundert hinein immer wieder als anstößig. So entfernte etwa die amerikanische Zollbehörde obszöne Szenen der Novellensammlung und erst ab 1931 hatten die einzelnen Bundesstaaten die Möglichkeit über ein Verbot des Buchs selbst zu entscheiden.

Da Boccaccio selbst angibt, die Geschichten seien nicht von ihm erfunden, wurde intensiv nach den Quellen der einzelnen Erzählungen geforscht. Sie lassen sich auf die unterschiedlichsten Ursprünge und Überlieferungen zurückführen, wie auf antike Quellen, mittelalterliche, besonders französische Legenden- und Schwankliteratur oder ältere italienische Erzähltradition. Boccaccio erzählt aber nicht einfach nach, sondern er gestaltet seine Vorbilder vielfach um.

Das Landhaus, in dem Boccaccios Handlung angesiedelt ist, ist noch erhalten und befindet sich auf halbem Weg zwischen Florenz und Fiesole an der Via Boccaccio. Heute befindet sich dort ein Department des European University Institute.

Das Werk trägt den Beinamen Principe Galeotto.

Wirkungsgeschichte

Bereits die Grammatiker und Rhetoriker der Renaissance waren der Ansicht, dass Boccaccios Dekameron ein Meisterwerk sei. Der Autor wurde zusammen mit Dante und Francesco Petrarca zum Wegbereiter und Vorbild für die eigenen Bestrebungen. Heute gilt das Dekameron unbestritten als Ursprung der italienischen Prosa überhaupt und als ein Werk, das die Weltliteratur nachhaltig beeinflusst hat. So wurde die Novellensammlung unter anderen von Geoffrey Chaucer (Canterbury Tales), Margarete von Navarra (Heptaméron), Giambattista Basile (Pentameron), Miguel de Cervantes (Novelas ejemplares), François Rabelais, Christoph Martin Wieland (Hexameron von Rosenhain), Johann Wolfgang von Goethe (Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten), Gottfried Keller (Das Sinngedicht) und zahlreichen, heute weniger bekannten Autoren nachgeahmt. Goethe schätzte das Werk sehr und deutschte den Namen Boccaccios in „Boccaz“ ein. Die Romantiker würdigten ebenfalls die Novellensammlung besonders und wurden zu eigenen Werken angeregt, so zum Beispiel Honoré de Balzac mit seinen im späten Mittelalter spielenden Tolldreisten Geschichten. Stoffe einzelner Erzählungen benutzten William Shakespeare (Cymbeline und Ende gut, alles gut), Hans Sachs, Jonathan Swift und Josef Viktor Widmann. Die Figur des Melchisedech und das Motiv der drei Ringe, die nicht mehr zu unterscheiden sind (I.3), liegt der Ringparabel in Gotthold Ephraim Lessings Drama Nathan der Weise zugrunde. Carlo Gozzi übersetzte eine französische Bühnenbearbeitung der neunten Geschichte des vierten Tages ins Italienische.

Siehe auch

Ausgaben

  • Venedig 1470
  • Florenz 1470
  • Venedig 1471 (verbesserte Ausgabe)
  • Mantua 1472
  • Venedig 1492 (enthält G. Squarciafico: Vita di Giouan Bocchaccio da Certaldo; mit Illustrationen)
  • Valladolid 1539 (spanische Übertragung)
  • Florenz 1587
  • Prag 1899 (deutsche Erstausgabe ist die vollständige Übersetzung von Gustav von Joanelli, Verlag von Alois Hynek, Prag, 3 Bände)
  • Turin 1980, herausgegeben von V. Branca (mit Bibliographie und Kommentaren)

Deutsche Übersetzungen

Ältere Ausgaben

Aktuelle Ausgaben

  • Giovanni Boccaccio: Das Dekameron, mit Werkbeitrag aus Kindlers Literatur-Lexikon (Originaltitel: Il Decamerone, übersetzt von Karl Witte). Ungekürzte Ausgabe (= Fischer TB. 90006). Fischer, Frankfurt am Main 2008, ISBN 978-3-596-90006-0.
  • Giovanni Boccaccio: Dekameron. Ausgewählt, übersetzt und bearbeitet von Klabund, Anaconda, Köln 2010, ISBN 978-3-86647-549-6.
  • Giovanni Boccaccio: Das Dekameron. Originaltitel: Il Decamerone, übersetzt von Karl Witte, durchgesehen von Helmut Bode. Mit einem Nachwort und einer Zeittafel von Winfried Wehle (= Winkler Weltliteratur. Blaue Reihe). Artemis & Winkler, Düsseldorf/Zürich 2005, ISBN 978-3-538-06998-5.
  • Giovanni Boccaccio: Das Dekameron (Originaltitel: Il Decamerone, übersetzt von Christian Kraus). Dörfler, Utting 2007, ISBN 978-3-89555-490-2.
  • Giovanni Boccaccio: Decameron. Zwanzig ausgewählte Novellen, italienisch/deutsch, übersetzt und herausgegeben von Peter Brockmeier, mit Bibliographie und Literaturverzeichnis (= RUB Reclams Universal-Bibliothek Band 8449). Reclam, Stuttgart 2010, ISBN 978-3-15-008449-6
  • Giovanni Boccaccio: Das Decameron. Mit den Holzschnitten der venezianischen Ausgabe von 1492. Aus dem Italienischen übersetzt, mit Kommentar und Nachwort von Peter Brockmeier. Reclam, Stuttgart 2012, ISBN 978-3-15-010853-6.

Hörbuch

Bearbeitung als Hörspiel

Verfilmungen

Schon zu Stummfilmzeiten ein beliebter Stoff, erlebten Filme mit Decamerone im Titel nach dem Erfolg von Pasolinis Meisterwerk einen ungeahnten Boom. Innerhalb weniger Monate wurden zahlreiche Filme in die meist italienischen Kinos gebracht.

Literatur

Monographien
  • Elisabeth Arend: Lachen und Komik in Giovanni Boccaccios Decameron (= Analecta romanica. 68). Klostermann, Frankfurt am Main 2004, ISBN 978-3-465-03229-8.
  • Diemut M. Billen: Boccaccios Decameron und die didaktische Literatur des Hochmittelalters. Transformationen des Diskurses an einer Epochenschwelle. Hänsel-Hohenhausen, Egelsbach 1992, ISBN 3-89349-503-7 (zugl. Dissertation, Universität Wuppertal 1992).
  • Francesco De Sanctis: Geschichte der italienischen Literatur („Storia della letteratura italiana“). Kröner, Stuttgart 1941/43 (2 Bde.; hier speziell Bd. 1).
  • Wilhelm T. Elwert: Die italienische Literatur des Mittelalters. Dante, Petrarca, Boccaccio (= UTB. 1035). Francke, München 1980, ISBN 3-7720-1296-5.
  • Kurt Flasch: Poesie nach der Pest. Der Anfang des „Decameron“ neu übersetzt und erklärt (= Excerpta classica. 10). Dietrich, Mainz 1992, ISBN 3-87162-027-0.
  • Victoria Kirkham: The sign of reason in Boccaccio's fiction (= Biblioteca di „Lettere italiane“. 43). Olschki, Florenz 1993, ISBN 88-222-4111-8.
  • Otto Löhmann: Die Rahmenerzählung des Decameron. Ihre Quellen und Nachwirkungen; ein Beitrag zur Geschichte der Rahmenerzählung (= Romanistische Arbeiten. 22). Niemeyer, Halle/Saale 1935.
  • Lucia Marino: The Decameron „Cornice“. Allusion, allegory, and iconology. Longo Editore, Ravenna 1979 (zugl. Dissertation, Los Angeles 1977).
  • Giuseppe Mazzotta: The world at play in Boccaccio's Decameron. Princeton University Press, Princeton, N.J. 1986, ISBN 0-691-06677-9.
  • Jan Söffner: Das Decameron und seine Rahmen des Unlesbaren. Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2005, ISBN 3-8253-1632-7 (zugl. Dissertation, Universität Köln 2002).
Artikel und Aufsätze
  • Werner Fuld: Die Entdeckung der Welt. In: Eine Geschichte des sinnlichen Schreibens (1. Kapitel). Galiani, Berlin 2014, ISBN 978-3-86971-098-3, S. 19–34.
  • Joachim Heinzle: Schule des Lebens, Schule der Liebe. Erotik und Didaxe in der europäischen Novellistik zwischen Mittelalter und Neuzeit. In: Horst A. Glaser (Hrsg.): Annäherungsversuche. Zur Geschichte und Ästhetik des Erotischen in der Literatur (= Facetten in der Literatur. 4). Haupt, Bern 1993, ISBN 3-258-04731-6.
  • Walter Jens (Hrsg.): Kindlers neues Literatur-Lexikon. Systema-Verlag, München 2000, ISBN 3-634-23231-5 (CD-ROM).
  • Barbara Sichtermann: Glockenschlag der Renaissance. Die lustvolle Utopie des Giovanni Boccaccio. (Online bei deutschlandfunk.de, abgerufen am 16. März 2020).
  • Winfried Wehle: Der Tod, das Leben und die Kunst. Boccaccios Decameron oder der Triumph der Sprache. In: Arno Borst u. a. (Hrsg.): Der Tod im Mittelalter. 2. Auflage. Universitätsverlag, Konstanz 1995, ISBN 3-87940-437-2, S. 221–260 (PDF).
  • Winfried Wehle: „Venus magistra vitae“: Sull’ antropologia iconografica del ‚Decameron‘. In: Michelangelo Picone (Hrsg.): Autori e lettori di Boccaccio. Atti del convegno internazionale di Certaldo (20 – 22 settembre 2001). Cesati, Firenze 2002, S. 343–361 (PDF).
  • Winfried Wehle: Im Purgatorium des Lebens. Boccaccios Projekt einer narrativen Anthropologie. In: Achim Aurnhammer, Rainer Stillers (Hrsg.): Giovanni Boccaccio in Europa. Studien zu seiner Rezeption in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Harrassowitz, Wiesbaden 2014, S. 19–45. (PDF).
  • Gero von Wilpert: Dekameron. In: Ders. (Hrsg.): Lexikon der Weltliteratur. Biographisch-bibliographisches Handwörterbuch nach Autoren und anonymen Werken. Kröner, Stuttgart 2004, ISBN 3-520-83804-4.
Commons: Decameron – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien
Wikisource: Decameron – Quellen und Volltexte (italienisch)

Einzelnachweise

  1. Lage des Hauses
  2. C. Ottawa: Skandal. Die provokantesten Bücher der Literaturgeschichte. zu Klampen, Springe 2020.
  3. Giovanni Boccaccio: Das Dekameron (Band 1) (Übersetzung: Ruth Macchi), Aufbau-Verlag, Berlin/Weimar 1980, S. 5.
  4. J. V. Widmann: Ein greiser Paris. Dramatische Plauderei in einem Akt (nach der Zehnten Geschichte des Ersten Tages), UA in Meiningen am 12. Dezember 1895. In: Jung und Alt. Drei Dichtungen, Leipzig 1897, S. 109–141. – Das Hauptmotiv der Achten Geschichte des Zehnten Tages arbeitete Widmann in sein Schauspiel Die Königin des Ostens (1880) ein.
  5. Gotthold Lessing an Elise Reimarus, Brief vom 6. September 1778; in: Ephraim Lessing: Gesammelte Werke, Band 9: Briefe. 2. Auflage. Aufbau-Verlag, Berlin/Weimar 1968, S. 798 f.
  6. Werner Pleister: Giovanni Boccaccio. In Die Grossen Leben und Leistung der sechshundert bedeutendsten Persönlichkeiten unserer Welt. Band IV/1. Kindler Verlag AG, Zürich 1995, S. 43.
  7. Il Decameron Di Messer Giovanni Boccacci Cittadin Fiorentino. Giunti, Firenze 1587 (Digitalisat in den Digitalen Sammlungen der Bayerischen Staatsbibliothek, München).
  8. siehe Theodor Bögel: Arigo. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 1, Duncker & Humblot, Berlin 1953, ISBN 3-428-00182-6, S. 352 (Digitalisat)., Klarname vermutlich Heinrich Schlüsselfelder
  9. Britta Hannemann: Weltliteratur für Bürgertöchter. Die Übersetzerin Sophie Mereau-Brentano. Wallstein, Göttingen 2005, ISBN 3-89244-896-5, S. 231 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche; Untersuchung der gedruckten Erzählungen aus dem ‚Decamerone‘) und S. 291 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche; Quellen).
  10. Rezension in: Litteratur- und Theater-Zeitung № XX, Berlin, den 15. Mai 1784, S. 107 (Digitalisat in der Google-Buchsuche).
  11. Rezensionen in: Neue Leipziger Literaturzeitung, 19. Stück vom 10. Februar 1804, Spalte 289 f. (Digitalisat in der Google-Buchsuche); Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung 109 vom 10. Mai 1808, Sp. 257–261 (Digitalisat).
  12. „Dr. W. Röder“ ist das Pseudonym von Gustav Diezel, vgl. 3. Auflage von 1855 (Boccaccio’s Dekameron und Fiammetta), Vorwort des Übersetzers.
  13. Teil 4 (Anfang des Buches genannt die Klage der Dame Fiammetta von ihr den liebenden Frauen gewidmet) beginnt nach S. 318 des 3. Teils.
  14. Andreas Schäfer: Die burleske Lust am Frivolen. Giovanni Boccaccio: „Das Decamerone“. Buchkritik (Hörbuch) vom 27. Dezember 2013 im Archiv des Deutschlandfunks, abgerufen am 16. März 2020.
  15. Datenblatt in der ARD-Hörspieldatenbank.
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