Julius Klingebiel (* 11. Dezember 1904 in Hannover; † 26. Mai 1965 in Göttingen) war ein psychisch kranker deutscher Künstler, der seit 1939 in psychiatrischen Kliniken untergebracht war. Im früheren Niedersächsischen Landeskrankenhaus Göttingen bemalte er von 1951 bis 1961 seine Zelle, die heute als Klingebiel-Zelle bezeichnet wird. Seine Malerei wird der Art brut zugeordnet.

Leben

Julius Klingebiel war der Sohn eines Postbeamten. Nach einer Schlosserlehre diente er in Hannover bei der Wehrmacht und war Angehöriger der SA. 1935 heiratete er. 1939 erkrankte er an einer Psychose. Nachdem er im Streit seinen Stiefsohn gewürgt und auch seine Frau bedroht hatte, wurde er von der Polizei am 3. Oktober 1939 in die Nervenklinik der Stadt Hannover eingewiesen und nach damaligem Recht am 28. Oktober 1939 als „gemeingefährlicher Geisteskranker“ in die Provinzial- und Heilanstalt Wunstorf verlegt. Ihm wurde paranoide Schizophrenie attestiert. Nach dem NS-Erbgesundheitsgesetz wurde er am 26. Juli 1940 zwangssterilisiert. Am 9. August 1940 wurde er in das Verwahrungshaus der Landesheil- und Pflegeanstalt Göttingen-Rosdorf verbracht. Obwohl er am 10. Oktober 1940 in der T4-Aktion als schizophren krank und „unheilbar“ gemeldet worden war, überlebte er unter dem Direktorat von Gottfried Ewald in Göttingen die NS-Tötungsaktionen. Nach 1951 blieb er im Landeskrankenhaus Göttingen eingeschlossen. Die Einrichtung wurde 1909 als „Verwahrungshaus für insoziale Geisteskranke der ganzen Provinz Hannover“ errichtet und als Festes Haus bezeichnet. Auch in der Nachkriegszeit ist Klingebiels geschlossene Unterbringung gegen geltendes Recht nicht richterlich genehmigt worden. Er verstarb am 26. Mai 1965 in Göttingen.

Werk

Über eine künstlerische Vorbildung Klingebiels ist nichts bekannt. In seiner Zelle mit der Nr. 117 in der geschlossenen Unterbringung in Göttingen begann er um 1951 auf die Wände zu kritzeln. Weil er dadurch ruhiger wurde, gab man ihm Farben. Er schuf bis 1963 in einem komplexen Gesamtkunstwerk großformatige Landschaftsbilder mit Tiermotiven, Menschen und kleinen politischen und historischen Symbolen, die er immer wieder übermalte. Er malte auch Einzelbilder auf Papier, von denen bis heute 19 Arbeiten erhalten sind. Der Leiter der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg Thomas Röske charakterisiert die Zellenausmalung als solitäres Werk der Outsider Art. Siegfried Neuenhausen beschrieb Klingebiel als „Künstlerkollege“ Von 2007 bis 2016 gehörte das heutige „Feste Haus“ zum Maßregelvollzugszentrum Moringen.

Umgang mit der Zelle

2012 wurde Klingebiels Zelle, nicht aber das Gebäude unter Denkmalschutz gestellt. Sie ist nicht öffentlich zugänglich. Fachleute bewerteten die Raumausmalung als Kunstwerk von internationaler Bedeutung und forderten, sie konservatorisch zu erhalten und dauerhaft öffentlich zugänglich zu machen. Dafür sei eine Umsetzung und Präsentation in einem bedeutenden Museum der richtige Weg. Hierzu lag der Niedersächsischen Landesregierung seit 2014 ein Angebot aus dem Sprengel-Museum in Hannover vor. Die Stadt Göttingen verlangte im Jahr 2015, die Zelle in Göttingen zu belassen. Seit 2016 steht das Gebäude leer und die Malerei drohte nach Ansicht von Fachleuten zu verfallen. Der Erhalt der denkmalgeschützten Raumausmalung liegt in der Verantwortung und Zuständigkeit der Niedersächsischen Landesbehörden als Gebäudebesitzer. 2018 fragte die Göttinger Landtagsabgeordnete Gabriele Andretta (SPD) die Niedersächsische Landesregierung nach dem weiteren Umgang mit der Klingebiel-Zelle. Eine weitere Anfrage durch die Landtagsabgeordnete Marie Kollenrott (Bündnis 90/Die Grünen) folgte im Jahr 2022 aufgrund des Renovierungsstaus am Gebäude. Darauf antwortete die Niedersächsische Landesregierung, dass die Zelle bis 2023 fachgerecht konserviert und ab 2024 öffentlich zugänglich gemacht wird. Ansonsten soll das Gebäude des früheren Landeskrankenhauses vom Braunschweigischen Landesmuseum und vom Niedersächsischen Landesmuseum Hannover als Magazin für archäologische Funde genutzt werden.

Rezeption

Eine erste Fotoinstallation der Raumausmalung wurde 2002 im Niedersächsischen Landeskrankenhaus Göttingen gezeigt. Sie wurde zusammen mit Einzelbildern 2010 in Hannover in der Städtischen Galerie KUBUS einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt. Klingebiels Biografie und sein Werk wurden unter Leitung des Psychiaters Andreas Spengler erforscht und 2013 in einer Buchveröffentlichung beim Verlag Vandenhoeck & Ruprecht mit einem Bildkatalog dokumentiert. Als Autoren wirkten unter anderen Thomas Röske und Siegfried Neuenhausen mit. Eine neue fotografische Rauminstallation mit Restaurierung zerstörter Bildteile wurde am 13. August 2013 im Asklepios Fachklinikum Göttingen präsentiert. Der niedersächsische Ministerpräsident Stephan Weil qualifizierte die Zelle in seinem Grußwort als Denkmal und Mahnmal. Die Rauminstallation wurde 2013 im Rahmen eines internationalen Fotofestivals in der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg gezeigt und war im November 2014 im Kleisthaus der Beauftragten der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen in Berlin zu sehen, die hierzu einen Katalog herausgab. Vom 18. März 2015 bis zum 11. Oktober 2015 war die Ausstellung in dem international bekannten Museum Gugging bei Wien, vom 27. Oktober 2015 bis zum 4. Januar 2016 im Sprengelmuseum Hannover. Am 14. Juni 2015 zeigte das NDR Fernsehen als Erstausstrahlung die szenische Dokumentation „Ausbruch in die Kunst: Die Zelle des Julius Klingebiel“. Das art - Das Kunstmagazin widmete Julius Klingebiel im Juli 2015 einen ausführlichen Bericht. Weitere Ausstellungen zeigten 2016 und 2017 in Bremen und Frankfurt/M. neben der Rauminstallation auch neu entdeckte Originalmalereien von Klingebiel. 2016 wurde eine von Andreas Spengler zusammengestellte Ausstellung in der Stadtkirche Wunstorf präsentiert, bei der auch Werke anderer Psychiatrie-Künstler, darunter von Elfriede Lohse-Wächtler, gezeigt wurden. 2017 folgte ein Bericht in Raw Vision, 2018 in Rivista Osservatorio Outsider Art, Palermo. 2020 veröffentlichte Clemens Gadenstätter sein musikalisches Werk für Stimmen, Ensemble und Elektronik "die zelle". Das Libretto stammt von Lisa Spalt. Biografische und historische Kontexte flossen in Zusammenarbeit mit Andreas Spengler ein. Das KlangForum Heidelberg mit der Schola Heidelberg und dem ensemble aisthesis brachte das Werk unter Leitung von Walter Nußbaum am 24. Oktober 2020 in Heidelberg zur Uraufführung und präsentierte es anschließend in Karlsruhe, Göttingen, Hannover und Oldenburg.

Literatur

  • Rainer Wehse: Populäre Bilderwelt aus visueller Überlieferung. Wandmalereien eines Schizophrenen. In: Volkskunst, Jg. 7, 1984, S. 2, S. 20–23.
  • Andreas Spengler, Siegfried Neuenhausen, Lothar Schlieckau, Kulturbüro der Landeshauptstadt Hannover (Hrsg.): Elementarkräfte – Schaffen und Werk psychiatrieerfahrener Künstler über 100 Jahre. Psychiatrie-Verlag, Bonn 2010, ISBN 978-3-88414-599-9.
  • Thomas Röske: Malereien im Verwahrhaus. Das Werk Julius Klingebiels. In: C. Wolters u. a. (Hrsg.): Abweichung und Normalität. Psychiatrie in Deutschland vom Kaiserreich bis zur Deutschen Einheit. Transcript, Bielefeld 2012, ISBN 978-3-8376-2140-2.
  • Andreas Spengler, Manfred Koller, Dirk Hesse (Hrsg.): Die Klingebiel-Zelle. Leben und künstlerisches Schaffen eines Psychiatriepatienten. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2013, ISBN 978-3-525-30043-5.
  • Beauftragte der Bundesregierung für die Belange behinderter Menschen (Hrsg.): Ausbruch in die Kunst. Julius Klingebiel. Zelle Nr. 117 (Katalog mit Kurztexten in Brailleschrift). Selbstverlag, Berlin 2014.
  • Eckart Rüsch, Kerstin Klein: Die Klingebiel-Zelle im Festen Haus Göttingen – Vorbericht zu einer Gefängniszelle als Kulturdenkmal, in: Berichte zur Denkmalpflege in Niedersachsen, Jg. 34, 2014, Heft 4, S. 163–166. (Digitalisat auf julius-klingebiel.de, abgerufen am 7. August 2022.)
  • Forum Stadtkirche Wunstorf (Hrsg.): FreiheitsRäume. Julius Klingebiel und seine KünstlerkollegInnen. Katalog zur Ausstellung in der Stadtkirche Wunstorf vom 18. September bis 9. Oktober 2016.
  • Andreas Spengler, Thomas Röske: Art behind Bars, in: Raw Vision, 93: 2017, 34–39.
  • Thomas Röske: La Cella Dipinta Di Julius Klingebiel, in: Rivista Osservatorio Outsider Art Nr. 16, Autunno 2018, 80–96.
  • KlangForum Heidelberg: Programmheft zur Konzertreihe eingesperrt. Heidelberg, Oktober 2020. (Programmübersicht auf klangforum-heidelberg.de, abgerufen am 6. August 2021)

Einzelnachweise

  1. Julius Klingebiel – mit dem Blick eines in Gefängnissen und Psychiatrien erfahrenen Künstlerkollegen. In: A. Spengler u. a. (Hrsg.): Die Klingebiel-Zelle. Göttingen 2013.
  2. Johanna Di Blasi: Aus dem Inneren In: Hannoversche Allgemeine Zeitung. 16. Oktober 2014.
  3. Klingebiel-Zelle im Sprengel-Museum Hannover in: Göttinger Tageblatt
  4. Klingebiel-Zelle könnte nach Hannover kommen. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung. 23. Februar 2015.
  5. Ganzer Raum ein Kunstwerk: Zukunft der „Klingelbiel-Zelle“ ungewiss. (Memento vom 25. Februar 2015 im Internet Archive) In: sat1 regional. 24. Februar 2015.
  6. Britta Bielefeld: Klingebiel-Zelle Thema im Landtag in Göttinger Tageblatt vom 11. Januar 2018
  7. Niedersächsischer Landtag – 18. Wahlperiode, Drucksache 18/11388: Kleine Anfrage zur schriftlichen Beantwortung gemäß § 46 Abs. 1 GO LT mit Antwort der Landesregierung. In: landtag-niedersachsen.de. Niedersächsischer Landtag, 20. Juni 2022, abgerufen am 7. August 2022.
  8. Ausbruch in die Kunst (Memento vom 17. Juni 2015 im Internet Archive)
  9. Sandra Danicke: ZELLE-117 (Memento vom 3. Oktober 2015 im Internet Archive) in: art DAS KUNSTMAGAZIN. Juli 2015, S. 78–83.
  10. Jan-Paul Koopmann: Kritik der Woche - Kunst statt Kick in: taz.de am 6. August 2016
  11. Klingebiel-Zelle in Wunstorf nachgebaut bei ndr.de vom 14. September 2016
  12. Katalog: Archivierte Kopie (Memento des Originals vom 2. November 2016 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
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