Kassandra (altgriechisch Κασσάνδρα Kassándra, manchmal auch Κασάνδρα Kasándra, lateinisch Cassandra) ist in der griechischen Mythologie die Tochter des trojanischen Königs Priamos (lateinisch Priamus) und der Hekabe (lateinisch Hecuba), damit Schwester von Hektor, Polyxena, Paris und Troilos sowie Zwillingsschwester von Helenos.

Der Gott Apollon gab ihr wegen ihrer Schönheit die Gabe der Weissagung. Als sie jedoch seine Verführungsversuche zurückwies, verfluchte er sie, auf dass niemand ihren Weissagungen Glauben schenken werde. Daher gilt sie in der antiken Mythologie als tragische Heldin, die immer das Unheil voraussah, aber niemals Gehör fand. Derart ungehörte Warnungen werden als Kassandrarufe bezeichnet.

Herkunft und Bedeutung des Namens

Versuche aus der Antike, den Namen etymologisch zu erklären, sind nicht überliefert. Der byzantinische Gelehrte Johannes Tzetzes leitete den Namen im 12. Jahrhundert aus κάσις kásis, deutsch Bruder, und ἀνήρ anḗr, deutsch Mann, ab und schloss auf die Bedeutung „einen tapferen Mann zum Bruder habend“, eine Interpretation, die bis ins 18. Jahrhundert Bestand hatte und auch noch in Zedlers Universallexikon angeführt wurde. Spätere Autoren lehnten diese jedoch ab. Von einer Reihe späterer Hypothesen konnte sich keine in der Forschung durchsetzen und für Hjalmar Frisk gilt die Etymologie weiterhin als ungeklärt. Analog zu Paris' alternativem Namen Alexander wird Kassandra auch in manchen Texten Alexandra genannt, so zum Beispiel in Lykophrons Monolog Alexandra.

Mythos

Der Gott Apollon verliebte sich in Kassandra und verlieh ihr – in Erwartung sexueller Hingabe – die Fähigkeit, die Zukunft vorauszusehen. Kassandra, deren Schönheit Homer mit jener der Aphrodite verglich, verweigerte sich dem Gott dennoch. Apollon aber konnte der Kassandra die Gabe nicht wieder entziehen, bestimmte jedoch, dass niemand ihren Weissagungen Glauben schenken werde. So rief sie etwa dazu auf, den trojanischen Prinzen Paris zu töten, noch bevor dieser die schöne griechische Königsgattin Helena in seine Heimatstadt Troja entführt und den Griechen einen Kriegsgrund geliefert hätte. Schon während des Trojanischen Krieges warnte sie die Trojaner, ebenso wie der Priester Laokoon, vor der Hinterlist der Griechen. Diese hatten die Belagerung Trojas scheinbar beendet und den Abzug ihrer Truppen nur vorgetäuscht. Als „Geschenk“ hinterließen die Griechen ein riesiges hölzernes Pferd vor der Stadt. Da niemand Kassandra Glauben schenkte, zogen die Trojaner trotz der Warnung der Seherin das Pferd in die Stadt. Die darin versteckten Soldaten öffneten nachts die Stadttore und besiegelten so den Untergang Trojas.

Nach der Eroberung Trojas wurde Kassandra von Ajax dem Lokrer frevlerisch im Tempel der Athene vergewaltigt, in den sie sich geflüchtet hatte. Agamemnon beanspruchte Kassandra als Sklavin und nahm sie mit nach Mykene. Er wurde aber nach seiner Ankunft in Mykene von seiner Frau Klytaimnestra und deren Geliebtem Aigisthos im Bad ermordet. Kassandra, die wegen ihrer seherischen Gabe um dieses Schicksal wusste und es auch vorhergesagt hatte, wurde von Klytaimnestra ebenfalls getötet. Glaubt man einer Votivtafel, die sich im Archäologischen Nationalmuseum in Athen befindet, wurde Kassandra auf der Insel Zakynthos kultisch verehrt; ein Herrschergeschlecht leitet sich von ihr ab.

Darstellungen in der Antike

In der Nähe von Mykene gibt es ein Grabmal, das Kassandra zugeschrieben wurde. Ursprünglich war es jedoch wahrscheinlich einer lokalen Gottheit geweiht. Kassandras Insigne auf antiken Bilddarstellungen ist die Doppelaxt des phrygischen Apollon. Als Seherin und einstige Geliebte des Gottes der Weissagung ist sie auch eine Priesterin des Apollon.

In der Ilias, der epischen Beschreibung des Krieges um Troja des griechischen Dichters Homer, findet man Kassandra als die schönste Tochter des Priamos und der Hekabe, sie ist dort jedoch noch nicht als Seherin beschrieben. Diese traditionelle Darstellung der Kassandra als warnende Stimme vor dem Untergang scheint sich erst später zu entwickeln. Bei Pindar und anderen griechischen Autoren (wie Aischylos in seiner Tragödie Agamemnon und Euripides in Die Troerinnen) wird die Gabe der Prophetie der Kassandra fast als bekannt vorausgesetzt. Als einziges antikes Werk stellt Lykophrons Dichtung Alexandra aus der Zeit um 190 v. Chr. die Figur der Kassandra in den Mittelpunkt. Unter dem Namen Alexandra wurde Kassandra von den Einwohnern in Amyklai und Leuktra als Göttin verehrt.

Nachdem in Aischylos’ Tragödie Agamemnon in den Palast eingetreten ist und seinem Tod entgegengeht, bringt der Chor unheilvolle Ahnungen zu Ausdruck. Darauf folgt die große Szene der Kassandra. In einem ersten Teil schildert sie die grauenvollen Geschehnisse der Familie in diesem Palast und sieht dann Einzelheiten der Ermordung Agamemnons durch seine Gattin Klytaimnestra voraus, im zweiten Teil steigern sich Wut und Entsetzen bei der Vision der darauf folgenden Ereignisse: ihres unmittelbar bevorstehenden eigenen Endes. Damit ruft sie beim Publikum die Tragödienaffekte Φόβος und Ἔλεος hervor, die mit Furcht und Mitleid bzw. Jammer und Schaudern übersetzt werden und die, der Tragödientheorie in der Poetik des Aristoteles gemäß, das Publikum erschüttern und kathartisch von diesen Affekten befreien soll.

Während Kassandras Vision von Agamemnons Ermordung sich bei Aischylos auf eine, wenn auch unmittelbar bevorstehende, Zukunft bezieht, gestaltet Seneca in seiner Agamemnon-Tragödie dies anders. Hier trägt die Seherin keine Prophezeiung vor, sondern steht vor dem Palast und schildert in ihrer Vision, wie es sonst in einer Teichoskopie geschieht, was sich in diesem Augenblick im Innern des Gebäudes abspielt: Die Ermordung Agamemnons, des Mörders ihrer Familie. Sie gibt ausdrücklich an: „So deutlich zeigte sich der prophetischen Schau noch nie das Verbrechen: Ich sehe es, bin mittendrin und habe meine Freude dran.“

In der Aeneis des römischen Dichters Vergil wird Kassandra ebenfalls als Seherin bezeichnet, die niemals Glauben findet. So erinnert sich Anchises an eine ihrer Weissagungen, in der sie den Flüchtlingen aus Troja Zukunft und Reich in Hesperien verheißen und der niemand geglaubt hatte. Ovid schildert Kassandras in den Büchern 13 und 15 seiner Metamorphosen im Kontext von Trojas Untergang. Die Vergewaltigung im Tempel der Athene (Minerva) durch Ajax ruft den Zorn der Göttin auf die griechischen Heerführer hervor.

Rezeption

Literarische Rezeption

Giovanni Boccaccio schildert Kassandras Schicksal in Abschnitt 35 seines Werks De mulieribus claris („Von berühmten Frauen“). William Shakespeare lässt sie in Troilus und Cressida auftreten. Sie steht auch in der Barockoper The Virgin Prophetess, or The Fate of Troy (1701) von Elkanah Settle im Mittelpunkt. Friedrich Schiller schrieb 1802 das Gedicht Kassandra, das die antike Sage zur Vorlage hat.

Romanbearbeitungen des Themas lieferten die Erzählungen Die Seherin von Erika Mitterer (1942) und der Monolog Kassandra (1983) von Christa Wolf. Auch Marion Zimmer Bradley stellt in ihrem Buch Die Feuer von Troja (1987) Kassandra in den Mittelpunkt und erzählt die Geschichte des Untergangs der Stadt mit zahlreichen kreativen und feministischen Ausschmückungen aus der Sicht der Prinzessin und Priesterin. Die Autorinnen und klassischen Philologinnen Natalie Haynes und Gwen E. Kirby beschäftigen sich ebenfalls in ihren Romanen mit der Figur der Kassandra. In Haynes' Neuschreibung des Trojanischen Kriegs aus weiblicher Perspektive A Thousand Ships (2019) wird Kassandra, wie schon bei Aischylos, von ihrem Umfeld, auch ihrer Mutter, als verrückt pathologisiert, da ihre Weissagungen wirr erscheinen und niemand ihr Glauben schenkt.

Darstellung in Film und Fernsehen

Darstellungen der Kassandra wurden in Filmen und TV-Serien u. a. von den folgenden Schauspielerinnen verkörpert.

Belletristik (Auswahl)

  • Gustav Schwab: Die schönsten Sagen des klassischen Altertums. Gondrom, Bindlach 2006, ISBN 978-3-8112-2804-7.
  • Jean Giraudoux: Der Trojanische Krieg findet nicht statt. Stück in 2 Akten. Insel, Leipzig 1984 (Originaltitel: La guerre de Troie n’aura pas lieu; Alternativübersetzung: Kein Krieg in Troja).
  • Jean-Paul Sartre: Die Troerinnen des Euripides. Stück in 12 Szenen. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1991, ISBN 3-499-34011-9.
  • Lessja Ukrajinka: Kassandra. Dramatische Dichtung. Edition Thelem, Dresden 2007, ISBN 978-3-937672-97-7.
  • Christa Wolf: Kassandra. Verlag der Süddeutschen Zeitung, München 2007, ISBN 978-3-86615-509-1.
  • Marion Zimmer Bradley: Die Feuer von Troja. Fischer, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-596-50630-1.
  • Natalie Haynes: A Thousand Ships. Macmillan, London 2019, ISBN 978-1-5098-3621-5.
  • Gwen E. Kirby: Shit Cassandra Saw. Penguin Books, London 2022, ISBN 978-0-14-313662-0.

Künstlerische Bearbeitungen

  • In der Bildenden Kunst finden sich Darstellungen der Kassandra beispielsweise bei Peter Paul Rubens (1616/17), der ihre Vergewaltigung durch Ajax abbildet.
  • Johann Christoph Friedrich Bach schrieb eine Kantate über die Seherin.
  • In Disneys Hercules, einer Fernsehserie nach dem gleichnamigen Film, wird Kassandra als zynischer Teenager mit einem aufdringlichen, aber liebenswürdigen Verehrer in der Gestalt ihres Mitschülers Ikaros dargestellt.
  • Die schwedische Popgruppe ABBA griff Kassandra in ihrem 1982 geschriebenen Lied Cassandra auf, worin der Tag nach der Niederlage Trojas beschrieben wird. In dieser Version kann Kassandra den Eroberern Trojas auf einem Schiff entkommen.
  • Im Europa-Park in Rust steht das Mad House Fluch der Kassandra, das sich mit der mythologischen Figur Kassandra beschäftigt.

Literatur

  • Thomas Epple: Der Aufstieg der Untergangsseherin Kassandra. Zum Wandel ihrer Interpretation vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Königshausen & Neumann, Würzburg 1993, ISBN 3-88479-760-3.
  • Matthias Falke (Hrsg.): Mythos Kassandra. Texte von Aischylos bis Christa Wolf. Reclam, Leipzig 2006, ISBN 3-379-20114-6.
  • Stephanie Jentgens: Kassandra. Spielarten einer literarischen Figur. Olms, Hildesheim/Zürich/New York 1995, ISBN 3-487-09990-X.
  • Dagmar Neblung: Die Gestalt der Kassandra in der antiken Literatur. Teubner, Stuttgart/Leipzig 1997, ISBN 3-519-07646-2.
  • Solvejg Müller: Kein Brautfest zwischen Menschen und Göttern. Kassandra-Mythologie im Lichte von Sexualität und Wahrheit. Böhlau, Köln/Weimar/Wien 1994, ISBN 3-412-05994-3.
  • Christine Tauber: Kassandra. In: Maria Moog-Grünewald (Hrsg.): Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart (= Der Neue Pauly. Supplemente. Band 5). Metzler, Stuttgart/Weimar 2008, ISBN 978-3-476-02032-1, S. 382–384.
Commons: Kassandra – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Karl Ledergerber: Kassandra. Das Bild der Prophetin in der antiken und insbesondere in der ältern abendländischen Dichtung. Freiburg i. Üe. 1941, S. 7.
  2. Tzetzes, Prol. zu Lykophron 271
  3. Karl Ledergerber: Kassandra. Das Bild der Prophetin in der antiken und insbesondere in der ältern abendländischen Dichtung. Freiburg im Üechtland 1941, S. 7; Cassandra. In: Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexicon Aller Wissenschafften und Künste. Band 5, Leipzig 1733, Sp. 1250–1253.
  4. Richard Engelmann: Kassandra. In: Wilhelm Heinrich Roscher (Hrsg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Band 2,1, Leipzig 1894, Sp. 979 (Digitalisat). bezeichnete sie als „töricht“.
  5. Hjalmar Frisk: Griechisches Etymologisches Wörterbuch. Band 1, Carl Winter Universitätsverlag, Heidelberg 1960, S. 798.
  6. Homer, Ilias 24,699
  7. Aischylos, Agamemnon 1199–1212
  8. Euripides, Andromache 297 f.; vgl. Richard Engelmann: Kassandra. In: Wilhelm Heinrich Roscher (Hrsg.): Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen Mythologie. Band 2,1, Leipzig 1894, Sp. 976 (Digitalisat).
  9. Franz Fühmann: Das hölzerne Pferd. Die Sage vom Untergang Trojas und von den Irrfahrten des Odysseus. Verlag Neues Leben, Berlin 1968 (nach Homer und anderen Quellen neu erzählt von Franz Fühmann).
  10. Bibliotheke des Apollodor Epitome 5,22.
  11. Bibliotheke des Apollodor Epitome 5,23.
  12. Wilhelm von Christ: Eine metrische Inschrift von Dodona. In: Rheinisches Museum für Philologie. Band 33, 1878, S. 610–13 (Digitalisat); Peter M. Fraser: Agathon and Kassandra (IG IX.12 4.1750). In: The Journal of Hellenic Studies. Band 123, 2003, S. 26–40.
  13. Petronius, Satyricon 89,20ff
  14. Homer, Ilias 13,361–382; Odyssee 11,421–423.
  15. Homer, Ilias 24,697–706
  16. Pausanias 3,19,6
  17. Pausanias 3,26,5
  18. Aischylos, Agamemnon 1072-1330. In dem Kommentar von John Dewar Denniston und Denys Page (Aischylus, Agamemnon. Oxford, mehrmals seit 1957. S. 164–192) ist nachgewiesen, dass es sich nicht um eine Art Wahnsinnsarie handelt, sondern dass Kassandra, zwar erschüttert von ihren Visionen, aber überlegt, für den Chor verständlich und argumentierend spricht.
  19. Seneca, Agamemnon 872 ff.
  20. Seneca, Agamemnon 873: „uideo et intersum et fruor“
  21. Vergil, Aeneis 2,246 ff.
  22. Vergil, Aeneis 3,182–188
  23. Ovid: Die Metamorphosen 13.399-428 und 15.445-482.
  24. Giovanni Boccaccio: De claris mulieribus: Die großen Frauen. Lateinisch/Deutsch. Hrsg.: Irene Erfen, Peter Schmitt. Stuttgart 1995.
  25. Andrea Bartl: „Nur der Irrthum ist das Leben, Und das Wissen ist der Tod.“ Schillers Kassandra und die Krisensignatur einer Epochenschwelle. (PDF; 198 kB) Goethezeit-Portal, 3. Dezember 2009, abgerufen am 19. April 2013.
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