Der Lambda-Kalkül ist eine formale Sprache zur Untersuchung von Funktionen. Er beschreibt die Definition von Funktionen und gebundenen Parametern und wurde in den 1930er Jahren von Alonzo Church und Stephen Cole Kleene eingeführt. Heute ist er ein wichtiges Konstrukt für die Theoretische Informatik, Logik höherer Stufe und Linguistik.

Geschichte

Alonzo Church benutzte den Lambda-Kalkül, um 1936 sowohl eine negative Antwort auf das Entscheidungsproblem zu geben als auch eine Fundierung eines logischen Systems zu finden, wie es den Principia Mathematica von Bertrand Russell und Alfred North Whitehead zugrunde lag. Mittels des untypisierten Lambda-Kalküls kann man klar definieren, was eine berechenbare Funktion ist. Die Frage, ob zwei Lambda-Ausdrücke (s. u.) äquivalent sind, kann im Allgemeinen nicht algorithmisch entschieden werden. In seiner typisierten Form kann der Kalkül benutzt werden, um Logik höherer Stufe darzustellen. Der Lambda-Kalkül hat die Entwicklung funktionaler Programmiersprachen, die Forschung um Typsysteme von Programmiersprachen im Allgemeinen sowie moderne Teildisziplinen in der Logik wie die Typtheorie wesentlich beeinflusst.

Meilensteine der Entwicklung waren im Einzelnen:

  • Nach der Einführung die frühe Entdeckung, dass sich mit dem Lambda-Kalkül alles ausdrücken lässt, was man mit einer Turingmaschine ausdrücken kann. Anders formuliert: Im Sinne des Konzepts der Berechenbarkeit sind beide gleich mächtig.
  • Konrad Zuse hat Ideen aus dem Lambda-Kalkül 1942 bis 1946 in seinen Plankalkül einfließen lassen.
  • John McCarthy hat sie Ende der 1950er Jahre verwendet und damit die minimalen Funktionen der Programmiersprache Lisp definiert.
  • Die typisierten Varianten des Lambda-Kalküls führten zu modernen Programmiersprachen wie ML oder Haskell.
  • Als überaus fruchtbar erwies sich die Idee, Ausdrücke des typisierten Lambda-Kalküls zur Repräsentation von Termen einer Logik zugrunde zu legen, den Lambda-Kalkül also als Meta-Logik zu verwenden. Erstmals von Church 1940 in seiner Theory of Simple Types präsentiert, führte sie einerseits zu modernen Theorembeweisern für Logiken höherer Stufe und …
  • andererseits in den 1970er und 1980er Jahren zu Logiken mit immer mächtigeren Typsystemen, in denen sich z. B. logische Beweise an sich als Lambda-Ausdruck darstellen lassen.
  • In Anlehnung an den Lambda-Kalkül wurde für die Beschreibung nebenläufiger Prozesse der Pi-Kalkül von Robin Milner in den 1990er Jahren entwickelt.

Der untypisierte Lambda-Kalkül

Motivation

Ausgehend von einem mathematischen Term, wie beispielsweise , lässt sich eine Funktion bilden, die auf abbildet. Man schreibt auch . Beim Lambda-Kalkül geht es zunächst darum, solche Funktionsbildungen sprachlich zu formalisieren. Im Lambda-Kalkül würde man statt den Term

schreiben. Man sagt, dass die freie Variable durch λ-Abstraktion gebunden wird. Die Variablen-Bindung kommt in der Mathematik auch in anderen Bereichen vor:

  • Mengenlehre:
  • Logik: und
  • Analysis:

Die abstrahierte Variable muss nicht notwendigerweise im Term vorkommen, z. B. . Dieser λ-Ausdruck bezeichnet dann die Funktion, die jedes auf abbildet. Etwas allgemeiner ist die Funktion, die konstant ist. Wird nachträglich noch nach abstrahiert, so erhält man mit eine Formalisierung der Funktion, die jedem Wert die Funktion zuordnet, die konstant ist. Der Ausdruck repräsentiert also eine funktionswertige Funktion. Im Lambda-Kalkül lassen sich aber auch Funktionen ausdrücken, deren Argumente bereits Funktionen sind. Nimmt man bspw. die Funktion, die jeder Funktion eine andere Funktion zuordnet, die so entsteht, dass zweimal angewandt wird, so wird durch den λ-Term dargestellt und die Zuordnung durch .

Da λ-Terme als Funktionen gesehen werden, kann man sie auf ein Argument anwenden. Man spricht von Applikation und schreibt im Lambda-Kalkül eher statt . Klammern können Terme gruppieren. Die Applikation als Verbindungsprinzip von Termen ist definitionsgemäß linksassoziativ, d. h. bedeutet . In der üblichen mathematischen Notation würde man hier schreiben. Wendet man nun einen Lambda-Term auf ein Argument an, also , so berechnet sich das Ergebnis dadurch, dass in dem Term jedes Vorkommen der Variablen durch ersetzt wird. Diese Ableitungsregel nennt man β-Konversion.

λ-Terme formulieren eher allgemeine Prinzipien der Mathematik und bezeichnen nicht so sehr Objekte des üblichen mathematischen Universums. Beispielsweise formuliert das Zuordnungsprinzip der identischen Abbildung, doch diese ist immer auf eine gegebene Menge als Definitionsmenge bezogen. Eine universelle Identität als Funktion ist in der mengentheoretischen Formulierung der Mathematik nicht definiert. Der Lambda-Kalkül im strengen Sinne ist daher eher als ein Neuentwurf der Mathematik zu sehen, in dem die Grundobjekte als universelle Funktionen verstanden werden, im Gegensatz zur axiomatischen Mengenlehre, deren Grundobjekte Mengen sind.

Zahlen und Terme wie sind zunächst nicht Bestandteil eines reinen Lambda-Kalküls. Ähnlich wie in der Mengenlehre, in der man Zahlen und Arithmetik allein aus dem Mengenbegriff heraus konstruieren kann, ist es aber auch im Lambda-Kalkül möglich, auf der Basis von λ-Abstraktion und Applikation die Arithmetik zu definieren. Da im Lambda-Kalkül jeder Term als einstellige Funktion verstanden wird, muss eine Addition als die Funktion verstanden werden, die jeder Zahl diejenige (einstellige) Funktion zuordnet, die zu jeder Zahl den Wert addiert (s. Currying).

Lambda-Terme ohne freie Variablen werden auch als Kombinatoren bezeichnet. Die Kombinatorische Logik (oder Kombinator-Kalkül) kann als alternativer Ansatz zum Lambda-Kalkül gesehen werden.

Formale Definition

In seiner einfachsten, dennoch vollständigen Form gibt es im Lambda-Kalkül drei Sorten von Termen, hier in Backus-Naur-Form:

Term ::= a (Variable) | (Term Term) (Applikation) | λa. Term (Abstraktion)

wobei für ein beliebiges Symbol aus einer mindestens abzählbar-unendlichen Menge von Variablensymbolen (kurz: Variablen) steht. Für praktische Zwecke wird der Lambda-Kalkül üblicherweise noch um eine weitere Sorte von Termen, die Konstantensymbole, erweitert.

Die Menge der freien Variablen kann induktiv über der Struktur eines λ-Terms wie folgt definiert werden:

  1. , falls der Term eine Variable ist
  2. für Applikationen, und
  3. , falls der Term eine Abstraktion ist, sind seine freien Variablen die freien Variablen von außer .

Die Menge der gebundenen Variablen eines Terms errechnet sich auch induktiv:

  1. , falls der Term eine Variable ist
  2. für Applikationen, und
  3. , falls der Term eine Abstraktion ist, sind seine gebundenen Variablen die gebundenen Variablen von vereinigt .

Mittels der Definition von freien und gebundenen Variablen kann nun der Begriff der (freien) Variablensubstitution (Einsetzung) induktiv definiert werden durch:

  1. falls Variable ungleich
  2. falls Variable ungleich und falls disjunkt von .

Hinweis: steht für: , in dem die freie Variable durch ersetzt wurde (falls nicht in vorhanden ist, wird auch nichts ersetzt).

Man beachte, dass die Substitution nur partiell definiert ist; ggf. müssen gebundene Variablen geeignet umbenannt werden (siehe α-Kongruenz im Folgenden), so dass niemals eine freie Variable in einem Substitut durch Einsetzung für eine Variable gebunden wird.

Über der Menge der λ-Terme können nun Kongruenzregeln (hier ≡ geschrieben) definiert werden, die die Intuition formal fassen, dass zwei Ausdrücke dieselbe Funktion beschreiben. Diese Relationen sind durch die sogenannte α-Konversion, die β-Konversion sowie die η-Konversion erfasst.

Kongruenzregeln

α-Konversion

Die α-Konversionsregel formalisiert die Idee, dass die Namen von gebundenen Variablen „Schall und Rauch“ sind; z. B. beschreiben und dieselbe Funktion. Allerdings sind die Details nicht ganz so einfach wie es zunächst erscheint: Eine Reihe von Einschränkungen müssen beachtet werden, wenn gebundene Variablen durch andere gebundene Variablen ersetzt werden.

Formal lautet die Regel wie folgt:

falls in nirgends frei vorkommt und in dort nicht gebunden ist, wo es ein ersetzt. Da eine Kongruenzregel in jedem Teilterm anwendbar ist, erlaubt sie die Ableitung, dass gleich ist.

β-Konversion

Die β-Konversionsregel formalisiert das Konzept der „Funktionsanwendung“. Wird sie ausschließlich von links nach rechts angewandt, spricht man auch von β-Reduktion. Formal lässt sie sich durch

beschreiben, wobei alle freien Variablen in in frei bleiben müssen (siehe Nebenbedingung bei der Substitutionsdefinition).

Ein Term heißt in β-Normalform, wenn keine β-Reduktion mehr anwendbar ist (nicht für alle Terme existiert eine β-Normalform; siehe unten). Ein tiefes Resultat von Church und Rosser über den λ-Kalkül besagt, dass die Reihenfolgen von α-Konversionen und β-Reduktionen in gewissem Sinn keine Rolle spielt: wenn man einen Term zu zwei Termen und ableitet, gibt es immer eine Möglichkeit, und jeweils zu einem gemeinsamen Term abzuleiten.

η-Konversion

Die η-Konversion kann optional zum Kalkül hinzugefügt werden. Sie formalisiert das Konzept der Extensionalität, d. h., dass zwei Funktionen genau dann gleich sind, wenn sie für alle Argumente dasselbe Resultat liefern. Formal ist die η-Konversion beschrieben durch:

, wenn nicht freie Variable von ist.

Anmerkungen

  • Nicht für alle Terme existiert eine β-Normalform. Beispielsweise kann man auf den Term zwar β-Reduktion anwenden, doch man erhält wieder den gleichen Term als Ergebnis zurück.
  • Jeder Term, der die Bedingung der β-Regel erfüllt, wird β-reduzibel genannt.
  • Die β-Reduktion ist im Allgemeinen nicht eindeutig; es kann mehrere Ansatzpunkte (sog. β-Redexe, von englisch reducible expression, reduzibler Ausdruck) für die Anwendung der β-Regel geben, weil die Regelanwendung in allen Teiltermen möglich ist.
  • Wenn mehrere Folgen von β-Reduktionen möglich sind und mehrere davon zu einem nicht-β-reduziblen Term führen, so sind diese Terme bis auf α-Kongruenz gleich.
  • Wenn jedoch eine Reihenfolge der β zu einem nicht-β-reduziblen Term (einem Ergebnis) führt, so tut dies auch die Standard Reduction Order, bei der das im Term erste Lambda zuerst verwendet wird.
  • In einer alternativen Notation werden die Variablennamen durch De-Bruijn-Indizes ersetzt. Diese Indizes entsprechen der Anzahl der Lambda-Terme zwischen der Variablen und ihrem bindenden Lambda-Ausdruck. Diese Darstellung wird oft in Computerprogrammen verwendet, da sie die α-Konversion obsolet macht und β-Reduktion deutlich vereinfacht.

Weitere Beispiele

  • Der Term ist eine Möglichkeit von vielen, die logische Funktion darzustellen. Hierzu versteht man als Abkürzung für und als Abkürzung für . Der Term erfüllt alle Forderungen, die man an die Funktion stellt.
  • Man kann in ähnlicher Weise Zahlen, Tupel und Listen in λ-Ausdrücken codieren (z. B. durch sogenannte Church-Numerale)
  • Man kann beliebige rekursive Funktionen durch den Fixpunkt-Kombinator darstellen.

Typisierter Lambda-Kalkül

Die zentrale Idee des typisierten Lambda-Kalküls ist es, nur noch Lambda-Ausdrücke zu betrachten, denen sich ein Typ durch ein System von Typinferenzregeln zuordnen lässt. Das einfachste Typsystem, das von Church in seiner Theory of Simple Types vorgestellt wurde, sieht die Typen vor, die durch folgende Grammatik in Backus-Naur-Form generiert werden:

TT ::= I (Individuen) | O (Wahrheitswerte) | (TT → TT) (Funktionstypen)

Den Typ kann man sich als Zahlen vorstellen, wird für boolesche Werte wie Wahr und Falsch verwendet.

Zusätzlich wird eine Umgebung definiert; dies ist eine Funktion, die Variablensymbolen Typen zuordnet.

Ein Tripel aus einer Umgebung , einem Ausdruck und einem Typ , geschrieben wird ein Typurteil genannt.

Nun können die Inferenzregeln Beziehungen zwischen Ausdrücken, ihren Typen und Typurteilen herstellen:

Hierbei ist diejenige Funktion, die an der Stelle den Typ zuordnet, und ansonsten die Funktion ist. (Anders ausgedrückt: Der Parameter der Funktion ist vom Typ und genau diese Information wird der Umgebung hinzugefügt.)

Durch Einführung einer zweiten Umgebung sind auch Konstantensymbole behandelbar; eine weitere wichtige Erweiterung besteht darin, in Typen auch die Kategorie der Typvariablen etc. oder Typkonstruktoren wie , etc. zuzulassen: so entstehen schon sehr mächtige funktionale oder logische Kernsprachen. ist beispielsweise eine Funktion, die den beliebigen Typen auf den Typ „Menge, deren Elemente vom Typ sind“ abbildet; analog; geschrieben und , wobei auch wie gehabt die Klammern fehlen dürfen. Das Konzept kann leicht weiter abstrahiert werden, indem statt eines konkreten Typkonstruktors auch eine Variable verwendet wird, z. B. . Typkonstruktoren dürfen allgemein auch mehrere Argumente besitzen, wie beispielsweise der Pfeil: Der Typ ist nichts anderes als , zeigt aber besser, dass der Pfeil ein Typkonstruktor in zwei Variablen ist. Insbesondere ist auch bei Typkonstruktoren Currying möglich, und ist ein Typkonstruktor in einer Variablen.

Es ist entscheidbar, ob ein untypisierter Term sich typisieren lässt, selbst wenn die Umgebung unbekannt ist (eine Variante mit Typvariablen und Typkonstruktoren ist der Algorithmus nach Hindley-Milner).

Die Menge der typisierbaren Ausdrücke ist eine echte Teilmenge des untypisierten Lambda-Kalküls; z.B. lässt sich der Y-Kombinator nicht typisieren. Andererseits ist für typisierte Ausdrücke die Gleichheit zwischen zwei Funktionen modulo α- und β-Konversionen entscheidbar. Es ist bekannt, dass das Matching-Problem auf Lambda-Ausdrücken bis zur vierten Ordnung entscheidbar ist. Das Unifikationsproblem ist unentscheidbar; allerdings gibt es praktisch brauchbare approximative Algorithmen.

Anwendung in der Semantik

Die Semantik ist dasjenige Teilgebiet der Linguistik, welches die Bedeutung natürlichsprachlicher Ausdrücke analysiert. Die formale Semantik nutzt dazu zunächst einfache Mittel der Prädikatenlogik und Mengenlehre. Diese erweitert man um Grundlagen des Lambda-Kalküls, etwa um mittels Lambda-Abstraktion Propositionen als Eigenschaften zu repräsentieren und komplexere Nominalphrasen, Adjektivphrasen und einige Verbalphrasen darstellen zu können. Grundlage ist etwa eine modelltheoretische semantische Interpretation der intensionalen Logik Richard Montagues.

Anwendung in der Informatik

Der Lambda-Kalkül ist auch die formale Grundlage für viele Programmiersprachen, wie z. B. Scheme oder Lisp. Einige Programmiersprachen bieten Konzepte wie anonyme Funktionen an, auf die sich einige der Regeln des Lambda-Kalküls anwenden lassen. Die Programmiersprachen erlauben jedoch meist mehr als der reine Lambda-Kalkül wie beispielsweise Nebeneffekte.

Siehe auch

Literatur

  • Stephen Kleene: A theory of positive integers in formal logic. In: American Journal of Mathematics. 57, 1935, ISSN 0002-9327, S. 153–173 und 219–244.
  • Alonzo Church: An unsolvable problem of elementary number theory. In: American Journal of Mathematics. 58, 1936, S. 345–363.
  • Alonzo Church: The Calculi of Lambda-Conversion
  • Henk P. Barendregt: The lambda calculus. Its syntax and semantics. Revised edition. North-Holland, Amsterdam u. a. 1984, ISBN 0-444-87508-5 (Studies in logic and the foundations of mathematics 103).
  • Guo-Qiang Zhang: Logic of Domains. Birkhäuser, Boston u. a. 1991, ISBN 0-8176-3570-X (Progress in theoretical computer science 4), (Zugleich: Cambridge, Univ., Diss., 1989).
  • Roberto M. Amadio, Pierre-Louis Curien: Domains and Lambda-Calculi. Cambridge University Press, Cambridge u. a. 1998, ISBN 0-521-62277-8 (Cambridge tracts in theoretical computer science 46).
  • Samson Abramsky (Hrsg.): Typed Lambda Calculi and Applications. 5th international conference, Kraków, Poland, May 2 – 5, 2001. Proceedings. Springer, Berlin u. a. 2001, ISBN 3-540-41960-8 (Lecture notes in computer science 2044).

Einzelnachweise

  1. Alonzo Church: The Calculi of Lambda-Conversion. Princeton University Press, Princeton 1941 (archive.org [abgerufen am 14. April 2020]).
This article is issued from Wikipedia. The text is licensed under Creative Commons - Attribution - Sharealike. Additional terms may apply for the media files.