Die Linearschrift A (oft verkürzt, etwa von Arthur Evans, als Linear A bezeichnet) ist neben der kretischen Hieroglyphenschrift eines der beiden Schriftsysteme der minoischen Kultur Kretas. Sie wurde etwa vom 18. bis ins 15. Jahrhundert v. Chr. verwendet und konnte bisher nur ansatzweise entziffert werden. Ihr Gebrauch ist aus den Perioden MM II bis SM I B der minoischen Kultur bezeugt. Geschrieben wurde von links nach rechts. Aus Linearschrift A wurden später die an das Griechische angepasste Linearschrift B sowie die kypro-minoische Schrift entwickelt. Da die abstammenden Schriften (vorwiegend) Silbenschriften sind, handelt es sich mit großer Wahrscheinlichkeit auch bei Linear A um eine Silbenschrift.

Im Juni 2014 wurde die Schrift im Standard Unicode 7.0 als Unicodeblock Linear A (U+10600–U+1077F) aufgenommen.

Beschreibung

Bekannt sind etwa 70 Silbenzeichen, 100 Zeichen mit Wortbedeutung, die teilweise mit Silbenzeichen kombiniert und dadurch näher bestimmt wurden, sowie diverse Zahlzeichen. Obwohl die der Schrift zugrundeliegende minoische Sprache unbekannt ist und bisher keiner bekannten Sprachfamilie zugeordnet werden konnte, lässt sich der Lautwert vieler Silbenzeichen durch Vergleiche mit der Linearschrift B mehr oder weniger erschließen.

Die große Zahl von logographischen Zeichen ermöglicht die inhaltliche Erschließung aufgefundener Texte. Es wird angenommen, dass die auf Tontäfelchen eingeritzten Notizen häufig der Verwaltung dienten, so dass ihre Entzifferung vor allem Rückschlüsse auf wirtschaftliche Verhältnisse der Epoche ermöglichen würde. Die meisten Texte sind offenbar Listen, bei einzelnen, die die sog. Libationsformel enthalten, handelt es sich vermutlich um Dedikationsinschriften; längere Texte fehlen ganz.

Für das Schreiben in Ton ist das Ritzen von Linien, wie bei den Linearschriften, wenig geeignet. Man geht daher davon aus, dass hauptsächlich auf anderen, nicht sehr haltbaren Materialien wie Papyrus oder Pergament geschrieben wurde. Die Tontafeln waren wohl Notizzettel, die nur kurze Zeit aufbewahrt wurden. Erhalten blieben sie nur deshalb, weil sie durch Brandkatastrophen gebrannt und so für Jahrtausende konserviert wurden.

Einige Zeichen der Linear A sind den archaischen Urbildern der mesopotamischen Keilschrift sehr ähnlich. Eine Verwandtschaft beider Schriftsysteme, die einen Weg zum Verständnis der Linear-A-Inschriften bahnen könnte, gilt daher als möglich, wenn auch wegen des zeitlichen Abstandes als unwahrscheinlich.

Harald Haarmann sieht bei 40 % bis 50 % des Zeicheninventars von Linear A Äquivalenzen mit der Donauschrift. Sie stehe in der Kulturtradition der „balkanisch-ägäischen Konvergenzzone“.

Verzeichnis der Zeichen

Zeichen und Nummerierung nach E. Bennett. Das Lesen von Zeichen basiert auf Analoga von Linear B.
*01-*20 *21-*30 *31-*53 *54-*74 *76-* 122 * 123-* 306
DA

*01

QI

*21

SA

*31

WA

*54

*76

* 123

RO

*02

*21f

*34

*55

KA

*77

* 131a

PA

*03

*21m

TI

*37

PA3

*56

QE

*78

* 131b

TE

*04

MI?

*22

E

*38

JA

*57

WO2?

*79

* 131c

*05

*22f

PI

*39

SU

*58

MA

*80

* 164

NA

*06

*22m

WI

*40

TA

*59

KU

*81

* 171

DI

*07

MU

*23

SI

*41

RA

*60

*82

* 180

A

*08

*23m

KE

*44

O

*61

*85

* 188

S

*09

NE

*24

*45

JU

*65

*86

* 191

*10

RU

*26

*46

TA2

*66

TWE

*87

* 301

*11

RE

*27

*47

KI

*67

* 100/
* 102

* 302

ME

*13

I

*28

*49

TU

*69

* 118

* 303

QA2

*16

*28b

PU

*50

*70

* 120

* 304

ZA

*17

*29

DU

*51

MI

*73

* 120b

* 305

ZO

*20

NI

*30

*53

ZE

*74

* 122

* 306

Zahlen

Ganze Zahlen

Ganze Zahlen können gelesen werden. Das System ist wie bei den ganzen Zahlen der ägyptischen Hieroglyphenschrift rein additiv und damit etwas weniger kompliziert als bei der römischen Zahlschrift. Die Operationen der Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division sind ähnlich wie bei den römischen Zahlen.

Ägäische Ziffern
1 2 3 4 5 6 7 8 9
𐄇 𐄈 𐄉 𐄊 𐄋 𐄌 𐄍 𐄎 𐄏
,
10 20 30 40 50 60 70 80 90
𐄐 𐄑 𐄒 𐄓 𐄔 𐄕 𐄖 𐄗 𐄘
100 200 300 400 500 600 700 800 900
𐄙 𐄚 𐄛 𐄜 𐄝 𐄞 𐄟 𐄠 𐄡
,

Tausenderzeichen wurden durch Kreise mit vier oder mehr Strahlen oder Spikes dargestellt, die m. o. w. regelmäßig verteilt dargestellt wurden, so bedeutet beispielsweise 3.000 und 4.000.

Samuel Verdan hat 2007 für das 10.000er-Zeichen vorgeschlagen.

Brüche

In der Wissenschaft besteht kein Einvernehmen über die Brüche. Corazza et al. (2020/21) schlugen die folgenden Werte vor, von denen die meisten auch bereits früher vorgeschlagen worden waren.

Vorgeschlagene Werte der Bruchglyphen
AbkürzungGlypheWert
J𐝆12
E𐝃14
B𐝁15
D𐝂16
F𐝄18
K𐝇110
H𐝅116?
L2𐝉120
A𐝀124?
L3𐝊130
L4𐝋140
L6𐝌160
W𐝍= BB? (25)
X𐝎= AA? (112)
Y𐝏 ?
Ω𐝐 ?

Andere Brüche werden durch Addition gebildet: Die gebräuchlichen Werte

  • 𐝕 JE und 𐝓 DD sind 3⁄4 und 1⁄3 (= 2⁄6),
  • 𐝒 BB = 2⁄5, EF = 3⁄8 usw.

Tatsächlich sieht auch B = 1⁄5 so aus, als ob es von KK = 2⁄10 abstammen könnte. Die genannten Autoren schlagen vor, dass die Glyphe L 𐝈 – ein Hapaxlegomenon (Einzelbeleg) – in der bisherigen Weise nicht korrekt gedeutet ist.

Mehrere dieser Werte werden von Linear B unterstützt. Obwohl Linear B ein anderes Nummerierungssystem verwendet, wurden mehrere der Brüche von Linear A als fraktionelle Maßeinheiten übernommen. So entsprechen z. B. in Linear B 𐝓 DD und 𐝎 (vermutlich gleich AA) 1⁄3 und 1⁄12 einer Lana, während 𐝇 K 1⁄10 der Haupteinheit für das Trockengewicht ist.

Anmerkungen

  1. 1 2 Ω ist ein Hapaxlegomenon (Einzelbeleg), und der Wert für Y wurde bisher noch nicht ermittelt.

Verwandte Themen

Literatur

  • Margalit Finkelberg: The Language of Linear A: Greek, Semitic, or Anatolian? In: Robert Drews (Hrsg.): Greater Anatolia and the Indo-Hittite Language Family (= Journal of Indo-European Studies: Monograph. Nr. 38). University of Michigan, 2001, ISBN 0-941694-77-1, ISSN 0895-7258, S. 81–105 (englisch, online).
  • Louis Godart, Jean-Pierre Olivier: Recueil des inscriptions en Linéaire A., 5 Bände. Études Crétoises 21; Librairie Orientaliste Paul Geuthner, Paris 1976–1985; ISSN 1105-2236 (Umfassendes Inschriftencorpus; Band 1 online).
  • Dimitris Michalopoulos: Débris d'un monde d'antan. La mer toujours. par le collège des Lettres de l'Académie des Arts et Sciences de la Mer. Éditions le Cormoran, Guimaec 2019, ISBN 978-2-916687-27-8, S. 31–46.
  • David W. Packard: Minoan Linear A. University of California Press, Berkeley/ Los Angeles/ London 1974, ISBN 0-520-02580-6 (google.de).
  • Franz Steinherr: Minoisch und Hieroglyphenhethitisch. In: Minos: Revista de filología egea. Nr. 3. Consejo Superior de Investigaciones Cientificas, 1954, ISSN 0544-3733, S. 30–54 (Online [abgerufen am 14. Februar 2014]).
  • Johannes Sundwall: Minoische Beiträge I. In: Minos: Revista de filología egea. Nr. 3. Consejo Superior de Investigaciones Cientificas, 1954, ISSN 0544-3733, S. 107–117 (Online [abgerufen am 14. Februar 2014]).
  • Johannes Sundwall: Minoische Beiträge II. In: Minos: Revista de filología egea. Nr. 4. Consejo Superior de Investigaciones Cientificas, 1956, ISSN 0544-3733, S. 43–49 (Online [abgerufen am 14. Februar 2014]).
  • Johannes Sundwall: Minoische Beiträge III. In: Minos: Revista de filología egea. Nr. 5. Consejo Superior de Investigaciones Cientificas, 1957, ISSN 0544-3733, S. 93–98 (Online [abgerufen am 14. Februar 2014]).
Commons: Linear A – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Quellen

  1. George A. Miller: Wörter. Streifzüge durch die Psycholinguistik. Herausgegeben und aus dem Amerikanischen übersetzt von Joachim Grabowski und Christiane Fellbaum. Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg 1993; Lizenzausgabe: Zweitausendeins, Frankfurt am Main 1995; 2. Auflage ebenda 1996, ISBN 3-86150-115-5, S. 68–69.
  2. Ivo Hajnal: Grammatik des mykenischen Griechisch (Teil I) S. 5–9 Onlinepublikation auf der Website des Instituts für Sprachen und Literatur der Universität Innsbruck (PDF-Datei, 1,09 MB)
  3. Thomas Balistier: Der Diskos von Phaistos. Zur Geschichte eines Rätsels & den Versuchen seiner Auflösung. 3. Auflage. Dr. Thomas Balistier, Mähringen 2008, ISBN 978-3-9806168-1-2, Blick- und Laufrichtung der Bildzeichen, S. 95.
  4. Writing direction index. www.omniglot.com, abgerufen am 24. September 2012 (englisch).
  5. Unicode 7.0.0. Unicode Consortium, 16. Juni 2014, abgerufen am 17. Juni 2014 (englisch).
  6. Hans Glarner: Sumerische Schriftzeichen in der Linear A. In: Kadmos 41 (2002), S. 121–122.
  7. Harald Haarmann: Auf den Spuren der Indoeuropäer. Von den neolithischen Steppennomaden bis zu den frühen Hochkulturen. C. H. Beck, München 2016, ISBN 978-3-406-68824-9, S. 323.
  8. W. French Anderson: Arithmetical Procedure in Minoan Linear A and in Minoan-Greek Linear B. In: American Journal of Archaeology, Band 62, Nr. 3, 1958, S. 363–368; JSTOR:501989.
  9. John G. Younger: Linear A Texts & Inscriptions in phonetic transcription & Commentary: Introduction. Siehe insbesondere Fig. MA_9 und Fig. HT_31 (Zeile 6).
  10. Samuel Verdan: Systèmes numéraux en Grèce ancienne: description et mise en perspective historique. In: CultureMATH, 2007, PDF (revised version). Siehe insbes. Fig. 4 und Tbl. 7 (es muss wohl „10 000“ statt „10 0000“ heißen, sonst müsste es „100 000“ sein.).
  11. Jon C. Billigmeier: Linear A Fractions: A New Approach. In: American Journal of Archaeology, Band 77, Nr. 1, Archaeological Institute of America, 1973, S. 61–65, doi:10.2307/50323.
  12. Emmett L. Bennett: Linear A fractional retractation", In: Kadmos, Band 19, Br. 1, 1980
  13. Peter Schrijver: Fractions and food rations in Linear A. In: Kadmos, Band 53, Nr. 1–2, 2014, S. 1–44
  14. 1 2 3 Michele Corazza, Silvia Ferrara, Barbara Montecchi, Fabio Tamburini, Miguel Valério: The mathematical values of fraction signs in the Linear A script: A computational, statistical and typological approach. In: Journal of Archaeological Science. 125. Jahrgang, Nr. 105214, Januar 2021, S. 1–14, doi:10.1016/j.jas.2020.105214.. ResearchGate. Epub September 2020. Siehe dazu:
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