Der Begriff Reichensteuer ist eine in der nach der Bundestagswahl 2005 geführten Reformdiskussion um das deutsche Steuerrecht bekannt gewordene, häufig auch populistisch verwendete Wortschöpfung. Ein anderes Schlagwort dafür ist Millionärssteuer, Gegner bezeichnen sie als Neidsteuer. Das Schlagwort bezog sich dabei auf Einkommensreichtum. Jahre später, nachdem die erste politische Diskussion nicht mehr aktuell war, wurde der Ausdruck Reichensteuer in Österreich und Deutschland gelegentlich auch für eine Vermögensteuer benutzt.

Deutschland

Gesetzgebung

Die als „Reichensteuer“ bezeichnete Erhöhung der Einkommensteuer für hohe Einkommen wurde im Koalitionsvertrag vom 11. November 2005 zwischen CDU, CSU und SPD vereinbart. Sie wurde mit dem „Steueränderungsgesetz 2007“ eingeführt und gilt seit dem 1. Januar 2007. Die Reichensteuer ist keine eigene Steuer, sondern lediglich eine Erhöhung des Einkommensteuersatzes für höhere Einkommen.

Ihr Aufkommen betrug im Fiskaljahr 2010 rd. 640 Mio. Euro (2009: 1,03 Mrd. Euro; 2008 790 Mio. Euro; 2007: 650 Mio. Euro). Der Solidaritätszuschlag ist in diesem Aufkommen bereits enthalten.

Anzahl der Betroffenen

Die Zahl der Personen, die von der Reichensteuer betroffenen sind, ist erheblich niedriger als die der Reichtumsquote, da „die Reichen“ hier nur als Schlagwort für eine Teilgruppe und nicht im wissenschaftlichen Sinne gebraucht wird. So lag der Anteil der Bevölkerung mit Einkommensreichtum je nach Definition und Erhebung 2010 bei 2–8 %. Das entsprach mindestens 1,6 Mio. Personen. Dagegen waren von der „Reichensteuer“ nach Angaben des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages im Jahr 2009 nur rund 57.942 Personen betroffen, also 0,22 % der Steuerpflichtigen. Diese Anzahl stieg bis 2017 auf ca. 156.000 Steuerpflichtige an, bis 2018 auf ca. 163.000. Letztere Zahl entsprach ca. 0,39 % der Steuerpflichtigen.

Ausgestaltung

Soweit das zu versteuernden Einkommen einen bestimmten Betrag übersteigt, beträgt der Steuersatz 45 % (Grenzsteuersatz). Im Veranlagungsjahr 2019 lag dieser Betrag bei 265.327 € für Einzelveranlagung (§ 32a Abs. 1 Nr. 5 EStG) und 530.654 € für Zusammenveranlagung (§ 26, § 26b i. V. m. § 32a Abs. 5 EStG). Durch diese Stufe wird der ansonsten kontinuierliche deutsche Einkommenssteuertarif zum Stufentarif.

In Abgrenzung zum Spitzensteuersatz wird beim der Reichensteuer entsprechenden Steuersatz formal auch vom "Höchststeuersatz" gesprochen.

Dieser Steuersatz galt im Veranlagungszeitraum 2007 allerdings nicht für die Gewinneinkünfte. Diese Regelung wurde damit begründet, dass zum 1. Januar 2008 eine Unternehmensteuerreform in Kraft trat.

Politische Diskussion

Hauptsächlich wurde kritisiert, dass es sich – so Gustav Horn, Leiter des gewerkschaftsnahen Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung – lediglich um „symbolische Politik“ handle, die letztlich nur geringe Auswirkungen habe und „niemandem hilft“. Entsprechend konstatierte der Wirtschaftswissenschaftler Rudolf Hickel, dass die Reichensteuer einen reinen Placebo-Effekt habe, „eine generelle, aber zeitlich begrenzte Erhöhung des Steuerspitzensatzes auf 45 Prozent wäre effektiver gewesen.“

Der Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Peter Ramsauer, bezeichnete die „Reichensteuer“ als „ökonomisch unsinnige Neidsteuer“. Ähnlich argumentierte der Präsident des Bundes der Steuerzahler, Karl Heinz Däke, der erhebliche verfassungsrechtliche Bedenken sieht.

Der ehemalige Vizekanzler Franz Müntefering befürwortete dagegen die „Reichensteuer“, es sei gut zu vertreten, dass diejenigen, „die ganz oben sind, ein Stückchen mehr an Steuern bezahlen müssen.“ Der stellvertretende Vorsitzende des CDU-Arbeitnehmerflügels, Gerald Weiß, sagte, dass Belastungsgerechtigkeit gebraucht werde: „Jeder soll tragen müssen, was er tragen kann.“

Einen offenen Brief – initiiert durch den Reeder Peter Krämer – versahen prominente Unterzeichner mit der Überschrift „Die Reichensteuer ist lächerlich“ und forderten eine konsequente Besteuerung der Reichen.

Neben der politischen Diskussion über den Zweck der Reichensteuer wurde zudem aus ökonomischer Sicht untersucht, inwieweit das politische Ziel, eine differenzierte Behandlung der Gewinn- und Überschusseinkünfte, überhaupt erreicht werden konnte. Die Untersuchung kam zu dem Ergebnis, dass es sich bei den Gesetzesänderungen um „kein stimmiges Modell“ handle, das „ungewollte Effekte“ hervorrufe.

Im Jahr 2006, in der Zeit zwischen Vereinbarung des Koalitionsvertrages und Inkrafttreten des Steueränderungsgesetzes, befürworteten laut einer Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen 71 % der Befragten eine Einführung der Reichensteuer.

Österreich

Auch in Österreich gab es eine öffentliche Debatte um eine vergleichbare Regelung. SPÖ, Grüne und FPÖ ließen Sympathien für eine Reichensteuer erkennen, Finanzminister Karl-Heinz Grasser wies im November 2005 die Vorschläge als „für Österreich bedeutungslos“ zurück. Mit der Steuertarifreform 2015/2016 wurde aber dann ein Spitzensteuersatz von 55 % für Einkommen über 1.000.000 Euro eingeführt.

Seit der Finanzkrise ab 2007 gibt es immer wieder neue Vorschläge zur Vermögensbesteuerung von Reichen zum Zweck der Budgetkonsolidierung. So schlug 2011 der österreichische Bundeskanzler Werner Faymann eine Millionärsteuer vor, die 0,3 % bis 0,7 % ab einem Vermögen von 1 Mio. Euro betragen soll. Je nach Prozentsatz soll sie 500 Mio. bis 2 Milliarden Euro an Staatseinnahmen bringen.

In Österreich gab es bis in die 1990er-Jahre eine Vermögensteuer, in der Zwischenkriegszeit gab es in Wien eine sehr umstrittene Wohnbausteuer.

Frankreich

In Frankreich gewann 2012 François Hollande die Wahl gegen Nicolas Sarkozy und wurde französischer Staatspräsident. Im September 2012 kündigte er hohe Einsparungen und eine Reichensteuer an, die im Oktober 2012 beschlossen wurde. Einkommen von über 150.000 Euro sollten danach mit 45 % besteuert werden. Der Steuersatz für Einkommen von mehr als 1 Mio. Euro sollte bei 75 % liegen. Der 75 % Steuersatz wurde Ende Dezember 2012 vom Verfassungsrat in der geplanten Form für verfassungswidrig erklärt. Der Rat kritisierte dabei nicht die Höhe der Steuer an sich, sondern eine Ungleichbehandlung der Haushalte. Wenn zwei Partner jeweils weniger als eine Million Euro verdienten, wären sie von der Steuer ausgenommen. Käme ein Partner allein auf das gleiche Einkommen, müsste er zahlen.

Medien berichteten, dass einige Reiche – auch wegen einer unternehmerfeindlichen Stimmung in Frankreich – in Nachbarländer umgezogen seien oder dies planten. Für Aufsehen sorgte vor allem der Schauspieler Gérard Depardieu, der medienwirksam nach Russland auswanderte und dort die russische Staatsbürgerschaft annahm.

Nach Aufzeichnungen der EZB sind seit Herbst 2012 bis zu 70 Milliarden Euro an Kapital aus Frankreich abgeflossen, was hauptsächlich auf die Einführung der Reichensteuer zurückgeführt wird. Seit dem 1. Januar 2015 wird die Reichensteuer nicht mehr angewendet.

Internationaler Währungsfonds

2013 veröffentlichte der IWF in seinem Bericht Taxing Times die Ansicht, dass „in vielen entwickelten Volkswirtschaften offenbar Spielraum besteht, um mehr Ertrag aus der Spitze der Einkommenspyramide zu gewinnen“. Nach teils heftigen Reaktionen in Politik und Medien stellte der IWF klar, das in diesem Bericht vorgestellte Konzept einer einmaligen zehnprozentigen Vermögensabgabe auf Sparvermögen, Wertpapiere und Immobilien sei kein offizieller Vorschlag des IWF, sondern ein „rein theoretisches Gedankenspiel“. Das EZB-Ratsmitglied Ewald Nowotny warnte vor einer Verunsicherung der Sparer durch derartige Ideen.

Empirische Befunde

Empirische Studien zeigen, dass es bei Steuererhöhungen zu Anpassungsreaktionen der Steuerpflichtigen kommt. Dabei reagieren Steuerpflichtige mit höheren Einkommen kaum mit ihrem grundlegenden realwirtschaftlichen Leistungsverhalten auf die Besteuerung, also etwa bei Arbeitszeit und -umfang oder Bildungs- und Karriereentscheidungen. Dafür reagieren sie mit Steuervermeidung. Berechnungen mit "Optimalsteuermodellen" zeigen, dass die Spitzensteuersätze bedeutend höher ausfallen könnten, wenn die Steuervermeidung stärker eingeschränkt würde.

Siehe auch

Wiktionary: Reichensteuer – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Millionärssteuer ist „reiner Wahlkampf“. In: Süddeutsche Zeitung, 22. Juni 2005.
  2. Rüttgers mahnt Merkel. In: Die Welt, 9. November 2005.
  3. 1 2 Kanzler will „Reichensteuer“ ab einer Million Euro. In: derStandard.at. 28. August 2011, abgerufen am 7. Dezember 2017.
  4. B. Dribbusch: Breites Bündnis fordert höhere Abgaben: „Umfairteilen“ will Reichensteuer. In: Die Tageszeitung: taz. 4. August 2012, ISSN 0931-9085 (taz.de [abgerufen am 15. Juli 2021]).
  5. Ökonom Heiner Flassbeck - "Das Steuersystem muss völlig neu justiert werden". In: Deutschlandfunk Kultur. Deutschlandradio, abgerufen am 19. März 2020 (deutsch).
  6. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD vom 11. November 2005, S. 68 auf bundesregierung.de
  7. Steueränderungsgesetz 2007. In: Bundesgesetzblatt, Jg. 2006, Teil I, Nr. 35, vom 24. Juli 2006
  8. Antwort auf Kleine Anfrage (PDF; 161 kB) Drucksache 17/691, 10. Februar 2010
  9. Lebenslagen in Deutschland – Fünfter Armuts- und Reichtumsbericht. In: Deutscher Bundestag (Hrsg.): Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Drucksache 18/11980. Bundesanzeiger Verlag GmbH, Berlin 2017 (bundestag.de [PDF] Die genutzten SOEP-Daten bieten keine Zahlen für 2009 (wie Daten des wissenschaftl. Dienstes), sondern nur 2010.).
  10. Statistisches Bundesamt Deutschland - GENESIS-Online. 8. Dezember 2020, abgerufen am 8. Dezember 2020 (81.751.602 x 0,02 = 1.635.032).
  11. bundestag.de (PDF)
  12. Bundesregierung: Antwort der Bundesregierung auf Kleine Anfrage - Drucksache 19/8837. Hrsg.: Deutscher Bundestag. Berlin 29. März 2019 (bundestag.de [PDF]).
  13. Statistisches Bundesamt Deutschland - GENESIS-Online. 5. November 2022, abgerufen am 5. November 2022 (0,386 = 163.000 * 100 / 42.176.553).
  14. Steuerpflichtige mit Höchststeuersatz. In: Armuts- und Reichtumsbericht. Bundesministerium für Arbeit und Soziales, abgerufen am 2. Juni 2020.
  15. Merz mosert über Merkel. (Memento des Originals vom 26. September 2007 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. ZDF, 13. November 2005.
  16. Wolfgang Otto: Kommentar Reichensteuer: Symbol-Politik, die keinem hilft In: Tagesschau vom 2. Mai 2006.
  17. Wirtschaftsweise warnen. n-tv, 13. November 2005.
  18. Verfassungskonformität der Reichensteuer allgemein bezweifelt. In: FAZ.net, 3. Mai 2006.
  19. Verfassungsklage gegen Reichensteuer? (Memento des Originals vom 20. Oktober 2007 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. heute.de, 7. Mai 2006.
  20. Reichensteuer bringt weniger Geld als erhofft. In: Süddeutsche Zeitung, 7. Mai 2006.
  21. Ran an die Reichen. In: FAZ.net, 7. November 2005.
  22. Die Reichensteuer ist lächerlich, Volltext.
  23. Reichensteuer trifft die Falschen. (Memento des Originals vom 29. September 2007 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. In: Financial Times Deutschland, 21. September 2006.
  24. Armin Schäfer: Die Reform des Sozialstaats und das deutsche Parteiensystem: Abschied von den Volksparteien? In: Zeitschrift für Parlamentsfragen. Band 38, Nr. 3, 2007, ISSN 0340-1758, S. 648–666.
  25. Aktion 50 plus. (Memento vom 20. Oktober 2007 im Internet Archive) orf.at
  26. Grasser: Keine „Reichensteuer“ in Österreich. (Memento vom 18. Mai 2006 im Internet Archive) oe1.orf.at
  27. Nationalversammlung stimmt für Reichensteuer nzz.ch
  28. Frankreichs Verfassungsrat stoppt Reichensteuer. Süddeutsche Zeitung, 29. Dezember 2012
  29. Unternehmer fliehen aus Frankreich. Spiegel Online, 29. Dezember 2012
  30. Reichensteuer „kostete“ Frankreich bis zu 70 Mrd. Euro. Die Presse, 9. April 2013
  31. Die Reichensteuer ist passé. FAZ.net, 1. Januar 2015 (Sie sorgte für viel Aufruhr, brachte aber nur kümmerliche Einnahmen)
  32. Aufregung um Reichensteuer-Anregung, „Das ist ein analytischer Bericht“. orf.at, 26. Oktober 2013
  33. Fiscal Monitor, Taxing Times. International Monetary Fund, 2013-10
  34. „Rein theoretisches Gedankenspiel“. IWF distanziert sich von Zwangsabgabe für Sparer Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. November 2013
  35. Stefan Bach: Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland | APuZ. Abgerufen am 25. Juni 2020.
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