Neutronenstrahlung ist eine ionisierende Teilchenstrahlung, die aus freien Neutronen (mit u. U. verschiedenen kinetischen Energien) besteht.
Da Neutronen elektrisch neutral sind, haben die Ladungen von Atomkernen und Elektronen auf ihre Bewegung keinen Einfluss. Neutronenstrahlung durchdringt Materie deshalb relativ leicht. Der ionisierende Effekt entsteht indirekt, meist durch Anstoßen leichter Atomkerne bzw. deren Bestandteile (z. B. Protonen), die dann ihrerseits ionisierend wirken. Durch derartige Stöße geben die Neutronen Energie ab und werden langsamer. Eine Substanz, die besonders geeignet ist, Neutronen zu verlangsamen, nennt man Neutronenmoderator. In der Kerntechnik wird der Begriff üblicherweise auf jene Isotope begrenzt, welche zusätzlich zu ihrer Eigenschaft als Moderator nur wenige Neutronen absorbieren.
Die Hauptwirkung von langsamen, vor allem thermischen Neutronen beruht auf ihrer Fähigkeit, sich an Atomkerne anzulagern (Neutroneneinfang). Dabei bildet sich ein Isotop des einfangenden Atoms mit einer um 1 erhöhten Massenzahl. Viele dieser so entstandenen Isotope sind radioaktiv, so dass noch sehr lange nach einer Neutronenbestrahlung (je nach Halbwertszeit des Isotops) durch den Zerfall ionisierende Strahlung auftreten kann. Umgekehrt können radioaktive Isotope durch Einfang eines Neutrons in stabile Isotope umgewandelt werden und langlebige radioaktive Isotope in kurzlebige oder umgekehrt.
Der Einfang eines Neutrons ist üblicherweise ein exothermer Prozess. Die dabei frei werdende Energie äußert sich zunächst in der Versetzung des neu gebildeten Kerns in einen angeregten Zustand. Üblicherweise wird diese Energie in Folge durch ein Gamma-Quant wieder abgegeben. Bei einigen wenigen Kernen (zum Beispiel 235U) ist der angeregte Zustand derartig instabil, dass es zu einer weiteren Kernreaktion kommen kann (im Falle von 235U bei circa 84 % der Einfänge thermischer Neutronen), bei der noch bedeutend größere Mengen Energie freigesetzt werden können. Im Falle von 235U ist diese Reaktion die Kernspaltung, welche ihrerseits wieder Neutronen freisetzt und damit eine Kettenreaktion bilden kann.
Der freie Zustand des Neutrons endet nach kürzester Zeit immer mit einem Neutroneneinfang oder einer anderen Kernreaktion. Nur im Hochvakuum hat ein freies Neutron eine „Chance“, seinen radioaktiven Zerfall zu „erleben“.
Quellen
Die kosmische Strahlung setzt in der Atmosphäre oder am Boden durch Wechselwirkung mit Molekülen natürliche Neutronenstrahlung frei. Durch natürlichen Zerfall von Atomkernen entsteht Neutronenstrahlung selten; man stellt sie künstlich mit Hilfe von Neutronenquellen her. Spontanspaltung ist eine seltene Zerfallsart in Uran und Thorium, kommt jedoch in Californium-252 häufiger vor. Hierbei werden Neutronen freigesetzt, weswegen Californium als „handliche“ Neutronenquelle beliebt ist. Im Kernreaktor werden bei der Kernspaltung Neutronen freigesetzt, ebenso bei einigen Formen der Kernfusion.
Die Freisetzung von Neutronen in der Kernfusion ist einerseits ein gerne genutzter Effekt bei Geräten wie dem Fusor, welcher mehr nutzbare Energie verbraucht als er erzeugt aber als kleine Neutronenquelle dient, andererseits ein unerwünschter Nebeneffekt bei Versuchen, die Kernfusion kommerziell zu nutzen. „Aneutronische“ (= keine Neutronen freisetzende) Reaktionswege der Kernfusion existieren zwar, erfordern jedoch zumeist noch höhere Teilchengeschwindigkeiten als solche Fusionsprozesse, die Neutronen freisetzen. Die bei der Fusion frei werdenden Neutronen dienen bei allen Konzepten eines Kernfusionsreaktors der Abführung der Nutzwärme und werden bei der Deuterium-Tritium Fusion benötigt, um im Blanket das für die Fusion benötigte Tritium aus Lithium zu erbrüten.
Beim Teller-Ulam-Design thermonuklearer Sprengköpfe werden Neutronen, welche aus der Fusion der Bestandteile der zweiten Stufe entstehen, dazu verwendet, 238U zu spalten. 238U kann nur durch hinreichend schnelle Neutronen zuverlässig gespalten werden – Kernspaltung liefert nicht ausreichend Neutronen dieser Geschwindigkeit, Kernfusion kann sie liefern. Dadurch erhöht sich die Sprengleistung nochmals erheblich durch den Einsatz eines billig verfügbaren Materials, der Fallout nimmt jedoch ebenfalls – gegenüber einer „sauberen“ thermonuklearen Bombe mit möglichst hohem Fusionsanteil – erheblich zu.
Historisch bedeutend und noch immer im Labormaßstab angewandt werden sogenannte (α,n)-Quellen. Hierbei treffen Alphateilchen auf ein geeignetes Material – heute zumeist Beryllium – und setzen dabei in einer Kernreaktion ein Neutron frei. James Chadwick wies die Existenz des Neutrons durch Ergründung der Reaktion 9Be(α,n)12C nach. Chadwick nutzte als Quelle der Alphastrahlung Radium. Radium wird jedoch heute kaum noch verwendet, da es kaum noch produziert wird, weil die Extraktion aus Uranerz bei einem Gehalt von nur ca. 300 Milligramm Radium pro Tonne Uran enorm aufwendig ist. Stattdessen werden Alphastrahler aus Kernreaktoren wie Polonium-210 verwendet, welche preiswerter verfügbar sind.
Eine weitere starke Quelle sind Neutronenbomben. Sie kann mit Hilfe von Neutronenstrahlung Personen im Zielgebiet töten, aber Gebäude und Infrastruktur relativ unbeschädigt lassen.
Für Forschungszwecke werden teilweise auch Neutronenflussdichten benötigt, die durch Kernspaltung kaum erzielbar sind. Der Forschungsreaktor München II ist die stärkste kernspaltungsbasierte Neutronenquelle der Welt und mit einer Nennleistung von 20 Megawattthermisch schon weit vom Ideal des Nullleistungsreaktors entfernt. Höhere Neutronenflussdichten, wie sie an der European Spallation Source in Lund erzielt werden, werden daher durch eine andere Technologie erzeugt. Die Lösung lautet Spallation. Enorm hochenergetische Protonen werden mittels Teilchenbeschleuniger auf ein Target gefeuert, wodurch große Mengen Neutronen frei werden, welche dann der Forschung zur Verfügung stehen. Zwar ist die endotherme Reaktion enorm energieintensiv (~20–50 MeV pro nutzbares Neutron), jedoch sind den erreichbaren Mengen und Flussdichten quasi keine Grenzen gesetzt.
Nutzung
In der Materialforschung werden Neutronenstrahlen eingesetzt, um die atomare oder molekulare Struktur von Festkörpern zu bestimmen (Neutronenstreuung). Zur Überwachung der Unterkritikalität eines Kernreaktors kann die Neutronenstrahlung z. B. einer Radium-Beryllium-Neutronenquelle verwendet werden. Bei der Strahlentherapie wurde versucht, Krebszellen mit Neutronenstrahlen abzutöten; wegen der Nebenwirkungen im gesunden Gewebe wird dies nur noch selten angewandt.
Siehe auch: Forschung mit Neutronen
Schädliche Wirkung auf Lebewesen
Die wichtigste Schadwirkung schneller Neutronen in lebendem Gewebe ist die elastische Streuung an Wasserstoff. Sie erzeugt Rückstoßprotonen, die ihrerseits stark ionisierend und damit im Gewebe schädlich wirken. Eine indirekte Schädigung durch thermische Neutronenstrahlung kommt durch die Gammastrahlung zustande, die beim Einfang des Neutrons an Wasserstoff entsteht: 1H + n → 2H + 2,2 MeV.
Die Schädlichkeit von Neutronenstrahlung wird durch die hohen Strahlungswichtungsfaktoren der deutschen Strahlenschutzverordnung mit Werten von 5 bis 20 berücksichtigt.
Schnelle wie auch thermische Neutronenstrahlung kann stabile Atomkerne durch Kernreaktionen in radioaktive Atomkerne umwandeln – dies ist die sogenannte Aktivierung.
Schädliche Wirkung auf strukturelle Werkstoffe
Neutronenstrahlung hat im Allgemeinen einen negativen Einfluss auf strukturelle Materialien wie Stahl (siehe Strahlenschaden). Neutronen erzeugen durch Streuung an Atomkernen Defekte im Kristallgitter, die meist zur Versprödung des Materials führen. Auch die Aktivierung und die damit verbundene Umwandlung von Legierungsbestandteilen können sich (meist negativ) auf die Materialeigenschaften auswirken. Diese Prozesse treten besonders an Orten mit sehr hoher Neutronenfluenz auf wie etwa Reaktordruckbehältern, deren Einbauten und den Brennstabhüllen. In Fusionsreaktoren treten ähnlich große Neutronenfluenzen auf, wobei hier auch noch die Energie der Neutronen besonders hoch ist. Daher ist die Werkstoffentwicklung für künftige Fusionskraftwerke eine große Herausforderung.
Abschirmung
Eine Abschirmung gegen Neutronenstrahlung nutzt meist eine Kombination physikalischer Effekte und ist aus mehreren Materialien in Schichten aufgebaut. Ein Moderator, zum Beispiel Wasser, Paraffin, Graphit oder Kunststoff, bremst schnelle freie Neutronen ab. Thermische Neutronen werden beispielsweise von Cadmium oder Bor absorbiert. Die begleitende Gammastrahlung wird insbesondere durch entsprechend starke Beton-, Stahl- und Bleischichten reduziert.
Weblinks
- Das „Glossar Strahlenschutz“ des Forschungszentrums Jülich erläutert viele Begriffe rund um ionisierende Strahlen (Alpha-, Beta-, Gammastrahlung, Regelwerke, Strahlenschutz etc.)
Einzelnachweise
- ↑ name=ITER the ITER International Team: Materials Challenges for ITER. (PDF) Abgerufen am 18. August 2016.