Ottenton nennt man eine Gruppe von sechs Sangspruchstrophen Walthers von der Vogelweide, eines der bekanntesten deutschen Dichter des Mittelalters (in der Ausgabe von Lachmann 11,30ff.). Drei dieser Strophen begrüßen Kaiser Otto IV., der auf dem Reichstag zu Frankfurt 1212 erschien, und sind daher exakt datierbar. Sie sind formal aufeinander abgestimmt, indem alle drei mit der Anrede Hêr keiser beginnen. Die anderen drei enthalten vehemente Angriffe gegen den Papst, die diesem vorwerfen, seine Meinung willkürlich zu ändern. Das ist darauf zu beziehen, dass Papst Innozenz III. 1209 den Welfen Otto zum Kaiser gekrönt hatte, aber schon 1211/1212 dem jungen Staufer Friedrich II. den Vorzug gab. Auch diese drei Strophen verfasste Walther also für Otto.
Im ersten Spruch begrüßt Walther Otto IV. als neuen Kaiser und weist darauf hin, dass die Reichsfürsten ihm loyal gesinnt sind. Im zweiten Spruch fordert er Otto auf, einen Kreuzzug zu unternehmen. Doch, das betont der dritte Spruch, müsse der Kaiser zuerst die Ordnung in Deutschland und dann in den anderen Reichsteilen herstellen. Walther formuliert das als Forderungen an Otto; tatsächlich kam das Otto sehr gelegen und war genau das, was er ohnehin wollte: die Forderung des Papstes, sofort einen Kreuzzug zu unternehmen, hinauszuschieben, bis die Ordnung im Reich wiederhergestellt wäre. Walther macht also geschickt Propaganda für Otto, indem er das, was Otto zu tun wünscht, als Forderung des Reiches an Otto formuliert. Aber auch die Interessen der Fürsten werden vertreten: Walther weist darauf hin, dass sie zu Otto loyal sind, was nicht selbstverständlich war und auch heute von manchen Forschern bezweifelt wird. Besonders den Meißner wollen manche als ‚gefallenen Engel‘ sehen.
Text der drei 'Herr Kaiser'-Strophen
Hêr keiser, sît ir willekomen! |
Herr Kaiser, seid willkommen! |
iu ‚euch‘. – benomen ‚weggenommen‘. – schînen ‚scheinen; glänzen; strahlen‘. – krefte Genitiv Sing. von kraft ‚Kraft; Macht; Herrschaft‘. – guot ‚Gut; Besitz; Reichtum‘. – mac ‚kann‘. – beidiu … unde ‚sowohl … als auch‘. – mære ‚Bericht; Nachricht‘. – zuht ‚Zucht; Anstand; gutes Benehmen‘. – beiten ‚warten‘. – ie ‚je; jemals‘; ‚und jemals‘ = ‚ganz besonders‘. – derst = der ist. – âne ‚ohne‘. – wân ‚ungewisse Vermutung‘. – ê ‚eher; früher; leichter‘.
Hêr keiser, ich bin frônebote |
Herr Kaiser, ich bin Bote des Herrn |
frô ‚Herr, Herrgott‘. – voget ‚Gerichtsherr; Schützer; Herrscher‘. – brogen ‚sich erheben‘. – laster ‚Schande‘. – pflihten zu jemandem ‚sich mit jemandem verbünden‘.
Hêr keiser, swenne ir Tiuschen fride |
Herr Kaiser, wenn Ihr in Deutschland |
wide ‚aus Weidenruten geflochtener Strang‘, der als Galgenstrick benutzt wurde; daher ‚beim Strang‘ = ‚bei Todesstrafe‘. – êre bieten ‚Ehre bieten‘ hier ‚huldigen‘. – zunge ‚Zunge; Sprache‘: im Reichsgericht war für die deutschen Teile des Imperiums Deutsch, für die beiden anderen Reichsteile Französisch bzw. Italienisch Gerichtssprache. – ân = âne ‚ohne‘. – tiuren ‚teuer, wertvoll machen‘. – müejen ‚Mühe bereiten‘. – ellen ‚Kraft‘. – wan in Ausrufen ‚wenn doch‘. – woltens = wolten si. – milte ‚Freigebigkeit‘ (besondere Fürstentugend).
Literatur
- Ausgaben
- Walther von der Vogelweide: Leich, Lieder, Sangsprüche. Hrsg. von Christoph Cormeau. – 14., völlig neu bearb. Aufl. d. Ausg. Karl Lachmanns, mit Beitr. von Thomas Bein u. Horst Brunner. de Gruyter, Berlin [u. a.] 1996, ISBN 3-11-013608-2. Die eindeutige Referenzierung der Gedichte Walthers erfolgt durch Verweis auf Seite und Zeile in der Erstausgabe dieses Werkes (z. B. ‚Lachmann 11,30‘ meint das Gedicht, das in der Erstausgabe auf S. 11, Zeile 30 begann). Neuausgaben, mit natürlich anderer Seitenzählung, führen diese Verweiszahlen meist am Rand an. (Maßgebliche rezente Textausgabe)
- Forschungsliteratur
- Arthur Hatto: Die ottonischen Gedichte Walthers von der Vogelweide. In: Walther von der Vogelweide. Hrsg. Siegfried Beyschlag. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1971.
- Hermann Reichert: Walther von der Vogelweide für Anfänger. 3., überarbeitete Auflage. facultas.wuv, Wien 2009, S. 164ff. ISBN 978-3-7089-0548-8.