Der Reichston ist eine berühmte Strophenmelodie, also ein Ton, im Repertoire des mittelhochdeutschen Spruchdichters Walther von der Vogelweide. Die drei politischen Spruchstrophen, die Walther zwischen 1198 und 1201 (zum Teil vielleicht auch später) in diesem Ton verfasste, die sogenannten Reichssprüche, werden deshalb verkürzt ebenfalls als Reichston bezeichnet.
Aufbau und Beschreibung
Die drei Strophen im Reichston sind vor allem unter ihrer jeweiligen Anfangszeile ein Begriff:
- Ich saz ûf eime steine (‚Ich saß auf einem Steine‘ – Reichsklage; L. 8,4)
- Ich hôrte diu (oder: ein) wazzer diezen (‚Ich hörte die [oder: ‚ein‘] Wasser rauschen‘ – Weltklage; L. 8,28)
- Ich sach mit mînen ougen (‚Ich sah mit meinen Augen‘ – Kirchenklage; L. 9,16)
Die Reichston-Strophen sind politische Äußerungen zu dem um 1200 tobenden Streit um die Thronfolge zwischen dem Staufer Philipp von Schwaben und dem Welfen Otto IV. Sie beziehen Stellung für Philipp und gegen päpstliche Interventionen. Sie bilden jedoch kein zusammenhängendes „Lied“, sondern eine lockere Strophen- oder Versreihe, die durch inhaltliche Bezüge zusammengehalten wird, und sind wahrscheinlich nicht gleichzeitig entstanden.
Der bekannte erste Spruch, Ich saz ûf eime steine, bringt eine allgemeine Klage über die Rechtsunsicherheit der Zeit, die nur durch ein starkes Königtum gebessert werden könnte, und ist daher nicht exakt datierbar. Diese allgemeine Aussage kann auch abschließend zu den beiden Sprüchen mit konkreten aktuellen Themen hinzugedichtet worden sein. Gut datierbar ist nur der zweite Spruch, Ich hôrte diu wazzer diezen, da er 1198 (und zwar noch vor der Krönung Philipps am 8. September), entstanden sein muss. Der dritte Spruch, Ich sach mit mînen ougen, entstand wohl anlässlich von Philipps Bannung im Jahr 1201. Diskutiert wird, welche Monarchen mit den „zwei betrogenen Königen“ in Ich sach mit mînen ougen gemeint sind:
- Die vorherrschende Lehrmeinung geht davon aus, dass Walther hier Philipp von Schwaben und Otto IV. meinte.
- Andere gehen von Philipp als dem deutschen König und dem jungen Friedrich als König von Sizilien aus, die beide durch die Stellungnahme des Papstes für Otto IV. betrogen worden seien, welchen Walther – so die Vertreter dieser Auffassung – zu Lebzeiten Philipps nicht als König anerkannt habe.
- Nach einer dritten Auffassung soll der Spruch zehn Jahre später entstanden sein, und die beiden „betrogenen Könige“ wären demnach Otto IV. und Friedrich II. Papst Innozenz III. hatte, nach Philipps Tod (1208) Otto im Jahre 1209 zum Kaiser gekrönt, seine Meinung aber schon 1211 geändert und stattdessen für Friedrich Stellung bezogen. Diese Deutung ist die am wenigsten wahrscheinliche, da die Charakterisierung des Papstes als „zu jung“ doch nur bald nach seinem Amtsantritt (1198) Sinn ergibt.
Die Autorenbilder Walthers im Codex Manesse und in der Kleinen Heidelberger Liederhandschrift nehmen Bezug auf den Eingang des sogenannten ‚ersten‘ Spruches (Ich saz ûf eime steine).
Erster Spruch (Reichsklage)
Ich saz ûf eime steine |
Ich saß auf einem Steine |
Anmerkungen: dahte Präteritum von decken. – ‚ich deckte Bein mit Bein‘ = ‚ich schlug ein Bein über das andere‘. – dâhte Präteritum von denken. – satzte Präteritum von setzen. – ange ‚eng, mit ängstlicher Sorgfalt‘. – dehein ‚irgendein‘, hier aber ‚kein‘. – der deheines niht ‚deren irgendeines nicht‘ = ‚deren keines jemals‘. – varndiu guot ‚bewegliche (wörtlich: ‚fahrende‘) Güter‘. – übergulde ‚was mehr gilt (wert ist)‘. – mac ‚kann‘. – des en-mac niht sîn ‚das kann nicht sein‘ = ‚das ist unmöglich‘. – sâze ‚Hinterhalt‘. – vert ‚fährt‘ = ‚zieht dahin‘. – diu zwei enwerden gesunt ‚wenn die zwei nicht gesund würden‘ (Konjunktiv). Die Saße (auch Sasse) ist ein natürliches Weghindernis, abgelegen zwischen den Dörfern in Wald oder Wiesen, eine Wegverengung in einer Mulde oft mit einer Pfütze in der die Wagenräder der Reisenden gerne im Schlamm versackten, insbesondere wenn es gerade geregnet hatte. Daher nutzten insbesondere Diebe diese Sassen um die Handelsreisenden zu überfallen.
Für diesen Spruch dient hier die Handschrift A (Kleine Heidelberger Liederhandschrift) als Leithandschrift. Cormeau - Bein wählen B. Reichert druckt die Fassungsabweichungen in derselben Zeile wie den Text, damit man sie sofort sieht (in Apparaten am Seitenende werden sie leicht übersehen). Dass dieser Spruch als Erster Reichsspruch bezeichnet wird, hängt mit seiner Bekanntheit zusammen und damit, dass er die Vorlage für das Bild Walthers in den Handschriften abgab; es bedeutet aber nicht, dass Walther ihn als ersten gedichtet haben muss. Er könnte auch abschließend, als letzter, entstanden sein.
Zweiter Spruch (Weltklage)
Ich hôrte diu wazzer diezen |
Ich hörte die Wasser rauschen |
Anmerkungen: diezen ‚lärmen‘. – vliezen ‚fließen‘, auch: ‚schwimmen‘. – kiesen ‚wählen‘. – gewürme ‚Gewürm, Schlangen, Drachen‘. – ‚König der Mücke‘: der Adler als König aller fliegenden Tiere. – tiuschiu zunge: Rechtsterminus, der die Gebiete bezeichnet, in denen auf den Reichstagen die deutsche Sprache Gerichtssprache ist, also: ‚die Teile des Imperiums mit deutscher Gerichtssprache, Deutschland (im Gegensatz zu den italienischen und französischen Reichsteilen)‘.
Keine der gängigen Ausgaben folgt bei diesem Spruch einer Leithandschrift, sondern man wägt von Fall zu Fall zwischen A (Kleine Heidelberger Liederhandschrift) und BC ab: B (Weingartner Liederhandschrift) und C (Große Heidelberger Liederhandschrift) bieten in den Reichssprüchen einen sehr ähnlichen Text, stammen also aus einer gemeinsamen Vorlage. Hier sind mehr BC-Lesarten gewählt als die auf Carl von Kraus zurückgehenden Ausgaben. Die wichtigste BC-Lesart ist im ersten Vers diu wazzer statt ein wazzer (A): dem Charakter des universalen Anspruches, alle Reiche der Natur zu kennen, wird sie besser gerecht. In B und C ist dieser Spruch als dritter eingereiht.
Dritter Spruch (Kirchenklage)
Ich sach mit mînen ougen |
Ich sah mit eigenen Augen |
Anmerkungen: tougen ‚heimlich‘. – leiten = legeten.
Dieser Spruch wird nach den Handschriften BC mit geringfügigen Korrekturen nach A ediert.
Literatur
- Ausgaben
- Walther von der Vogelweide: Sämtliche Lieder. Hrsg. von Friedrich Maurer. Sechste unveränderte Auflage. Wilhelm Fink Verlag, München 1995, ISBN 3-7705-0797-5 (= UTB 176, ISBN 3-8252-0167-8).
- Günther Schweikle: Walther von der Vogelweide. Werke. Zwei Bände. Reclam, Stuttgart 1998. Bd. 1: ISBN 3-15-000819-0; Bd. 2: ISBN 3-15-000820-4.
- Forschungsliteratur
- Thomas Bein: Walther von der Vogelweide. Reclam, Stuttgart 1997, ISBN 3-15-017601-8.
- Richard Kienast: Walthers von der Vogelweide ältester Spruch im ‚Reichston‘: ‚Ich hôrte ein wazzer diezen‘. In: Siegfried Beyschlag (Hrsg.): Walther von der Vogelweide (= Wege der Forschung, Bd. 112). Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1971, ISBN 3-534-03503-8.
- Eric Marzo-Wilhelm: Walther von der Vogelweide. Zwischen Poesie und Propaganda. Untersuchungen zur Autoritätsproblematik und zu Legitimationsstrategien eines mittelalterlichen Sangspruchdichters (= Regensburger Beiträge zur deutschen Sprach- und Literaturwissenschaft, Reihe B, Untersuchungen, Bd. 70). Frankfurt am Main 1998.
- Helmut Lomnitzer, Hans-Dieter Mück: Walther von der Vogelweide. Die gesamte Überlieferung der Texte und Melodien (Litterae, Bd. 7). Göppingen 1977, ISBN 3-87452-136-2.
- Hermann Reichert: Walther von der Vogelweide für Anfänger Dritte, überarbeitete Auflage. facultas.wuv, Wien 2009, ISBN 978-3-7089-0548-8.
- Jens Burkert: Walthers von der Vogelweide „Reichston“. Eine kritische Aufarbeitung der altgermanistischen und historischen Forschungsgeschichte (= Walther-Studien, Bd. 8). Lang, Frankfurt am Main 2015. Zugleich Diss. RWTH Aachen 2015.
Einzelnachweise
Weblinks
- „Ich saz ûf eime steine...“, gesungen von Hans Hegner
- Englische Versübersetzungen ausgewählter Walther-Lieder einschließlich „Ich saz ûf eime steine...“