Der russische Adel (russisch дворянство/dworjanstwo) hatte recht unterschiedliche Wurzeln: Neben dynastischen Geschlechtern, Nachkommen des Rurik, des Gediminas und uralter kaukasischer Fürstengeschlechter, standen Nachfahren von russischen und anderen Aufsteigern aus dem Volke: eine internationale Gesellschaft aus Angehörigen der eingegliederten Völker und Einwanderern verschiedener Nationalitäten.

Die Bojaren

In alter Zeit galten in Russland die Bojaren als Adel, deren Titel aber nicht vererblich waren und die auch keinen festen Grundbesitz hatten. Sie durften einen Beirat des Fürsten wählen, die Bojarenduma, und bildeten eine stehende Leibwache des Großfürsten. Bereits im 14. Jahrhundert wurden dem Adel Güter zur Nutzung überlassen – also nicht zu Eigentum, denn dieses blieb beim Großfürsten. Im 15. Jahrhundert, nachdem der Großfürst von Moskau den Titel „Selbstherrscher aller Reußen“ angenommen hatte, wurden die Bojaren und die entthronten Nachkommen des Rurik aus den kleineren Fürstentümern zu einem Dienstadel, der verpflichtet war, dem Zaren als Beamte oder Offiziere zu dienen. Im Jahre 1649 wurde die Position des Adels durch gesetzliche Verankerung der Leibeigenschaft der Bauern konsolidiert. Nach der Volkszählung von 1678 befanden sich 507.000 Bauernhöfe (85 % der Gesamtzahl) in den Händen des Adels. Am Ende dieses Jahrhunderts schuf man auch die ersten Adelsmatrikeln (Barchatnaja kniga). Der Adel wurde in Kategorien eingeteilt: Die höchste war die des Moskauer Adels, die niedrigste die des Stadtadels.

Rangtafel des Adels

Die Stellung des Adels wurde durch den Ukas des Zaren Peter I. vom 24. Januar 1722 geregelt, der eine Rangtabelle (Rangtafel) der Staatsdienerklassen schuf. Peter I. führte auch die in Russland zuvor unbekannten Grafen- und Baronswürden ein (es existierte bis dahin nur der Fürstenrang – Knjas). Es gab von nun an (ähnlich wie in Großbritannien) den persönlichen und den erblichen Adel (Litschnoje Dworjanstwo/Potomstwennoje Dworjanstwo). Schon der erste Offiziersrang im Heer und der Marine gab den persönlichen Adel, der Rang eines Obersten oder Kapitäns den erblichen Adel. Auch die Verleihung gewisser Orden gab den erblichen Adel: des Großkreuzes aller Orden und des Ordens des Heiligen Wladimir sowie des Sankt-Georg-Ordens aller Klassen. Nach 25 Jahren unbescholtenen Dienstes erhielten die Beamten den Wladimirorden 4. Klasse mit der Inschrift 25 let und damit den erblichen Adel.

Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurden die Rechte und Privilegien des Adels erheblich erweitert. Im Jahre 1726 begrenzte man die obligatorische Dienstpflicht des Adels im Beamtentum oder der Armee auf 25 Jahre, 1762 wurde der Adel von dieser Dienstpflicht völlig entbunden und von bloßen Nutznießern zu Eigentümern der Güter erklärt. 1785 erhielt der Adel unter Katharina II. sehr weitgehendes Verfügungsrecht über die ihm leibeigenen Bauern. Deren Arbeitskraft (wenn auch formal nicht der Mensch an sich) durfte nicht nur verliehen, sondern auch verkauft werden, sodass Leibeigene beliebig nach Sibirien, in die Ukraine oder ins Baltikum oder anderswohin zum Arbeiten verschickt oder auch zu Soldaten gemacht wurden, sei es unter dem Kommando ihres eigenen Herrn oder eines anderen. Das wurde erst unter Zar Alexander II. durch Gesetz vom 19. Februar/3. März 1861 über die Abschaffung der Leibeigenschaft geändert.

In der russischen Armee gehörten etwa 50 % der Offiziere dem erblichen Adel an, während die übrigen den persönlichen Adel hatten, der schon durch das Offizierspatent erworben wurde. In den drei elitären Leibgarde-Regimentern (Preobraschenski, Semjonowski und Ismailowski) dienten nur Abkömmlinge des alten betitelten Adels.

Adelstitel in Russland

Die Adelstitel in Russland gestalteten sich seit Peter I. ähnlich wie im übrigen Europa: Fürst, Graf, Baron und unbetitelter Adel. Die fürstlichen Familien waren entweder dynastischen Ursprungs oder stammten von den höchsten Staatsmännern und Heerführern ab. Gräfliche Häuser waren entweder Nachkommen von Bojaren oder auch deutsche Adlige (Deutschbalten) aus den eroberten Ländern des Baltikums. Der Barontitel war unter dem älteren Adel (mit Ausnahme des baltischen Adels) nicht besonders geschätzt, da er vor allem an Bankiers und Kaufleute zum Lohne für geleistete Geldhilfe verliehen wurde. Der erste Baron der russischen Geschichte war der von Peter I. in diesen Stand erhobene Diplomat Schafirow, der aus einer jüdischen Familie stammte.

Das Ende des 19. und der Anfang des 20. Jahrhunderts waren durch den allmählichen Verlust der Landgüter durch den Adel gekennzeichnet. Dies stand im Zusammenhang mit der Aufhebung der Leibeigenschaft und dem Unvermögen des Adels, die Güter unter neuen Bedingungen zu bewirtschaften. 1877 besaß der Adel noch 80 % der Landgüter, 1905 nur noch 62 %.

Oktoberrevolution schafft Adelsstand ab

Der Adelsstand, der noch in der Februarrevolution eine aktive Rolle gespielt und viele Positionen in der Politik und Staatsverwaltung besetzt hatte (z. B. Fürst Lwow und Kerenski), wurde in der Oktoberrevolution der Bolschewiki mit Dekret vom 10. Novemberjul. / 23. November 1917greg. abgeschafft. Viele Adlige hatten jedoch einen wesentlichen Anteil am Aufbau des neuen Staates – wie Lenin selbst, Geheimdienstchef Felix Dserschinski oder die Marschälle Michail Tuchatschewski, Konstantin Rokossowskij und andere. Unzählige Adlige fielen im Bürgerkrieg nach der Oktoberrevolution – in den Verbänden der „Weißen“ gab es ganze Regimenter, die ausschließlich aus adligen Offizieren bestanden. Andere emigrierten, vor allem in die Schweiz, vorzugsweise nach Genf, wo sich rasch die russisch-orthodoxe Kirche entwickelte, nach Deutschland und Frankreich, wo sich Paris zum Zentrum der russischen Emigranten entwickelte, und Polen, von dort weiter in die USA, wo heute der Großteil der letzten Zarendynastie lebt.

Unter der bolschewistischen Herrschaft wurden viele Adlige verfolgt, inhaftiert und erschossen. Die Zarenfamilie wurde nach Jekaterinburg verbannt und dort ermordet. Den "Säuberungen" unter Stalin fielen Tausende Dissidenten, gläubige Christen, Angehörige nichtrussischer Völker, kommunistische Funktionäre und Adlige zum Opfer.

Adel seit 1991

Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurden ab 1991 die Adelsverbände und Organisationen der adligen Traditionspflege wieder erlaubt, aber als soziale Schicht existiert der russische Adel nicht mehr.

Die verschiedenen Adelsverbände vertreten hinsichtlich des Adelsrechtes und der Erbfolge der russischen Krone verschiedene Auffassungen. Einige sehen Maria Wladimirowna Romanowa als legitime Thronerbin und erkennen somit von ihr privat verliehene, traditionell mit dem Adel einhergehende Orden und Adelswürden als legitim an. Die meisten jedoch lehnen sie ab, da Maria keine unbestrittene Thronprätendentin ist und als Nicht-Monarchin das Befugnis zur Nobilitierung nicht besitzt. Weder der russische CILANE-Mitgliedsverband, die Union de la Noblesse Russe mit Sitz in Paris, welcher größtenteils aus Nachkommen der „Weißen Emigranten“ besteht, noch der Verband der Baltischen Ritterschaften, welcher die Familien des deutschbaltischen immatrikulierten Adels vereinigt, erkennen Maria oder eine andere Person als zum Thron berufen und das Recht zu adeln besitzend an.

Die Tatsache, dass sogenannte „Neuadelige“, welche oft keinerlei biografischen oder kulturellen Bezug zum traditionellen Adel haben, dafür aber oft in Verbindung mit der KPdSU oder dem KGB stehen, in manchen Adelsvereinen einen signifikanten Anteil der Mitglieder stellen, führt zu großen Konflikten innerhalb und zwischen den Adelsverbänden. Auch die Aufnahme von Nachfahren in weiblicher Linie, welche von manchen Verbänden praktiziert wird, ist umstritten. Seit 1991 hat sich ein großer Markt für gefälschte Titel und Wappen entwickelt, da der Adel rechtlich nicht anerkannt und nicht geschützt ist.

Die Zahl der noch heute blühenden Geschlechter ist nach mehr als 70 Jahren Kommunismus schwer abzuschätzen, sie müsste jedoch bei etwa 100 Millionen Einwohnern des Jahres 1917 mindestens 50–60.000 umfassen.

Literatur

  • Arthur Kleinschmidt: Russland's Geschichte und Politik dargestellt in der Geschichte des russischen hohen Adels. Verlag Kay, Kassel 1877 (Digitalisat)
  • Dr. Stahlhut: Der russische Adel. In: Familiengeschichtliche Blätter. 15. Jahrgang, 1917, Heft 4, S. 104–108.
  • Douglas Smith: Der letzte Tanz. Der Untergang der russischen Aristokratie. übersetzt von Bernd Rullkötter. Fischer, Frankfurt am Main 2014, ISBN 978-3-10-077203-9.
This article is issued from Wikipedia. The text is licensed under Creative Commons - Attribution - Sharealike. Additional terms may apply for the media files.