Das VSEPR-Modell (Abkürzung für englisch valence shell electron pair repulsion, deutsch Valenzschalen-Elektronenpaar-Abstoßung), auch EPA-Modell (Elektronenpaarabstoßungs-Modell) oder ursprünglich VEPR-Theorie (englisch valence electron pair repulsion theory), führt die räumliche Gestalt eines Moleküls auf die abstoßenden Kräfte zwischen den Elektronenpaaren der Valenzschale zurück.

Das Modell wird nach seinen Entwicklern auch Gillespie-Nyholm-Theorie genannt.

Die abgeleiteten Regeln

Aus dem VSEPR-Modell ergeben sich folgende Regeln für Moleküle des Typs AXn:

  • Die Elektronenpaare der Valenzschale des Zentralatoms (A), d. h. des Atoms im Zentrum des Moleküls, ordnen sich so an, dass der Abstand zwischen ihnen möglichst groß wird.
  • Die freien Elektronenpaare (hier mit E symbolisiert) in einem Molekül vom Typ AXnEm beanspruchen mehr Raum als die bindenden Elektronenpaare und führen somit zu einer Vergrößerung der Winkel X-A-E und einer Verkleinerung der Winkel X-A-X.
  • Einzelne freie Elektronen in Radikalen nehmen weniger Raum ein als freie Elektronenpaare.
  • Größere Elektronegativitäts­differenzen zwischen A und X vermindern damit den Raumbedarf der entsprechenden Bindung.
  • Mehrfachbindungen beanspruchen mehr Raum als Einfachbindungen, wobei der Platzbedarf mit der Bindungsordnung steigt.
Für die Bestimmung der groben Molekülstruktur werden jedoch nur die Sigma-Bindungen herangezogen, d. h., Mehrfachbindungen werden hier wie Einfachbindungen behandelt.
  • Kleinere Zentralatome bzw. größere negativ polarisierte Liganden bewirken eine starke sterische und elektronische Abstoßungskraft, die die eines freien Elektronenpaars übertreffen kann.

Vorhersagen bei freien Elektronenpaaren am Zentralatom

Wenn keine freien Elektronenpaare am Zentralatom vorhanden sind, können Molekülstrukturen recht einfach durch Abzählen der „Reste“ vorhergesagt werden.

Dennoch lässt sich auch die Betrachtung von Verbindungen mit einem oder mehreren stereochemisch aktiven, freien Elektronenpaaren näherungsweise schematisieren. Dazu werden diese – ähnlich wie Bindungspartner – als Pseudoliganden behandelt und mit dem griechischen Buchstaben „ψ“ (Psi) gekennzeichnet. So gelangt man zur Pseudostruktur des jeweiligen Moleküls.

Beispiel: Das Sauerstoffatom des Wassermoleküls, an welches zwei Wasserstoffatome kovalent gebunden sind (X = 2), weist zwei freie Elektronenpaare auf (E = 2). Daraus ergibt sich eine Anzahl von # = 2 + 2 = 4 Pseudoliganden und somit eine tetraedrische Pseudostruktur (Strukturtyp), die als ψ2-Tetraeder beschrieben werden kann. Indem nun die freien Elektronenpaare „weggedacht“ werden, bleibt die in diesem Fall gewinkelte Realstruktur (Molekülstruktur) zurück, die nur durch die Atomkerne beschrieben wird.

Ein Beispiel für ein ψ1-Tetraeder, d. h. mit nur einem freien Elektronenpaar, ist das Ammoniak-Molekül NH3.

# Molekültypena Beispiel Ψ – Struktur / Pseudostrukturb Realstrukturc Winkeld
1
AX1
H2
linear

linear
2
AX2
BeCl2
CO2

linear

linear
180°

AX1E1
CO
linear

linear
3
AX3
BF3
NO3
CO32−

trigonal planar

trigonal planar
120°

AX2E
SO2
O3
NO2

trigonal planar

gewinkelt
ca. 115°

AX1E2

trigonal planar

linear
4
AX4
CH4
SO42− PO43−
ClO4

tetraedrisch

tetraedrisch
109,5°

AX3E
NH3
PCl3

tetraedrisch

trigonal-pyramidal
ca. 107°

AX2E2
H2O
tetraedrisch

gewinkelt
ca. 104°

AX1E3
HCl
tetraedrisch

linear
5
AX5
PCl5
trigonal-bipyramidal

trigonal-bipyramidal
120° / 90°

AX4E
SF4, SCl4
trigonal-bipyramidal

"Wippe", bisphenoidal
ca. 175° / 110°

AX3E2
ClF3
trigonal-bipyramidal

T-förmig
ca. 87,5°

AX2E3
XeF2
trigonal-bipyramidal

linear
180°
6
AX6
SF6
oktaedrisch (=quadratisch-bipyramidal,
trigonal-antiprismatisch)

oktaedrisch (=quadratisch-bipyramidal,
trigonal-antiprismatisch)
90°

AX5E
ClF5
oktaedrisch (=quadratisch-bipyramidal,
trigonal-antiprismatisch)

quadratisch-pyramidal
ca. 85°

AX4E2
XeF4
oktaedrisch (=quadratisch-bipyramidal,
trigonal-antiprismatisch)

quadratisch-planar
90°
7
AX7
IF7
pentagonal-bipyramidal

pentagonal-bipyramidal
90° / 72°

AX6E
[XeOF5]
pentagonal-bipyramidal

pentagonal-pyramidal
ca. 90° / ca. 72°

AX5E2
XeF5
pentagonal-bipyramidal

pentagonal-planar
72°
8AX8IF8

tetragonal-antiprismatisch

tetragonal-antiprismatisch

78° / 73°

Anmerkungen:

a 
Keilstrichformel mit Zentralatom: A, Liganden: X und Elektronenpaar: E
b 
nicht gebundene Elektronenpaare (blass gelb) als gedachte Bindungspartner
c 
reale räumliche Anordnung der Atome
d 
Winkel zwischen Liganden und Zentralatom X–A–X


Grenzen der Anwendbarkeit

Das VSEPR-Modell lässt sich auf Moleküle anwenden, bei denen die an das Zentralatom gebundenen Reste (Atome oder Atomgruppen) nicht allzu groß werden und keine spezifischen Wechselwirkungen aufeinander ausüben.

Nicht oder nur eingeschränkt anwendbar ist sie auf Übergangsmetall­verbindungen. Vielfach stimmen jedoch auch bei einfachen Molekülen die Bindungswinkel nicht mit dem Modell überein. Für Verbindungen mit delokalisierten Elektronen kann die Anwendung des Modells ebenfalls mit Schwierigkeiten verbunden sein, hier ist die Hinzuziehung der Molekülorbitaltheorie notwendig.

Literatur

  • Reinhart Ahlrichs: Gillespie‐ und Pauling‐Modell — ein Vergleich. In: Chemie in unserer Zeit. Band 14, Nr. 1, 1980, S. 18–24, doi:10.1002/ciuz.19800140104.
  • Ronald J. Gillespie, Edward A. Robinson: Models of molecular geometry. In: Chemical Society Reviews. Band 34, Nr. 5, 2005, S. 396–407, doi:10.1039/B405359C.
  • R. J. Gillespie, I. Hargittai: The VSEPR Model of Molecular Geometry. 8. Aufl., Allyn & Bacon, Boston 1991, ISBN 978-0-205-12369-8.

Einzelnachweise

  1. A. F. Holleman, E. Wiberg, N. Wiberg: Lehrbuch der Anorganischen Chemie. 101. Auflage. Walter de Gruyter, Berlin 1995, ISBN 3-11-012641-9, S. 136.
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