Einheit der Rechtsordnung
Einheit der Rechtsordnung ist ein fachsprachlicher Ausdruck (Terminus) der Rechtswissenschaft, der die jeweilige Rechtsordnung als Einheit beschreibt, die sich nicht widerspricht, bzw. besagt, dass sie sich nicht widersprechen soll. Die Vielheit der Rechtsnormen wird also als widerspruchsfreies System betrachtet.
Laut Klaus F. und Hans Christian Röhls Allgemeiner Rechtslehre kann die Einheit der Rechtsordnung „soziologisch, normtheoretisch, als Begriffseinheit, als Wert- oder Prinzipieneinheit sowie als rechtspolitisches Postulat begründet sein.“
Auf Grund des Stufenbaus der Rechtsordnung sind alle Rechtsnormen auf eine Verfassung und/oder Grundnorm zurückführbar. Inhaltlich sich widersprechende Rechtsnormen sind in einer einheitlichen Rechtsordnung ausgeschlossen.
Normtheoretisch hat die als ideal zu geltende Einheit der Rechtsordnung die Konsequenz, dass mit jedem Rechtssatz zugleich die gesamte Rechtsordnung angewendet wird. Methodologisch bedeutet dies, dass: „Bei der Anwendung von Einzelnormen ist von der Begrenztheit und Unvollständigkeit ihrer jeweiligen Aussage auszugehen. Erst aus der ‚Zusammenschau‘ mehrerer Normen lässt sich über die Ermittlung ihres spezifischen Normzwecks der Anwendungsbereich der einzelnen Vorschrift feststellen. Eine sinnvolle Rechtsanwendung setzt die harmonisierende Interpretation der Einzelnormen voraus.“
Die Einheit der Rechtsordnung wird in einem Verfassungsstaat letztlich durch die Verfassung gewährleistet. In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) wird die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland, das Grundgesetz, als „objektive Wertordnung“ gesehen:
- „Ebenso richtig ist aber, daß das Grundgesetz, das keine wertneutrale Ordnung sein will …, in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat und daß gerade hierin eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt … Dieses Wertsystem, das seinen Mittelpunkt in der innerhalb der sozialen Gemeinschaft sich frei entfaltenden menschlichen Persönlichkeit und ihrer Würde findet, muß als verfassungsrechtliche Grundentscheidung für alle Bereiche des Rechts gelten; Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung empfangen von ihm Richtlinien und Impulse. So beeinflußt es selbstverständlich auch das bürgerliche Recht; keine bürgerlich-rechtliche Vorschrift darf in Widerspruch zu ihm stehen, jede muß in seinem Geiste ausgelegt werden.“
Das Bestehen „eines einheitlichen Wertungsplanes des Gesetzgebers“ mag vielfach eine „ideale Wunschvision“ sein, zur Not wird sie durch die verbindliche Interpretation der Verfassung durch das BVerfG hergestellt.
Die Einheit der Rechtsordnung ist ein „Gedanke“, eine „Idee“, ein „Prinzip“, ein Topos, der vielfach ins Feld geführt wird, wenn eine Ungleichbehandlung für den Betroffenen nicht nachvollziehbar ist. In älteren Entscheidungen wird dann schon im Fall bloßer Ungleichbehandlung von einem Verstoß gegen die Einheit der Rechtsordnung gesprochen, auch wenn die Ungleichbehandlung gerechtfertigt ist, das heißt, im Ergebnis gerade das Prinzip der Einheit der Rechtsordnung nicht verletzt ist.
Ob gegen das Prinzip der Einheit der Rechtsordnung verstoßen wird, bedarf im Einzelnen der näheren rechtlichen Begründung.
Einheit der Rechtsordnung bedeutet nicht, dass Gesetzesbegriffe in jedem Gesetz in gleichem Sinn verwendet werden müssen. Es gilt der allgemeine Grundsatz der Relativität der Rechtsbegriffe und die grundsätzliche Freiheit des Gesetzgebers für ein jeweiliges Gesetz, Gesetzesbegriffe zu verwenden, die von gleich oder ähnlich lautenden Gesetzesbegriffen abweichen.
Bei (wirklich) „gleicher“ Interessenlage folgt aus der Einheit der Rechtsordnung, dass die Auslegung verschiedener Gesetze auch gleich zu erfolgen hat. Auf Grund des Vorrangs des Gesichtspunktes der Einheit der Rechtsordnung haben dann auch äußerliche „rechtlich-systematische Unterschiede“ zurückzustehen.
Die Wahrung der Einheit der Rechtsordnung ist ein tragender Gesichtspunkt des Rechtsmittelsystems und der Rechtsmittelfähigkeit. „Denn die Einheit der Rechtsordnung ist im Kern bedroht, wenn gleiches Recht ungleich gesprochen wird.“ So hat die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO unter anderem den Sinn, die Einheit der Rechtsordnung zu wahren. Dies ist jedoch nur einschlägig, „wenn die klärungsbedürftige Frage mit Auswirkungen über den Einzelfall hinaus in verallgemeinerungsfähiger Form beantwortet werden kann.“ Entsprechend dient etwa auch die Vorlagepflicht nach § 45 Abs. 2 Satz 1 ArbGG, wonach die Entscheidung des Großen Senats herbeizuführen ist, wenn in einer Rechtsfrage ein Senat von einer Entscheidung eines anderen Senats abweichen will, „der Sicherung der Einheit der Rechtsordnung.“
Judikative Divergenz gefährdet die Einheit der Rechtsordnung. Z.B. verstößt das BSG mit seiner Judikatur zu Ermessensverwaltungsakten nach § 309 Abs. 2 SGB III, die die Einrichtungen der Bundesagentur für Arbeit - Jobcenter und Arbeitsagenturen - seit 30 Jahren in der Mehrheit mit universell einsetzbaren Leerformeln (Textbausteinen) begründen, gegen die Einheit der Rechtsordnung. Kutschke schätzt, dass zwischen 2007 und 2019 "über 38 Millionen Meldeaufforderungen [Ermessensverwaltungsakte nach § 309 Abs. 2 SGB III] erlassen [wurden], von denen ein erheblicher Teil mit Passepartout-Textbausteinen begründet worden sein dürfte und die somit an einem formellen Begründungsfehler litten."
Zwar wird in der Rechtswissenschaft teilweise problematisiert, inwieweit der Gesichtspunkt der Einheit der Rechtsordnung auch für das Unionsrecht gilt. Das Bundesverfassungsgericht führt den Gesichtspunkt der Einheit der Rechtsordnung hingegen mehrfach im unionsrechtlichen Zusammenhang an und spricht von der Einheit der Gemeinschaftsrechtsordnung.
Der Topos der Einheit der Rechtsordnung birgt auch die Gefahr des Missbrauchs, wenn ohne Anhalt in der Verfassung (im unionsrechtlichen Primärrecht) (oder über deren Änderung durch entsprechende Interpretation) unter Berufung auf ein Gebot der Einheit der Rechtsordnung durch die obersten Gerichte Rechtspolitik betrieben wird.