Kleinrussische Identität
Als kleinrussische Identität wird die kulturelle, politische und ethnische Selbstidentifikation derjenigen Bewohner des als Kleinrussland bezeichneten Gebietes innerhalb der heutigen Ukraine im Russischen Kaiserreich bezeichnet, die sich vormals als ein Bestandteil des dreieinigen russischen Volkes verstanden.
Die kleinrussische Identität begann sich in der Elite des Hetmanats im 17. Jahrhundert herauszubilden. Ein wichtiger Faktor war dabei der Gedanke der Gleichheit der ethnischen und sozialen Rechte und Möglichkeiten, die die kleinrussische Elite im Russischen Reich genießen kann, die ihr im Verbund Polen-Litauens verwehrt worden waren. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte entwickelte sich die kleinrussisch-gesamtrussische Identität, die von offizieller Stelle und von der russisch-orthodoxen Kirche gefördert wurde, zur dominierenden nationalen Identität auf dem Gebiet der heutigen Ukraine.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich als Gegengewicht dazu die ukrainische Idee. Charakteristische Merkmale des Ukrainertums war die Negierung der kulturellen und ethnischen Verbindungen zu Russland und die politische Orientierung nach Westen, begleitet von der Popularisierung des alternativen Ethnonyms Ukrainer anstelle des offiziellen Begriffs Kleinrussen und des volkstümlichen Russinen oder Ruthenen (русини). Diese politischen Positionen trafen auf den Widerstand derjenigen, die sich weiterhin als Kleinrussen verstanden, und der russischen öffentlichen Meinung.
Grundlegende Kräfteverschiebungen im Konflikt zwischen den beiden Identitätsvarianten wurden von den Ereignissen der Russischen Revolution 1917 ausgelöst. Sie führten zur raschen Entwicklung der ukrainischen nationalen Idee und zum Streben nach Autonomie bis hin zur völligen Loslösung von Russland. Dies war zum einen vom massiven Zustrom der politischen Aktivisten aus dem österreichischen Galizien nach Kiew begünstigt, zum anderen durch die Tatsache, dass die politisch aktiven Träger der kleinrussisch-gesamtrussischen Identität im Verlaufe des Russischen Bürgerkriegs in den Reihen der Weißen Armee vielfach gefallen waren oder emigrieren mussten. Nach dem Ende des Bürgerkrieges wurde die ukrainische Nationenbildung von der bolschewistisch-sowjetischen Führung im Rahmen der Korenisazija und der Ukrainisierung fortgesetzt. Die Begriffe Kleinrussland und Kleinrussen wurden als „ideologisch verwerflich“ verdrängt.