Lulik
Lulik (veraltet lúlic, lúlique) ist auf Timor die Bezeichnung für die Energie der Natur und wird oft auch mit „heilig“ und „verboten“ übersetzt. Der Begriff beinhaltet aber auch die dazugehörige Philosophie, Moralvorstellungen und Verhaltensregeln (Tara Bandu) für die traditionelle timoresische Gesellschaft. So kann sich Lulik auf Gegenstände, Orte, topographische Begebenheiten, Gruppen von Nahrungsmitteln oder Personen, bestimmtes Wissen, Verhaltensnormen, Bauwerke und Zeiträume beziehen. Es bietet Schutz, kann aber auch bei Fehlverhalten strafen.
Trotz der zahlreichen und linguistisch sehr unterschiedlichen Ethnien kommt dieses Konzept bei allen auf Timor heimischen Gruppen vor, ebenso wie andere gemeinsame Glaubensvorstellungen in der traditionellen Religion Timors. Die Bezeichnung kann in den Sprachen Osttimors variieren. Auf Tetum (die Lingua franca und eine Amtssprache Osttimors), Kemak und Idaté nennt man es „lulik“, auf Naueti und Mambai „luli“, auf Bunak „po“, auf Fataluku „tei“ und auf Makasae „phalun“/„falun“. Lulik hat Übereinstimmungen mit der Philosophie des Dualismus und einige Elemente und Bedeutungsinhalte ähneln dem „Tabu“ im östlichen Indonesien, Neuseeland und anderen Teilen Ozeaniens.
Als Namensteil findet sich „Lulik“ in vielen Begriffen: Uma Lulik, das heilige Haus, in dem die Reliquien und heilige Objekte (sasan lulik) aufbewahrt werden, über die der Priester (dato lulik) wacht. Im Land finden sich verschiedene heilige Berge, die foho lulik genannt werden. Sie sind heiliges Land (rai lulik), das nur ein auserwählter Kreis von Personen betreten darf. Früher wurde Lulik von der katholischen Kirche, der Kolonialmacht Portugal und der Besatzungsmacht Indonesien als „unzivilisierter Aberglaube“ abgetan und trotz seiner alltäglichen Bedeutung zu einem für Timoresen peinlichen Thema, über das zu sprechen als verpönt galt. Heute hat die Kirche allerdings die Bezeichnung „Lulik“ als Übersetzung für „heilig“ in Tetum übernommen. Obwohl fast alle Osttimoresen inzwischen katholisch sind, ist der Glaube an das Lulik und die Verehrung der Geister der Toten noch immer fest verwurzelt, auch wenn dies gerade von ausländischen Beratern als unwichtig und teilweise als rückständig und unzivilisiert angesehen wird. Die meisten Osttimoresen verstehen das Lulik-Konzept nur noch oberflächlich und auch wissenschaftlich beschäftigt man sich erst wieder damit, seit nach der Unabhängigkeit Osttimors 2002 das Interesse an den alten Glaubensvorstellungen zu wachsen begann.