Meeresdichtung
Meeresdichtung, auch marine Literatur oder See(-fahrts)literatur, bezeichnet Texte mit literarischem Anspruch, die „vom Motiv des Meeres, der Seefahrt usw. bestimmt“ sind. Das Phänomen ist international verbreitet und kann analog zum französischen Begriff „littérature maritime“ auch als „maritime Literatur“ bezeichnet werden. In der Gemeinsamen Normdatei hat sich jedoch (vergleichbar mit dem englischen „sea fiction“) der Begriff „Meeresdichtung“ durchgesetzt. Vereinzelt wird das Genre auch als „Seeliteratur“, „Meeresliteratur“ oder „Seedichtung“ bezeichnet.
Als Ursprung der Meeresdichtung wird meist die Odyssee von Homer angenommen. Vereinzelt werden auch die biblischen Erzählungen von Noach und Jona oder die mittelalterliche „wazzermaere“ als Vorläufer angegeben. Bis ins 16. Jahrhundert handelte es sich bei der Meeresdichtung hauptsächlich um Reiseberichte, die teils auch zu Propaganda-Zwecken publiziert wurden. Eine Ausnahme stellt die deutsche Moralsatire Das Narrenschiff (1494) dar, die das literarische Motiv der „Welt als Schiff“ begründete. Mit dem 17. Jahrhundert begann sich der Piratenroman als Subgenre der Meeresdichtung zu etablieren, im 18. Jahrhundert kam durch Robinson Crusoe (1719) auch die Robinsonade als weitere Untergattung hinzu. Da die Meeresdichtung nicht nur epische, sondern auch lyrische und dramatische Texte umfasst, hat sich in der Literaturwissenschaft eine Gliederung der Subgenres nach ihrer Handlung („sea romance“, „naval novel“ etc.) oder den vorherrschenden Motiven (Inseln, Seeungeheuer etc.) etabliert.
Ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird die Meeresdichtung als literarische Gattung wahrgenommen, auch wenn sie aufgrund ihrer Ähnlichkeit zum Abenteuerroman in frühen Definitionen zur Trivialliteratur gezählt und für wissenschaftlich uninteressant befunden wird. Diese abweisende Haltung gegenüber der Meeresdichtung änderte sich im 20. Jahrhundert mit der Abenteuertheorie von Michail Michailowitsch Bachtin. Darin misst Bachtin dem Abenteuer eine individuelle und gesellschaftliche Bedeutung bei, die dessen literaturwissenschaftliche Untersuchung rechtfertigt. Laut Margaret Cohen besteht das Problem jedoch in der Gleichsetzung von Meeresdichtung und Abenteuerliteratur, da die erstere nicht an die Handlungsvorgaben der letzteren gebunden ist. Dazu kommt, dass sich die Literaturwissenschaft im 21. Jahrhundert zunehmend vom traditionellen Gattungsbegriff entfernt, wie an den offenen Konzepten von Meeresdichtung als Erzähltradition sichtbar wird.