Religiosität

Religiosität bezeichnet als Fachbegriff (im deutschen Sprachraum) die aus tiefer Ehrfurcht vor der Ordnung und Vielfalt in der Welt entstehende, universale menschliche Empfindung, dass alles letzten Endes auf einer ganzheitlichen, jedoch transzendenten (nicht erklär- oder beweisbaren) Wirklichkeit beruht. Hinzu kommt die Fähigkeit oder Eigenschaft, sich im Erleben, Denken, Fühlen und Handeln auf diese Transzendenz zu beziehen, häufig verbunden mit dem inniglichen Wunsch nach Erleuchtung und immer mit der Hinwendung zu einer konkreten Religion.

Im allgemeinen Sprachgebrauch wird allein dieser Bezug auf eine bestimmte Religionslehre in Lebensführung, sozialem Miteinander und Sinnsuche mit der Verwendung des Adjektives religiös ausgedrückt, während die persönliche Erfahrbarkeit der transzendenten Wirklichkeit – auch unabhängig von religiösen Dogmen – eher als spirituell bezeichnet wird. In der englischsprachigen Literatur werden die beiden Begriffe häufig nicht unterschieden.

Religiosität entspringt dem individuellen Streben nach Sinnfindung, Welterklärung und Existenzorientierung und basiert auf der angeborenen kognitiven Fähigkeit zur Kategorisierung. Demnach könnte man sie auch verkürzt als „transzendenten Sinn“ für die „Kategorie des Numinosen“ bezeichnen. Dieser „Sinn“ gehört wie Musikalität oder Intelligenz zu den komplexen neurobiologischen Phänomenen, die zwangsläufig auch mit der Frage verbunden sind, welchen evolutionären Vorteil diese Phänomene dem Menschen brachten. Trotz der enormen Vielfalt der existierenden Religionen lassen sich universale Elemente des Religiösen finden, die in allen Kulturen identisch sind und auf die grundlegende „Fähigkeit zur Religiosität“ des Menschen zurückgeführt werden. Der Molekularbiologe Dean Hamer glaubt in diesem Zusammenhang in dem Gen VMAT2 eine angeborene Ursache für das religiöse Empfinden des Menschen gefunden zu haben. Die Stichhaltigkeit seiner Theorie ist allerdings umstritten. Der Soziologe Thomas Luckmann sieht den Ursprung jeglicher Religiosität im mentalen Phänomen der Transzendenzerfahrungen, die von Augenzeugen seit jeher als besonders eindrückliche Bewusstseinserweiterungen geschildert werden und kulturunabhängig immer den gleichen Grundmustern gleichen.

Da Religiosität immer auf eine bestimmte Religion bezogen ist, ist der Glaube (an diese Lehre) ein synonymer Begriff für Religiosität. In der Religionssoziologie wird die Bezeichnung oftmals nicht klar vom (christlichen) Glauben getrennt, und in der Theologie wird Religiosität spezifisch christlich definiert. Die „transzendente Empfindung“ kann jedoch ebenso zu anderen Weltanschauungen führen. Die Wissenschaft, die sich konkret mit der Religiosität des Menschen befasst, ist die Religionspsychologie.

Das Phänomen der Religiosität steht am Beginn der Geschichte der Religionen und in diesem Zusammenhang auch der frühesten ethischen und moralischen Fundamente menschlicher Gesellschaften. Ein religionsloses Volk ist der heutigen Religionsethnologie nicht bekannt. Alle Kulturen besitzen heilige Objekte in irgendeiner Form und unterscheiden zwischen einem sakralen (heiligen) und einem profanen (weltlichen) Bereich. Émile Durkheim vertrat die Auffassung, dass das Sakrale Ausdruck der Verehrung des kollektiven Lebens sei. Insofern hat die Religiosität auch eine wichtige soziale Komponente. Ebenfalls liefert die Geschichte zahllose Beispiele, dass die Religiosität – in diesem Sinne der Wunsch nach einer unumstößlichen göttlichen Ordnung – den Menschen für ideologisch missbrauchte Religionsauslegungen leichter zugänglich macht. Kannibalismus, Hexenverfolgung oder religiöser Fundamentalismus belegen, wie die Verantwortlichkeit der Menschen ins Numinose verlagert wird, um Taten zu rechtfertigen, die normalerweise nicht akzeptiert würden.

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