Völkerwanderung

In der historischen Forschung wird als sogenannte Völkerwanderung im engeren Sinne die Migration vor allem germanischer Gruppen in Mittel- und Südeuropa im Zeitraum vom Einbruch der Hunnen nach Europa circa 375/376 bis zum Einfall der Langobarden in Italien 568 bezeichnet. Die Völkerwanderungszeit fällt in die Spätantike und bildet für die Geschichte des nördlichen Mittelmeerraums sowie West- und Mitteleuropas ein Bindeglied zwischen der klassischen Antike und dem europäischen Frühmittelalter, da man sie beiden Epochen zurechnen kann.

Die spätantike Völkerwanderung stellt allerdings keinen einheitlichen, in sich abgeschlossenen Vorgang dar. Vielmehr spielten bei den Migrationen der zumeist heterogen zusammengesetzten Gruppen aus dem außerrömischen Barbaricum unterschiedliche Faktoren eine Rolle, wobei in der neueren historischen und archäologischen Forschung viele Aspekte der Völkerwanderung äußerst unterschiedlich bewertet werden. Zentral für die Diskussion sind dabei die Fragen, ob der Zerfall des Weströmischen Reiches Folge oder vielmehr Ursache der „Völkerwanderungen“ war und ob damals tatsächlich „Völker“ umherzogen oder vielmehr Kriegerverbände auf der Suche nach Beute und Versorgung (annona) waren. In der modernen Forschung wird der Begriff „Völkerwanderung“ zunehmend kritisch gebraucht, da nach heutiger Einschätzung das Bild von „wandernden Völkern“ nicht haltbar ist und vielen Gelehrten mittlerweile als widerlegt gilt bzw. die Vorstellung einer Völkerwanderung grundsätzlich als „Forschungsmythos“ verworfen wird.

Statt fester Völker, die von einer „Urheimat“ aus aufbrachen und sich nach einer „Wanderung“ woanders neu ansiedelten, handelte es sich dem aktuellen Forschungsstand zufolge vielmehr um heterogene Gruppen, deren Zusammensetzung fließend war (vgl. Ethnogenese) und deren Migration (aus jeweils unterschiedlichen Gründen) ein Prozess mit offenen Ausgang darstellte. Manche dieser Verbände versuchten am Reichtum des römischen Imperiums als Vertragspartner zu partizipieren (womit der römische Staat kampffähige Truppen erhielt), andere griffen zu diesem Zweck zu militärischen Mitteln und errichteten neue Herrschaftsräume auf dem Boden des Westreiches. Dies war allerdings kein von Beginn an geplanter Prozess, so entwickelten sich die meisten der neuen Herrschaftsgebiete erst im Verlauf der Auflösung des Westreichs (beschleunigt von internen römischen Machtkämpfen und begünstigt durch äußere Faktoren wie der Bedrohung durch das Hunnenreich unter Attila). Damit handelte es sich in erster Linie um eine Herrschaftsübernahme, wobei die neuen Herren oft bestrebt waren, die vorhandenen römischen Strukturen zu nutzen und die einheimische römische Elite nicht selten kooperierte (wie im Fall der Franken, Burgunden und der Ostgoten). Allerdings konnten die überlegenen römischen Verwaltungsstrukturen im weiteren Verlauf des Frühmittelalters letztlich nicht bewahrt werden. Zu den Bewegungen der Kriegerverbände trat überdies die individuelle Migration von Kleingruppen und Einzelpersonen hinzu, da die Spätantike insgesamt von hoher Mobilität geprägt war.

Hauptsächlich, aber nicht ausschließlich betroffen von den Vorgängen war die Westhälfte des seit 395 de facto geteilten Römischen Reiches. Seit 382 wurden immer öfter vertragliche Regelungen (foedera) zwischen der römischen Reichsregierung und Gruppen wie den Westgoten getroffen, die eine Ansiedlung dieser Krieger auf römischem Territorium zur Folge hatten. In den internen Konflikten, die Westrom seit 395 plagten, wurden solche Kampfverbände immer öfter eingesetzt. Auch die Franken wurden auf römischem Boden angesiedelt und übernahmen als Foederaten unter anderem Aufgaben des Grenzschutzes im Nordosten Galliens. Nach dem Rheinübergang von 406 und dem Eindringen der Vandalen und Sueben in das Westreich zeichnete sich in Gallien erstmals ein möglicher Zusammenbruch der römischen Verwaltungsordnung in Europa ab.

Westrom versank in langen Bürgerkriegen, deren Verlauf die Bewegungen der Kriegerverbände zumindest teilweise bedingte, da sie an den Kämpfen prominent beteiligt waren. Gleichzeitig verfiel die Autorität der kaiserlichen weströmischen Regierung in Ravenna zusehends, und immer mehr politische Macht ging auf – römische und germanische – Militärs über, die die heutige Forschung oft als warlords bezeichnet. Im Westen traten nun die im Vergleich zur römischen Bevölkerung verschwindend geringen germanischen Gruppen an Stelle des römischen Staates. Auf dem Boden des zerfallenen westlichen Imperiums entstanden so im 5. und 6. Jahrhundert germanisch-romanische Nachfolgereiche, die die Kultur Europas im Mittelalter entscheidend prägen sollten.

Im Zusammenhang mit diesem Prozess kam es 476/80 zum Ende des weströmischen Kaisertums, während das Oströmische Reich das 5. Jahrhundert weitgehend intakt überstand.

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