Visa-Affäre
Als Visa-Affäre werden die Missbrauchsfälle bei der Vergabe von Visa in verschiedenen deutschen Botschaften und Konsulaten im Zuge der Neufassung der Visumvergabepraxis durch die rot-grüne Regierung bezeichnet. In einem Runderlass – meist als „Volmer-“ oder „Fischer-Erlass“ bezeichnet – hatte das Auswärtige Amt im Jahr 2000 die Auslandsvertretungen angewiesen, bei der Verteilung von Visa unbürokratischer zu verfahren. Die Kernpassage des Erlasses lautete: „Nicht jeder Zweifel an der Rückkehrbereitschaft, sondern erst die hinreichende Wahrscheinlichkeit der fehlenden Rückkehrbereitschaft rechtfertigt die Ablehnung eines Besuchsvisums. Wenn sich nach pflichtgemäßer Abwägung und Gesamtwürdigung des Einzelfalls die tatsächlichen Umstände, die für und gegen eine Erteilung des Besuchsvisums sprechen, die Waage halten, gilt: in dubio pro libertate – im Zweifel für die (Reise-)freiheit.“ Der Erlass, der im Oktober 2004 von der rot-grünen Koalition selbst zurückgenommen wurde, führte insbesondere in der Deutschen Botschaft Kyjiw (Kiew) zu einem erheblichen Anstieg der Erteilung von Visa.
Auf Antrag der CDU/CSU setzte der Deutsche Bundestag Ende 2004 einen Untersuchungsausschuss ein, der klären soll, wer für die zehntausendfache Erschleichung von Visa zwischen 1999 und 2002 verantwortlich zeichnet. Während Union und FDP die Visumpolitik des Auswärtigen Amtes verantwortlich machen, verweist die rot-grüne Koalition auf das Wirken krimineller Netzwerke.
Allerdings zeigt die Rücknahme des Erlasses, dass die Bestimmungen selbst in Regierungskreisen später kritischer begutachtet wurden. Außenminister Joschka Fischer nahm bei seiner Vernehmung im Frühjahr die politische Verantwortung für die Vorgänge in den Auslandsvertretungen auf sich und gab zu, mindestens zwei Erlasse seines Ministeriums hätten den Missbrauch der Visumbestimmungen erleichtert. Einen Rücktrittsgrund sah er darin aber nicht.
Die Zeugenbefragung im Visa-Untersuchungsausschuss wurde erstmals in der Parlamentsgeschichte live im Fernsehen übertragen.
Am 2. Juni 2005 beendete die rot-grüne Mehrheit mit dem Hinweis auf Zeitmangel aus Verfahrensgründen gegen den erklärten Willen der Opposition im Ausschuss die Beweisaufnahme. Gemäß § 33 Abs. 3 Untersuchungsausschussgesetz (PUAG) muss der Ausschuss einen Sachstandsbericht erarbeiten, wenn absehbar ist, dass er seinen Untersuchungsauftrag nicht vor Ende der Wahlperiode erledigen kann. Wegen der geplanten vorgezogenen Wahl des Bundestages sei diese Situation nach Auffassung der Regierungsparteien eingetreten. CDU/CSU und FDP riefen wegen des Abbruchs der Beweisaufnahme das Bundesverfassungsgericht an, da sie sich in ihren Minderheitsrechten verletzt sahen. Der zweite Karlsruher Senat des Bundesverfassungsgerichts ordnete in einer Eilentscheidung an, dass die Zeugenvernehmung zumindest so lange weitergehen müsse, bis die Auflösung des Bundestages auch tatsächlich erfolgt sei. Mit der einstimmigen Entscheidung der Verfassungsrichter, die die Minderheitsrechte in Untersuchungsausschüssen stärkt, setzte sich die Opposition mit ihrer Rechtsauffassung durch. Innenminister Otto Schily wurde am 15. Juli 2005 im Ausschuss gehört. Die Sitzung dauerte von 9 Uhr bis kurz nach Mitternacht und begann mit einer fünf Stunden und 16 Minuten langen Eingangsrede des Innenministers, die ausführliche und grundlegende Ausführungen zum Visum- und Ausländerrecht enthielt und durch das Bundesministerium des Innern im Internet veröffentlicht wurde.