Vorkonstitutionelles Recht
Vorkonstitutionelles Recht (von lateinisch constitutio für „Verfassung“) ist im deutschen Verfassungsdiskurs dasjenige Recht, das vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland gegolten hat. Es ist weiterhin wirksam, wenn es bestimmten Kriterien entspricht. Grundsätzlich gilt es weiterhin, wenn es nicht dem Grundgesetz widerspricht, das am 24. Mai 1949 in Kraft getreten ist.
Für die Väter und Mütter des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat ging es um die Frage, unter welchen Umständen altes Recht weiterbestehen sollte: Reichsrecht, altes Landesrecht, das Recht aus der Zeit des Nationalsozialismus und das Recht aus der Besatzungszeit. Daran schloss sich die Frage an, ob bestehendes Landesrecht als Landesrecht oder als Bundesrecht weitergilt. Das Grundgesetz weist nämlich der föderalen Ebene und der Länderebene bestimmte Kompetenzen zu, und diese Zuweisung kann in früherem Recht eine andere gewesen sein.
Recht ist vorkonstitutionell im Sinne des Grundgesetzes, wenn es vor dem Zusammentritt des 1. Deutschen Bundestags entstanden ist. Der Stichtag wurde daher der 7. September 1949. Vorkonstitutionelles Recht kann nur weiterexistieren, wenn es vor dem Stichtag nicht bereits aufgehoben worden ist.
Das Grundgesetz gibt keine zeitlichen Einschränkungen für das Recht an sich mit: Auch sehr altes Landesrecht kann weiterbestehen und gilt auch unbeschränkt weiter. Es ist außerdem nicht weniger wirksam als Recht, das nach dem Stichtag entstanden ist („nachkonstitutionelles Recht“). Es fügt sich in die Normenhierarchie des Grundgesetzes ein, so dass zum Beispiel Bundesrecht über dem Landesrecht steht. Unter anderem deswegen ist es wichtig zu entscheiden, ob das alte Recht als Landesrecht oder Bundesrecht fortexistiert.
Unwichtig ist, wie das Recht entstanden ist: Das damalige Verfahren der Rechtsetzung kann sich vom heutigen unterscheiden. So ist auch Recht aus der Zeit der NS-Diktatur weiterhin gültig. Es darf allerdings nicht der Gerechtigkeitsidee des Grundgesetzes widersprechen; derartiges Unrecht gilt als von Anfang an als unwirksam. Viele spezifisch nationalsozialistische Gesetze und andere Vorschriften sind bereits von den Besatzungsmächten aufgehoben worden und allein deswegen schon kein weitergeltendes vorkonstitutionelles Recht. Im Jahr 1949 war die staatliche Situation Deutschlands eine besondere: Die Souveränität lag bei den Alliierten, sie übten ihre Besatzungsgewalt aus; es bestanden Rechte und die Verantwortlichkeit der vier Mächte für Deutschland als Ganzes und für Berlin. Damit verbunden war der Status Deutschlands, das Verhältnis der beiden deutschen Staaten zueinander, deren Verhältnis zum fortbestehenden deutschen Gesamtstaat, der Status umstrittener Gebiete und das Selbstbestimmungsrecht der Völker vor dem Hintergrund der deutschen Frage.