Þórbjörg lítilvölva (Thorbjörg die kleine Seherin) ist eine literarische Figur aus der Eiríks saga rauða, der Isländersaga von Erik dem Roten. Þórbjörg wird in einer topischen Schilderung in einer Nebenhandlung im Kapitel 4 als eine Wahrsagerin und zauberkundige Frau, eine Seherin („Hon var spákona ok var kölluð lítilvölva“) beschrieben. In der kleinen Population der auf Grönland des 10. Jahrhunderts siedelnden Wikinger wird sie als Person dargestellt, die großen Einfluss ausübt und entsprechende Ehrerbietungen erfährt. Einige Motive der Erzählung reflektieren mutmaßliche Praktiken und Riten aus heidnischer Zeit und weisen in der Figur auf Merkmale hin, die mit den sogenannten historisch-realen Germanischen Seherinnen in Verbindung zu bringen sind.
Handlung
Þórbjörg ist die Überlebende von zehn Schwestern, die alle mantisch (wahrsagerisch) begabt waren. Ihre Eigenart war es, zur Winterzeit von Hofstelle zu Hofstelle zu ziehen und sich dort zu Gelagen einladen zu lassen, die sie mit ihren Fähigkeiten unterhielt. Die Saga beschreibt sie als schillernde Person, die einen bewussten Habitus durch ihren Auftritt als solchen pflegte und diesen durch ihre Kleidung und Attribute noch unterstrich. Sie war mit einem körperlangen blauen Mantel bekleidet, der bis zum Saum mit Edelsteinen besetzt war, um den Hals trug sie eine Kette mit Glasperlen. Als Kopfbedeckung trug sie eine schwarze Lammfellhaube mit einem Pelzfutter aus Katzenfell, dazu führte sie als Attribut der Seherin einen knaufbewehrten Stab, der mit Kupfereinlagen verziert war. An den Füßen trug sie Kalbsfellschuhe und Handschuhe, die ebenfalls aus Katzenfell gefertigt waren, der Mantel wurde von einem aus Zunderschwamm gewirkten Gürtel gehalten, an dem eine Ledertasche für ihre Utensilien hing.
Es luden die Siedler Þórbjörg ein, um von ihr Weissagungen zu erbitten. Das Kapitel 4 der Saga eröffnet die Nebenhandlung damit, dass in Grönland eine schwere Hungersnot herrschte und so der wohlhabende Bauer Þorkel der Seherin einen festlichen Empfang bot, um für sich und seine Haus- und Hofgemeinschaft eine gute Zukunftsvorhersage in ungewisser Zeit zu erhalten. Die eintretende Þórbjörg wird, beeindruckt von ihrer Erscheinung und ihrer Funktion, durch die Anwesenden entsprechend ehrfürchtig begrüßt. Þorkel geleitet sie zu einem Podest, einem extra für sie errichteten Hochsitz der Seherinen (seiðhallr). Nach einem Festmahl fordert er sie auf, seine persönlichen Fragen nach dem zukünftigen „Wohl und Wehe“ seines Hausstandes zu beantworten, was diese – die meiste Zeit eher schweigsam – auf den nächsten Tag verschob, da sie erst eine Nacht des Schlafes benötige.
Die nächste Szene am folgenden Tag ist durch das Zauberritual und der Weissagung bestimmt. Durch die Gastgeber ist alles vorbereitet, sodass Þórbjörg auf die Wünsche, vor allem auf die von Þorkel, durch ihre Exerzitien befriedigend antworten kann. Es tritt jedoch das Problem auf, dass die Seherin eine Frau benötigt, die mit einem sogenannten Varðlokkur, einen Zaubergesang (galdr, anders auch seiðlæti = Zauberton), ihren Zauber erst wirksam machen würde. Niemand der Anwesenden beherrscht diesen Gesang, bis auf eine Frau, Guðrið. Guðrið erläutert unbefangen, dass sie ein Lied mit Namen Varðlokkur daheim auf Island als Kind gelernt hatte. Nun habe sie jedoch Skrupel, dass sie als Christin diese heidnischen Riten unterstützen könnte. Þórbjörg überredet Guðrið, dass diese dadurch doch helfen könnte und somit kein schlechter Mensch sei, und setzte sie zudem mit Þorkel unter Druck. Guðrið gibt dem Druck der beiden nach und so versammeln sich die Frauen in einem Kreis um den Podest mit Þórbjörg, Guðrið singt das Lied und der Zauber konnte wirken.
Die Seherin bleibt dem Hausherrn nichts schuldig und weissagt ihm eine gute Zukunft, und dass die gegenwärtige Krisensituation sich zum Positiven auflöst. Der Guðrið sagt sie eine glückliche Ehe voraus, und dass sie die Mutter eines großen Geschlechts werden würde, danach beantwortet sie die Fragen aller Anwesenden. Damit endet die Nebenhandlung und leitet über zum Haupthandlungsstrang der Saga.
Bedeutung
Diese Szene hat für den Fortgang der Saga eigentlich keine Bedeutung. Sie dient der Verherrlichung von Guðriður Þorbiarnardóttir, der Stammmutter einer mächtigen Familie in Island und Vorfahrin zahlreicher Bischöfe, z. B. Þorlákur Runólfsson, Björn Gilsson und Brandur Sæmundarson. Denn nur in diesem Zusammenhang hat die ausführliche Darstellung der Seherin Þorbjörg im vierten Kapitel eine Funktion. Guðriður spielt in der Weissagungszeremonie eine zentrale Rolle und erhält wie oft in den Viten bedeutender Persönlichkeiten eine eigene Weissagung über die strahlende Zukunft ihres Geschlechts. Jan de Vries bewertet die Darstellung der magisch-mantischen Praktiken (Seiðr) vom Eindruck her als durchaus zuverlässig.
Siehe auch
Weblinks
Literatur
- Ausgaben
- Tina Flecken (Übers.): Die Saga von Eirík dem Roten. Eiríks saga rauða. In: Isländersagas. Band 4, S. Fischer, Frankfurt/Main 2011, ISBN 978-3-10-007625-0, S. 526–552.
- Thule, isländische Sagas: Historische Fahrten und Abenteuer. Übertragen durch Walter Baetke, Felix Niedner, 1. Auflage Diedrichs, Düsseldorf/Köln 1978, ISBN 3-424-00609-2.
- Sekundärliteratur
- Kurt Schier: Sagaliteratur. (= Sammlung Metzler. Band 78). Metzler, Stuttgart 1970.
- Rudolf Simek, Hermann Pálsson: Lexikon der Altnordischen Literatur. (= Kröners Taschenausgabe. Band 490). Kröner, Stuttgart 1987, ISBN 3-520-49001-3.
- Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie (= Kröners Taschenausgabe. Band 368). 3., völlig überarbeitete Auflage. Kröner, Stuttgart 2006, ISBN 3-520-36803-X.
- Jan de Vries: Altnordische Literaturgeschichte. 3. unveränderte Auflage in einem Band (mit einem Vorwort von Stefanie Würth), de Gruyter, Berlin/New York 1998, ISBN 978-3-11-080481-2.
Einzelnachweise
- ↑ Rudolf Simek: Lexikon der germanischen Mythologie (= Kröners Taschenausgabe. Band 368). 3., völlig überarbeitete Auflage. Kröner, Stuttgart 2006, ISBN 3-520-36803-X, S. 367ff., 424.
- ↑ Dag Strömbäck: Sejd och andra studier i nordisk själsuppfattning. Hedemora 2000, ISBN 91-7844-318-0 (Neudruck der Dissertation von 1935). S. 56–60.
- ↑ Jan de Vries: Altnordische Literaturgeschichte, Berlin/New York 1998, S. 269