Der Anarchafeminismus (auch Anarcha-Feminismus oder anarchistischer Feminismus) ist eine politische Ideologie, die die Theorien von Anarchismus und Feminismus zusammenführt. Er geht davon aus, dass der feministische Kampf gegen das Patriarchat und traditionelle Geschlechterrollen ein essentieller Teil des anarchistischen Kampf gegen den Staat und Kapitalismus ist. Das Ziel der anarchafeministischen Theorie ist eine herrschaftsfreie Gesellschaftsordnung. Diese setzt also die Abschaffung aller Herrschaftsformen, und nicht nur des Patriarchats, voraus.

Vorläufer

Bereits zu Anfangszeiten des Anarchismus Mitte des 19. Jahrhunderts wurde dieser von einzelnen Theoretikerinnen mit feministischen Positionen verbunden. Als Vorläufer des Anarchafeminismus können Frauen wie Emma Goldman, Louise Michel, Rirette Maîtrejean, Clara Wichmann, Amparo Poch y Gascón, Wera Figner, Voltairine de Cleyre, Itō Noe, Natascha Notkin (* 1870), Milly Witkop und Virginie Barbet sowie zum Beispiel der Syndikalistische Frauenbund und die spanische anarchistische Frauenbewegung Mujeres Libres angesehen werden. Weitere Vertreterinnen sind Rosella Di Leo und Maria Matteo aus Italien sowie Luisa Capetillo aus Puerto Rico.

Der radikale Feminismus Ende der 1960er Jahre bis Mitte der 1970er Jahre entwickelte, so Janet Biehl, eine sozial-feministische Analyse. Soziale Institutionen hinderten Frauen daran, ihre „ganze Humanität zu entfalten“.

Entstehung

Die Wortschöpfung Anarcha-feminism wurde von US-amerikanischen Radikalfeministinnen Anfang der 1970er Jahre geprägt als Alternative zum klassischen Feminismus (teilweise auch „bürgerlicher Feminismus“ genannt), der sich in der Regel alleine gegen patriarchale Herrschaft wendet.[3] Sie fanden vor allem in den Schriften Pjotr Alexejewitsch Kropotkins zu den Prinzipien des kommunistischen Anarchismus viele Überschneidungen zu ihren eigenen Ansichten. Mitte der 1970er Jahre schwabbten diese Theorien dann auch in die BRD rüber. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Feminismus schon einiges für Frauen erreicht, jedoch vor allem für Mittelschichtsfrauen. Mit der Zeit wurden deswegen Stimmen von Frauen laut, die sich innerhalb dieser Bewegung nicht repräsentiert sahen. Darunter Arbeiterinnen, schwarze Frauen, Frauen mit Behinderung und Migrantinnen.

Der Anarchismus war auf der anderen Seite sehr männlich dominiert. Zu den wichtigsten Denkern gehören Pierre-Joseph Proudhon, Michail Alexandrowitsch Bakunin und der bereits genannte Pjotr Alexejewitsch Kropotkin. Jedoch hatte keiner von ihnen eine Antwort auf die geschlechtsspezifische Unterdrückung. Im Gegenteil, sie dachten Unterdrückung meist nicht so weit und reproduzierten patriachales Denken in ihren Schriften. Der Grundsatz, der alle anarchistischen Strömungen vereint, ist das Ziel einer herrschaftsfreien Gesellschaftsordnung und einer größt möglichen Freiheit für alle Individuen. Dass damit aber zwangsläufig die Abschaffung des Patriarchats einhergeht, wurde wenn als Nebenwiderspruch gedacht. Die vollständige Umsetzung dieses Ziels wurde erst durch die Anarchafeministinnen gefordert. Sie sahen in dem Zusammenschluss der beiden Bewegungen eine Theorie, die beide Bewegungen ergänzt, während keine von ihnen Abstriche machen müsse, da sie sich sowieso entsprächen.

Entwicklung seit 1970

L. Susan Brown argumentierte: „Alleine Anarchafeministinnen stellen eine Theorie zur Verfügung, die alle Hierarchien und Formen von Herrschaft bekämpft, ob sie sexistisch, rassistisch, klassenbezogen oder staatlich sind.“ Und erhebt das Ziel alle Unterdrückungsmechanismen zu bekämpfen.

Vor allem die US-amerikanischen Feministinnen wie Peggy Kornegger und Carol Ehrlich versuchten, im kommunistischen Anarchismus von Peter Kropotkin das politische Gerüst für die angestrebte „feministische Revolutionierung der Gesellschaft“ zu finden. Für beide sind „Feministinnen natürliche Anarchistinnen“ und der kommunistische Anarchismus nehme die „geistigen, emotionalen und individuellen Aspekte der menschlichen Natur ernst“, die auch Grundlage des Feminismus seien. Der Feminismus, wie ihn Kornegger und Ehrlich verstanden, unterschied sich von der klassischen Frauenbewegung dadurch, dass nicht nur das Patriarchat im Fokus ihrer Kritik stand, sondern die Abschaffung jeder Herrschaftsstrukturen inklusive matriarchaler Vorstellungen.

Allerdings sei es, so Silke Lohschelder, weder Kropotkin noch Michael Bakunin in ihren Analysen gelungen, die Problematik der Unterdrückung von Frauen konsequent auszuarbeiten. Dass der Mittelpunkt der Benachteiligungen der Frauen die autoritären, patriarchalen Kleinfamilienstrukturen sind, darüber waren beide Anarchisten einig mit der feministischen Theorie. Laut Lohschelder stimmen jedoch nicht alle radikalen Feministinnen mit dem anarchistischen Gedankengut überein. Carol Ehrlich forderte eine revolutionäre Praxis und bezog sich in ihren Vorschlägen auf die Die Gesellschaft des Spektakels der Situationisten, um damit das gesellschaftliche Klischee von der Frau zu durchbrechen: mit subversiven Aktionen wie der „Guerilla-Taktik“ vorzugehen, um die traditionellen Denkweisen von „Rebellion“ und politischem Handeln zu durchbrechen.

Die Anarchistische Föderation Norwegens (ANORG) stellte auf dem dritten Kongress (1. bis 7. Juni 1982) zum Thema Anarchafeminismus „Fünf Hauptarten der Unterdrückung“ der Frauen auf:

  1. Die ideologische Unterdrückung durch kulturelle Traditionen, Religion und Manipulation durch bestimmte Wertvorstellungen
  2. Hierarchische Organisationsstrukturen der staatlichen Macht
  3. Ökonomische Benachteiligungen (Ausbeutung) der Frauen unter anderem durch Unterbezahlung
  4. Gewalt in der Privatsphäre sowie in der Gesellschaft
  5. Das Fehlen einer geeigneten Organisationsform und infolgedessen die Herrschaft eines „Despotismus, der Verantwortungsbewusstsein hemmt und Passivität und Gleichgültigkeit fördert“.

Die bestehenden Sexualvorstellungen in der Erziehung, der Arbeitswelt und in den Medien müssten, so ANORG, beseitigt werden, und es sollten Arbeits-, Selbsthilfe- und Diskussionsgruppen gebildet werden, was im Laufe der Jahre realisiert wurde. Der Anarchafeminismus hat das Ziel, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben und dass die Freiheit und Unabhängigkeit der Frauen in allen Lebensbereichen gleichbedeutend mit der der Männer ist. Eine freie Vereinigung von Frauen und Männern solle die traditionelle Familie mit ihrer patriarchalischen Struktur ersetzen (ANORG).

Ökofeminismus

Janet Biehl vertritt den "sozialen Ökofeminismus‘‘, der auf dem Konzept des libertären Kommunalismus und der „Sozialen Ökologie“ von Murray Bookchin basiert. Biehl geht es um die Verbindung von Anarchismus und Feminismus, libertärem Sozialismus und sozialer Ökologie.

Literatur

Zeitschriften:

  • Schwarzer Faden, Sondernummer Feminismus - Anarchismus: Ron Hayley Eine Geschichte des Anarchafeminismus, S. 51 ff.
  • Schwarzer Faden, Sondernummer Feminismus - Anarchismus: Friederike Kamann Macht 'Macht' Frauen mächtig?, S. 15 ff.
  • Schwarzer Faden, Sondernummer Feminismus - Anarchismus: L. Susan Brown Warum Anarcha-Feminismus?, S. 20 ff.
  • Die Schwarze Botin, Anarcha-feministische Zeitschrift. Erschienen von 1976 bis 1987 in Berlin.

Bücher und Aufsätze:

  • Carol Ehrlich, Peggy Kornegger: Anarcha-Feminismus. Aus dem Amerik. übers. von Gisela Kuhlendahlu.a., bearbeitet von Cornelia Krasser. Libertad Verlag, Berlin 1979. (Edition Schwarze Kirschen; 1) ISBN 3-922226-04-3
  • Silke Lohschelder (Hrsg.): AnarchaFeminismus. Auf den Spuren einer Utopie. Münster: Unrast Verlag. ISBN 3-89771-200-8
  • Autorinnenkollektiv: Griff nach den Sternen, Ursprungstitel: Unser größter gemeinsamer Nenner. Broschüre der Frauen und Lesben des seit 1993 in der BRD bestehenden Anarchafeministinnentreffens, 2. überarb. Aufl. 2006.Online verfügbar. PDF
  • Milly-Witkop-Rocker, Hertha Barwich, Aimée Köster u. a.: Der Syndikalistische Frauenbund. Unrast Verlag, Münster 2007. ISBN 978-3-89771-915-6
  • AG Frauen der Libertären Aktion Winterthur: Anarchafeminismus: Ein Ansatz, der noch ausgearbeitet werden muss. Winterthur 2008.
  • Jürgen Mümken: Gender trouble im Anarchismus und Anarchafeminismus? Ed. bandera negra, Kassel, 2010.
  • Vera Bianchi: Feminismus in proletarischer Praxis: Der „Syndikalistische Frauenbund“ (1920 bis 1933) und die „Mujeres Libres“ (1936 bis 1939), in Arbeit – Bewegung – Geschichte, Heft I/2018, S. 27–44.
  • Katharina Ciax, Frederik Fuß, Hannah Schiedel, Lea Staake, Leonie Papies: AnarchaFeministische Perspektiven. Syndikat-A, Moers, 2020. ISBN 978-3-9817138-8-6

Einzelnachweise

  1. In: „Schwarzer Faden“ Nr. 33, 1989. Seite 4 (Memento des Originals vom 16. März 2009 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.. Online verfügbar auf „anarchismus.at“. Abgerufen am 21. April 2011
  2. Was ist eigentlich Anarchafeminismus (Memento des Originals vom 18. Dezember 2005 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.. Abgerufen am 21. April 2011
  3. "AnarchaFeminismus : auf den Spuren einer Utopie" Autor:Silke Lohschelder; Liane M. Dubowy; Inés Gutschmidt In: Unrast-Verl., 2009
  4. Vgl. hierzu: Sondernummer Feminismus – Anarchismus in „Schwarzer Faden“, . 21. L. Susan Brown, Warum Anarcha-Feminismus?
  5. AG Anarchafeminismus der libertären Aktion Winterthur: Anarchafeminismus, Zitat nach Silke Lohschelder: Anarchafeminismus – auf den Spuren einer Utopie. Unrast-Verlag 2000, ISBN 3-89771-200-8
  6. Anarchafemismus. Auf den Spuren einer Utopie. Autor: Silke Lohschelder. In: Graswurzelrevolution Nr. 250, Sommer 2000. Abgerufen am 21. April 2011
  7. Silke Lohschelder in der Sondernummer „Feminismus – Anarchismus“ in „Schwarzer Faden“.
  8. Über Carol Ehrlich. Abgerufen am 21. April 2012
  9. Politisch–feministisches Programm der ANORG (Memento des Originals vom 24. Januar 2010 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.. Gekürzte Wiedergabe im Artikel. Erschienen in der Zeitschrift Trafik Nr. 11, Januar 1984. Online verfügbar auf „anarchismus.at“. Abgerufen am 21. April 2011
  10. J. Biehl: ‚‘Der soziale Ökofeminismus‘‘ (Memento des Originals vom 16. März 2009 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.. Kritik. Teil 1. Abgerufen am 21. April 2011
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