Die Archäoastronomie beschäftigt sich auf wissenschaftlicher Basis mit archäologischen Ausgrabungen, Baudenkmalen, Artefakten und deren astronomischer Deutung und Interpretation. Das Fachgebiet wird auch als Astroarchäologie bzw. Paläoastronomie und Ethnoastronomie bezeichnet. Der Begriff Archäoastronomie entstand in den 1960er Jahren.

Frühe Überlegungen

Erste astronomisch motivierte Überlegungen zu Orientierungen von Megalithen stammen vom dänischen Reichskanzler Arild Huitfeldt (1546–1609). Er unterschied die Dolmen Dänemarks in „Toten-Altäre“, welche seiner Ansicht nach Nord-Süd ausgerichtet waren und „Götzen-Altäre“, welche Ost-West ausgerichtet waren, wegen der „heidnischen“ Gepflogenheit die Sonne anzubeten. William Stukeley (1687–1765) stellte als erster anhand eigener Messungen 1740 die Orientierung von Stonehenge nach dem Sonnenaufgang der Sommersonnenwende fest. 1723 ordnete er bereits die Steinkreise von Stanton Drew astronomisch zu. 1770 vermutete John Smith, dass Stonehenge darüber hinaus ein Planetarium der alten Druiden war und der Sarsenkreis als Zählkalender diente. Johann Adrian Bolten (1742–1807) meinte in den abweichenden Richtungen der „Opferstätten“ (Hünengräber) einen Aspekt zur Altersbestimmung zu erkennen, da sich möglicherweise „die Abweichung der Magnetnadel“ seit damals geändert habe. 1777 berichtet der französische Naturforscher H. Besson vom kalenderastronomischen Sonnenphänomen am „Martinsloch“ bei Elm in der Schweiz. 1823 berichtete das Fürstlich-Lippische Intelligenzblatt über die Beobachtung des kalendarischen Erscheinens der Sonne im runden Fenster einer sakralen Felsnische der Externsteine und über Spekulationen damit verbundener früher Bestimmungen der Jahreszeiten. 1824 beobachtete der Archäologe Johann Gustav Gottlieb Büsching (1783–1829), dass die Gerippe in Gräbern vorgeschichtlicher Zeit überwiegend nach gleichen Himmelsrichtungen orientiert waren. Ein Bericht aus dem Jahr 995 über einen „Donnersturm“ über Armagh nannte die irischen Megalithen „Celestral Index“ (Himmlische Anzeiger). Daraus schlussfolgerte 1835 der Ire Thomas Moore: „Dass es eine Hauptbestimmung dieser Denkmäler war, als riesenhafte Sonnenzeiger dazustehen, und durch ihre Schatten die Ab- und Zunahme des Tags, von Sonnenwende zu Sonnenwende, zu messen.“ Karl Benjamin Preusker sah in verschiedenen Felsen der Oberlausitz „heidnische Opferaltäre“ und „Göttertempel“ für einen „Sonnenkult“. Er sah eine ähnliche Bedeutung wie Stonehenge. In Vertiefungen vermutete er Sitzplätze der Priester „ … zum religiösen Erwarten und Begrüßen der ersten Strahlen der aufgehenden Sonne.“ Ernst Wilhelm Heine spekulierte 1850 über Steinkreise des Gierfeldes bei Westerholte, dass sie „complizierte Chiffren und Formeln zur Berechnung der wichtigsten Ereignisse am gestirnten Himmel“ darstellen. 1885 stellte Heinrich Nissen (1839–1912) eine Untersuchung vor, welche die Ausrichtung antiker Tempel nach astronomischen Aspekten darlegte. Félix Gaillard (1832–1910) veröffentlichte 1892 eine Schrift, in der er die Megalithen als astronomische Hilfsmittel sah «L’Astronomie préhistorique».

Geschichte

Die Archäoastronomie als eigenständige Wissenschaft verbindet man heute vor allem mit den Arbeiten des britischen Astronomen Joseph Norman Lockyer. Als ein weiterer Mitbegründer kann der amerikanische Astronom Gerald Hawkins gelten, der 1965 in seinem Buch Stonehenge decoded (und vorher 1963 in einem Nature-Artikel) darauf hinwies, dass in den Lage- und Abstandsverhältnissen zwischen den Steinen von Stonehenge Sonnen- und Mondvermessungen verschlüsselt seien. Man könne diese zur Voraussage von Sonnenauf- und -untergängen, der Bewegung des Mondes sowie Sonnen- und Mondfinsternissen verwenden. Seine Arbeiten wurden von Archäologen kritisiert, in der breiteren Öffentlichkeit aber positiv aufgenommen. Auch wenn seine Interpretation von Stonehenge als Rechenmaschine heute kaum noch Anhänger findet, werden astronomische Ausrichtungen auch bei Megalithanlagen wie Newgrange oder Kreisgrabenanlagen angenommen.

Heute beschäftigen sich etliche Wissenschaftler mit dem astronomischen Wissen unserer Vorfahren. Bei der Interpretation der Funde arbeitet die Archäoastronomie eng mit der astronomischen Chronologie zusammen und greift auf deren Methodik zurück. Für die archäoastronomische Feldarbeit werden u. a. Theodolit, Kompass, Neigungsmesser, Navigationssatellitensysteme und Geoinformationssysteme eingesetzt.

Meist wird von Archäoastronomie bei Kulturen gesprochen, die keine schriftlichen Aufzeichnungen hinterließen und wo nur archäologische Methoden weiterführen. Eine besondere Rolle nimmt die mesoamerikanische Archäoastronomie ein, da hier schriftliche Aufzeichnungen existieren (wie der Codex Dresdensis).

Ein Hauptteil der Archäoastronomie beschäftigt sich mit megalithischer Astronomie, also mit den astronomischen Kenntnissen der Kulturen in den Megalithgebieten Europas vom mittleren Neolithikum über die Bronzezeit (etwa 4500 bis 1500 v. Chr.). Neben den Großsteingräbern werden Menhire, Steinreihen und Steinkreise in die Betrachtung einbezogen. Allgemein schließt die megalithische Astronomie die Idee ein, dass bei etlichen Monumenten ein oder mehrere Elemente astronomische Bedeutung besaßen.

Einige Interpretationen auf dem Gebiet der Archäoastronomie sind umstritten, z. B. die Interpretation der Höhlenmalereien von Lascaux als eine Art Planetarium sowie diverser Felsgravuren in Höhlen der gleichen Region als astronomische Markierungen.

Seit 1981 veranstaltet die Internationale Astronomische Union wissenschaftliche Konferenzen, wie The „Oxford“ International Symposia on Archaeoastronomy. 2011 war das neunte Treffen in Lima, Peru.

Der Bauingenieur Erwin Reidinger untersucht Sakralbauten des Altertums und des Mittelalters bezüglich der Absteckung nach der aufgehenden Sonne. Bei Kirchengebäuden zeigt sich häufig, dass Langhaus und Chor unterschiedlich orientiert sind, was durch einen Achsknick in Erscheinung tritt.

Siehe auch

Literatur

  • Anthony Aveni, Gary Urton: Ethnoastronomy and archaeoastronomy in the American tropics. New York Academy of Sciences, New York 1982, ISBN 0-89766-160-5
  • Anthony Aveni: Skywatchers of ancient Mexico, University of Texas Press, Austin 2001, ISBN 0-292-70504-2.
  • Anthony Aveni: Foundations of new world cultural astronomy. Univ. Press of Colorado, Boulder 2008, ISBN 0-87081-900-3.
  • Brian S. Bauer: Astronomy and empire in the ancient Andes. The cultural origins of Inca sky watching. Univ. of Texas Press, Austin 1995, ISBN 0-292-70837-8
  • William H. Calvin: Wie der Schamane den Mond stahl – auf der Suche nach dem Wissen der Steinzeit. Hanser, München & Wien 1996, ISBN 3-446-17310-2
  • Rudolf Drößler: Als die Sterne Götter waren. Sonne, Mond und Sterne im Spiegel von Archäologie, Kunst und Kult. Prisma, Leipzig 1976
  • Rudolf Drößler: Astronomie in Stein. Archäologen und Astronomen enträtseln alte Bauwerke und Kultstätten, Prisma, Leipzig 1990, ISBN 3-7354-0019-1
  • Hannes D. Galter (Hrsg.): Die Rolle der Astronomie in den Kulturen Mesopotamiens : Beiträge zum 3. Grazer Morgenländischen Symposion, (23. – 27. September 1991). RM-Druck- und Verl.-Ges., Graz 1993, ISBN 3-85375-009-5
  • Rita Gautschy, Michael E. Habicht, Francesco M. Galassi, Daniela Rutica, Frank J. Rühli, Rainer Hannig: A New Astronomically Based Chronological Model for the Egyptian Old Kingdom. in: Journal of Egyptian History, 2017, Vol. 10 (2), 69-108. doi:10.1163/18741665-12340035
  • Gerald S. Hawkins, John B. White: Stonehenge decoded. Doubleday & Company, New York 1965, 1972, 1993, ISBN 0-88029-147-8
  • Jarita C. Holbrook (et al.): African Cultural Astronomy. Current Archaeoastronomy and Ethnoastronomy research in Africa. Springer 2008, ISBN 978-1-4020-6638-2
  • Fred Hoyle: On Stonehenge. Freeman & Company, San Francisco 1977, ISBN 0-7167-0364-5
  • David H. Kelley, et al.: Exploring ancient skies – an encyclopedic survey of archaeoastronomy. Springer, New York 2005, ISBN 0-387-95310-8
  • Edwin C. Krupp: Echoes of the ancient skies. The astronomy of lost civilizations. Oxford University Press 1983, ISBN 0-19-508801-8
  • Rolf Müller: Der Himmel über den Menschen der Steinzeit. Astronomie und Mathematik in den Bauten der Megalithkulturen. Springer, Berlin 1970
  • Clive L. N. Ruggles: Ancient astronomy. An encyclopedia of cosmologies and myth. Abc-Clio, Santa Barbara 2005, ISBN 1-85109-616-7
  • Giorgio de Santillana, Hertha von Dechend: Die Mühle des Hamlet. Ein Essay über Mythos und das Gerüst der Zeit. Berlin 1992. ISBN 3-926763-23-X
  • Wolfhard Schlosser, Jan Cierny: Sterne und Steine. Eine praktische Astronomie der Vorzeit. Theiss, Stuttgart 1997, ISBN 3-8062-1318-6
  • Ralf Herold, Die Fährte des Lichts – Projekt Götterhand – Sonnenheiligtümer der Oberlausitz. Sternwarte Sohland/Spree, Books on Demand, Norderstedt 2020, ISBN 978-3-7519-5892-9

Einzelnachweise

  1. The European Society for Astronomy in Culture; the interdisciplinary disciplines of Archaeoastronomy and Ethnoastronomy. (Memento vom 21. Oktober 2009 im Internet Archive)
  2. "Der Begriff Archäoastronomie - das Studium der Astronomie alter Kulturen - wurde 1969 für ein multidisziplinäres Fach geprägt, das neben Archäologie und Astronomie verschiedenste Fächer wie Geologie, Klimakunde und Technik sowie Geschichte, Kunst und Religion umfasst." aus: Ken Taylor: Kosmische Kultstätten der Welt - von Stonehenge bis zu den Maya-Tempeln. Franckh-Kosmos, Stuttgart 2012. ISBN 978-3-440-13221-0, S. 7.
  3. Arild Huitfeldt in Chron. M. pag. I.
  4. John Michell „Sonne, Mond und Steine – Ein kleiner geschichtlicher Abriss der Astro-Archäologie“, S. 9–11
  5. John Michell „Sonne, Mond und Steine – Ein kleiner geschichtlicher Abriss der Astro-Archäologie“, S. 12/13
  6. Johann Adrian Bolten, „Ditmarsische Geschichte“, Band 1, 1781, S. 249 (Fußtext)
  7. Christian Gottlieb Klostermeier, ergänzt von Dr. Ernst Helwig, „Der Eggesterstein im Fürstenthum Lippe“, 1848, S. 1–2
  8. Büsching J.: „Die heidnischen Alterthümer Schlesiens“. Band 4, 1824
  9. Annal. Ult. Ad annum 995; Thomas Moore, „Die Geschichte von Irland“, Band 1, 1835, S. 40 und 83
  10. Karl Benjamin Preusker, „Blicke in die Vaterländische Vorzeit“, Band 1, 1841, S. 15 und Band 3, 1844, S. 173–176
  11. Ernst Wilhelm Heine, „Über den Germanismus“, 1850, S. 39–41, 49–50 und 81
  12. Fachzeitschrift „Rheinisches Museum für Philologie“, Jahrgang 1885
  13. Félix Gaillard, „L’Astronomie préhistorique“, 1892
  14. „As a discipline, archaeoastronomy stems from the publication of J.N. Lockyer´s Dawn of Astronomy in 1894“. In: David H. Kelley et al.: Exploring ancient skies - an encyclopedic survey of archaeoastronomy. New York 2005, S. 1
  15. Gerald S. Hawkins: Stonehenge Decoded. In: Nature, Bd. 200, Nr. 4904, S. 306–308 (26. Oktober 1963), doi:10.1038/200306a0
  16. Volker Bialas: Astronomie und Glaubensvorstellungen in der Megalithkultur - Kritik zur Archäoastronomie. München 1988
  17. Gerald S. Hawkins: Stonehenge Archives: Twenty Years After „Stonehenge Decoded“. In: Archaeoastronomy, Bd. 8 (1985), S. 6
  18. Giulio Magli: Archaeoastronomy - introduction to the science of stars and stones. Springer, Cham 2016, ISBN 978-3-319-22881-5, Acquiring Data, S. 29–39.
  19. Gerardo Aldana y Villalobos, et al.: Archaeoastronomy and the Maya. Oxbow Books, Oxford 2014, ISBN 978-1-78297-643-1.
  20. The „Oxford“ International Symposia on Archaeoastronomy (Memento vom 2. April 2016 im Internet Archive) archaeoastronomy.org, abgerufen am 6. April 2017
  21. IAU Symposia IAUS 278: Archaeoastronomy and Ethnoastronomy: Building Bridges between Cultures iau.org
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