Unter baltischer Mythologie wird im Allgemeinen die vorchristliche Mythologie der Letten, Litauer und Prußen zusammengefasst.

Angesichts beachtlicher Unterschiede zwischen der prußischen, lettischen und der litauischen Mythologie – über die Mythen der Prußen weiß man fast nichts – ist dies eine radikale Verallgemeinerung. Treffender wäre daher von baltischen Mythologien zu reden, wie man auch von baltischen Sprachen in der Mehrzahl redet. Oder aber man spricht von baltischer Mythologie nur in Bezug auf ein historisches Stadium, in dem die Urbalten noch als ein relativ homogenes Volk angesehen werden können, für das man auch eine (ur)baltische Sprache rekonstruiert.

Hervorstechendes gemeinsames Merkmal ist der Polytheismus mit einer Vielzahl mythischer Wesen verschiedenen Ranges und einer starken Präsenz der Verstorbenen; zahlreiche enge Beziehungen mit den vorchristlichen Mythen anderer indoeuropäischer Völker sind wissenschaftlich belegt, insbesondere mit den Mythen der Slawen, Germanen und Kelten.

Sowohl in Lettland als auch in Litauen gibt es staatlich anerkannte traditionelle (neuheidnische) Religionsgemeinschaften (lv. Dievturi, li. Romuva), die ihre Wurzeln zwar vorrangig in den vorchristlichen Überlieferungen des eigenen Volkes sehen, sich aber als verwandt begreifen und meist sehr offen sind für die vergleichende baltische und indoeuropäische Forschung der Ethnologen und Etymologen.

Quellen und Methoden

Quellen der Baltischen Mythologie sind verschiedene Folkloretexte. Diese sind zwar weitgehend gesammelt und schriftlich fixiert, aber noch wenig erforscht im Vergleich mit den Quellen größerer Religionsgemeinschaften.

Im Lettischen sind es besonders die sehr zahlreichen Dainas. Eine Daina besteht meistens aus vier Zeilen, wobei jede Zeile acht, seltener fünf bis sechs Silben aufweist. Die bedeutendste Sammlung solcher Dainas sind Latvju dainas von Krišjānis Barons. Aufgrund der Kürze dieser Lieder ist deren epischer Gehalt wenig ausgeprägt. Aufgrund ihrer Menge (ca. 2 Mio.) und Variantenvielfalt zeigen sie aber ein sehr detailliertes und umfassendes Bild des naturverbundenen Lebens, der archaischen Vorstellungen, Bräuche und Feste der lettischen Stämme.

Die litauischen Dainos sind deutlich länger; sie weisen auch balladenhafte Elemente auf.

Weitere Quellen sowohl im Lettischen als auch im Litauischen sind Märchen, Sagen und Legenden, gleichfalls Ortsnamen und religiöse Begriffe, die einer etymologischen Analyse zugänglich sind.

Schriftliche Überlieferungen setzen mit einer kurzen Bemerkung über Aestiorum gentes spätestens mit Tacitus (Germania 45) ein, wo berichtet wird, dass sie die Mutter der Götter verehren und als Wahrzeichen ihres Kultes Statuen von Wildschweinen mit sich tragen. Bei älteren Quellen ist man sich nicht sicher, ob es sich tatsächlich um baltische Stämme handelt.

Schließlich kann man aus archäologischen Funden, z. B. Grabbeigaben, Haltung und Ausrichtung bei Bestattung, Art der Bestattung auf mythische Vorstellungen schließen.

Die voneinander isolierte Forschung im Westen und Osten führte zur Herausbildung zweier verschiedener Schulen zur baltischen Mythologie. Im deutsch- und englischsprachigen Raum ist die westliche Schule der Emigranten (noch) besser bekannt und in Standardwerken vertreten. Zu nennen wäre hier vor allem Haralds Biezais’ Beschreibungen der Baltischen Religion, die sich nur auf lettisches Material stützen und daher auch nur lettische Religion genannt werden dürften.

Man muss sich bei der Rekonstruktion und Beschreibung wesentlicher Züge baltischer Mythologien bewusst sein, dass eine Periode von mindestens dreitausend Jahren betroffen ist, die schwerlich ohne weitreichende Änderungen blieb. Zudem wird darauf verwiesen, dass Angehörige verschiedener Schichten andere Schwerpunkte in den Mythen und der Religionsausübung setzten. Gintaras Beresnevičius betont den Unterschied zwischen der offiziellen Religion und Mythen der staatstragenden Priester und Krieger, die durchaus zu einem rekonstruierbaren System entwickelt war, gegenüber den weniger systematischen Vorstellungen der Bauern.

Wesensheiten der baltischen Mythologie

Ahnen, Seelen, Geister

Im Gegensatz zum dogmatischen christlichen Leib-und-Seele-Dualismus gibt es bei den Balten hierzu variierende Vorstellungen. Die Seele ist befähigt, den Körper im Schlaf zu verlassen, etwa in Gestalt einer Biene oder Maus. Die Geister der Verstorbenen, litauisch vėlės, lettisch veļi, können nach dem Tode zunächst weiter in der Nähe ihrer Sippe existieren. Daneben oder in chronologischer Abfolge wurde an Reinkarnation in Bäumen, besonders in heiligen Hainen geglaubt. Mit verstorbenen Frauen werden im Allgemeinen Linden verbunden, während Männer meist als Eichen erscheinen. Weiterhin wurde an Reinkarnation in Neugeborenen geglaubt, ggf. nach dem Aufenthalt in Tieren und Pflanzen. Storch und Wasservögel können als Seelentiere angesehen werden, Spuren davon sind fast nur noch im Märchen erhalten. Verstorbene können sich aktiv in die Träume der Hinterbliebenen einbringen, wenn sie Bedürfnisse haben oder nach einem Unfall unbestattet sind. Die Seelen Verstorbener sind bei der Bestattung präsent, nehmen den neuen Toten in Empfang. Kontakt mit den Toten wird zu bestimmten Fristen nach dem Ableben aufgenommen sowie zu bestimmten Kalenderfesten. Es gibt viele Sagen über Geisterseher, die die Toten sehen können. Weiterhin gibt es Möglichkeiten, diese Fähigkeit zeitweilig zu erwerben, indem man zwischen den Ohren von Hunden hindurchblickt oder durch ein Astloch im Brett.

Jenseitsvorstellungen

Es gibt verschiedene, konkurrierende Jenseitsvorstellungen:

  • Der Wald bzw. ein heiliger Hain als Aufenthaltsort der Toten in Bäumen – unter christlichem Einfluss wurden hieraus Vorstellungen, die dem Purgatorium nahe kamen.
  • Eine Weide hinter einer Wasserbarriere, in der Tote als Vieh gedacht waren. Diese Vorstellung lässt sich in vielen indogermanischen Zweigen erschließen und dürfte indogermanischen Ursprungs sein.
  • Ein Jenseits im Land der Zugvögel, lit. dausos, in das man entlang der Milchstraße, lit. paukščių takas 'Vogelpfad', gelangt.

Die Sterne sind darüber hinaus mit dem Leben verknüpft, eine Sternschnuppe erscheint, wenn ein Mensch stirbt, mit der Geburt erleuchtet ein neuer Stern.

Abweichende Vorstellungen gibt es auch zu dem Herrscher der Totenwelt. Zumeist tritt hier lit. velnias, lett. velns, der spätere Teufel des Christentums in Erscheinung. Die Lokalisierung des Jenseits im Himmel unter der Herrschaft des Himmelsgottes lit. dievas, lett. dievs, apr. deiwas dürfte später erfolgt sein und war geeignet aus dieser Figur den Gott der Christen zu machen.

Die Götter und Göttinnen der baltischen Mythologie

  • lett. Dievs, lit. Dievas – Himmelsgott
  • lett. Dieva dēli, lit. Dievo sūneliai – Söhne von Dievas
  • lett. Saule, lit. Saulė – Sonnengöttin
  • lett. Saules meita, lit. Saulytė – Sonnentochter
  • lett. Pērkons, lit. Perkūnas, apr. Parkuns – Donnergott
  • lett. Zemes māte, lit. Žemyna – Erdgöttin
  • lett. Mēness, lit. Mėnulis – Mondgott
  • lit. Aušrinė – Göttin der Morgenröte und der Liebe
  • lett. Auseklis – Gott/ Göttin des Morgensterns
  • lett. Laima, lit. Laimė – Schicksalsgöttin
  • lett. Velns, lit. Velinas, apr. Patollos – Todesgott
  • lit. Gabija – Göttin des Herdfeuers
  • lit. Austėja – Bienengöttin

Die Liste lässt sich deutlich erweitern um Figuren, die einmalig genannt wurden, deren Funktion und Name unsicher sind. Im Lettischen treten weiterhin Dutzende Mātes auf, Mütter von Wald, Wasser, Tieren usw.

Weitere Wesensheiten der baltischen Mythologie

Als lett. Lauma, lit. Laumė werden im Baltikum weibliche Feenwesen, oft in Gestalt langhaariger nackter Frauen, die in der Nähe von Gewässern und Wäldern leben, bezeichnet. Diese Gestalt ist mit der Schicksalsgöttin Laima und den Hexen lit./lett. Ragana vermischt worden.

Lit. Kaukas, apr. Cawx, oder Barstukken sind Erdgeister, ähnlich dem Puschkait, Trolle, Kobolde. Ihr Sichtbarwerden bringt Glück.

Bei den Balten ist bis in die Neuzeit Schlangenkult bezeugt, der nach der Christianisierung abergläubische Formen annahm.

Siehe auch

Literatur

  • Jonas Balys, Haralds Biezais: Baltische Mythologie. In: Hans Wilhelm Haussig, Jonas Balys (Hrsg.): Götter und Mythen im Alten Europa (= Wörterbuch der Mythologie. Abteilung 1: Die alten Kulturvölker. Band 2). Klett-Cotta, Stuttgart 1973, ISBN 3-12-909820-8, S. 373–454 (online)
  • Hans Bertuleit: Das Religionswesen der alten Preussen mit litauisch-lettischen Parallelen, in: Sitzungsbericht der Altertumsgesellschaft Prussia, H. 25, Königsberg 1924.
  • Haralds Biezais: Baltische Religion. In: Åke V. Ström, Haralds Biezais (Hgg.): Germanische und baltische Religion (= Die Religionen der Menschheit. Band 19/1). Kohlhammer, Stuttgart 1975, S. 311–383.
  • Haralds Biezais: Art. Baltikum. I. Die baltische Religion. In: Theologische Realenzyklopädie (TRE), Bd. 5: Autokephalie – Biandrata, 1980, S. 138–145.
  • Haralds Biezais, Sigma Ankrava: Baltic Religion, in: Lindsay Jones (Hg.): Encyclopedia of Religion, 2. Aufl., Bd. 2, Macmillan / Thomson Gale 2005, S. 756–762.
  • Didier Calin: Indo-European Poetics and the Latvian Folk Songs. FU Berlin 1996 (online, materialreiche M.A.-Examensarbeit).
  • Haralds Biezais: Die baltische Ikonographie, Brill, Leiden 1985.
  • H. Frischbier: Hexenspruch und Zauberbann, Berlin 1870 / Hannover 1970.
  • Wilhelm Gaerte: Volksglaube und Brauchtum in Ostpreußen, Würzburg 1956.
  • Marija Gimbutas: Die Balten – Volk im Ostseeraum, Herbig 1963, ISBN 3-7766-1266-5.
  • Wilhelm Mannhardt: Letto-Preussische Götterlehre, Lettisch-Literärische Gesellschaft, Riga 1936.
  • Pranas Meškauskas: Volksbräuche im litauischen Familienleben: (Niederkunft, Taufe, Hochzeit und Begräbnis der preußischen Litauer), Lituania, Tilsit 1936, DNB 570574773, (Dissertation Universität Leipzig 1936).
  • Nikolai Mikhailov: Baltische und slawische Mythologie, Madrid 1998. ISBN 84-87863-63-9.
  • Norbertas Vėlius: Baltų religijos ir mitologijos šaltiniai, Vilnius 1996ff. ISBN 5-420-01579-X (Bisher vier Bände, die sämtliche bekannten historischen Quellen zur baltischen Religion und Mythologie in Originalsprache und litauischer Übersetzung bringen – zumeist im Auszug und kommentiert).
  • Vykintas Vaitkevičius: Studies into the Balts’ Sacred Places (PDF; 12,1 MB), Lithuanian Institute of History, BAR International Series 1228, Oxford 2004.
  • E. Wolter: Perkunastempel und litauische Opfer- und Deivensteine, in: Mitteilungen der Lit.-liter.Gesellschaft 4 (1899).
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