Das buffonsche Nadelproblem fragt nach der Wahrscheinlichkeit, dass eine willkürlich geworfene Nadel ein Gitter paralleler Linien schneidet. Es erlaubt unter anderem, die Kreiszahl experimentell zu bestimmen. Das Problem gehört zum Bereich der Integralgeometrie und war eines der ersten auf diesem Gebiet. Georges-Louis Leclerc de Buffon behandelte es erstmals 1733 vor der Pariser Akademie der Wissenschaften und nochmals ausführlicher im Supplement zu seiner Histoire Naturelle 1777.
Experimentelle Durchführung
Benötigt werden möglichst viele identische Stäbchen. Auf einer ebenen Unterlage werden parallele Hilfslinien im Abstand konstruiert.
Alle vorhandenen Stäbchen werden zufällig auf der Unterlage verstreut. Abschließend zählt man, wie viele Stäbchen eine der Linien kreuzen.
Falls der Abstand der Linien gleich der Länge der Stäbchen ist, so erhält man eine Näherung für , indem man die Anzahl aller genutzten Stäbchen mit 2 multipliziert und durch die Anzahl der Stäbchen, welche eine Linie kreuzen, teilt.
Auf dem Bild rechts kreuzen 11 von 17 Stäbchen eine Linie; es ergibt sich also die Näherung
- .
Gilt (Fall kurzer Stäbchen), so ist (wie im Folgeabschnitt abgeleitet) die Formel für die Trefferwahrscheinlichkeit . Nach umgestellt, und unter Benutzung der relativen Häufigkeiten als Schätzer für p folgt der Schätzer
wobei die Anzahl aller Stäbchen der Länge bezeichnet. ist die Anzahl aller Stäbe, die eine der Linien kreuzen und ist der Abstand zweier benachbarter Linien.
Nach dem Gesetz der großen Zahlen nähert sich die relative Häufigkeit für eine große Anzahl an Stäbchen der angegebenen Wahrscheinlichkeit an:
- und damit für .
Für den Fall (Fall langer Stäbchen) ist der Zusammenhang etwas komplizierter.
Beweis für Nadeln beliebiger Länge
Der Winkel unter dem die Nadel auf die Linien trifft ist eine gleichverteilte Zufallsvariable. Eine Realisierung dieser Zufallsvariablen wird durch ein kleines notiert. Ob eine Nadel eine Linie berührt (1) oder nicht (0) ist eine Bernoulli-verteilte Zufallszahl . Der Erwartungswert wird im Experiment geschätzt:
Fall kurzer Nadeln
Für den Fall (kurze Nadel) betrachte man nur einen waagerechten Streifen der Breite d, siehe Abbildung rechts für den Fall . Eine Nadel der Länge berührt den Rand, falls der auf der senkrechten gestrichelten Linie liegende Endpunkt der Nadel innerhalb eines Streifens der Breite von einem der beiden Ränder liegt. Die bedingte Wahrscheinlichkeit für die Existenz eines Schnittpunktes ist . Die gemeinsame Verteilung ist somit: Marginalisierung über den Winkel ergibt die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Nadel eine Linie berührt:
Somit ist bzw. . Daher ist ein Schätzer für .
Fall langer Nadeln
Im Fall (lange Nadel) muss man die Möglichkeit der mehrfachen Berührung von Linien berücksichtigen, so dass die Formeln komplizierter werden:
Man kann statt des Arkussekans in der letzten Formel auch benutzen. Im Fall ergeben beide Formeln . Im Fall der langen Nadel wächst streng monoton mit der Nadellänge und geht für gegen 1.
Der Beweis von Barbier für kleine Nadeln
Barbier gab 1860 für den Fall kleiner Nadeln einen Beweis, der ohne Integration auskommt. Zunächst wird gezeigt, dass der gesuchte Erwartungswert für die Anzahl der Treffer eine lineare Funktion der Länge der Nadel ist ( mit der Länge ), was auch für beliebige Kurven gilt, da man sie durch einen Streckenzug approximieren kann. Zu bestimmen ist die Proportionalitätskonstante c. Dazu wird der Fall von Kreisen mit Durchmesser d betrachtet, die immer genau 2 Treffer auf den Parallellinien im Abstand d haben. Man nähert den Kreis durch ein- und umgeschriebene Vielecke P, Q (mit dem Umfang p bzw. q) und erhält:
Und bei Grenzübergang der Seitenanzahl der Vielecke gegen unendlich:
also und somit das gewünschte Ergebnis .
Wegen seiner Eleganz wurde der Beweis von Barbier von Aigner und Ziegler in Das Buch der Beweise aufgenommen.
Verallgemeinerungen
Man kann nach anderen Figuren als Strecken fragen, die zufällig auf eine Ebene geworfen werden, beispielsweise Polygonzüge. Aus der Formel für das Buffonproblem folgt für Polygone mit einem Durchmesser kleiner und dem Umfang die Trefferwahrscheinlichkeit
- .
Nähert man eine geschlossene Kurve durch einen solchen Polygonzug, ergibt sich auch in diesem Fall die Trefferwahrscheinlichkeit, wenn man den Umfang des Polygonzugs durch die Länge der Kurve ersetzt (auch hier muss der Durchmesser kleiner sein). Das sind die Ausgangspunkte zu Methoden der Integralgeometrie, aus geeigneten Trefferwahrscheinlichkeiten Formeln zum Beispiel für die Bogenlänge von Kurven zu erhalten.
Im sogenannten Buffon-Laplace-Nadelproblem fragt man nach der Trefferwahrscheinlichkeit für ein Rechteck-Gitter mit Seitenlängen und . Für kleine Nadeln ( und ) ergibt sich
- .
Das Problem lässt sich auch auf den Wurf anderer Körper ausdehnen, wie in dem auch von Buffon 1733 angesprochenen Franc-Carreau-Problem: man werfe eine Münze (Kreisscheibe, Durchmesser ) auf ein Quadratgitter (Seitenlänge ), wobei sei. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Münze auf dem Rand zu liegen kommt? Da die Münze den Rand nur berühren kann, falls ihr Mittelpunkt im Abstand vom Rand ist, lässt sich durch einfache geometrische Überlegungen die Trefferwahrscheinlichkeit als Flächenverhältnis angeben:
Für ein faires Spiel muss sein.
Historisches
Über das Nadelproblem und ähnliche Probleme berichtete Buffon 1733 vor der Französischen Akademie der Wissenschaften, wie Fontenelle berichtet. Von Interesse war es in Zusammenhang mit einem damals bei Adligen beliebten Spiel: man werfe eine Münze auf ein Kachelmuster und wette auf die Lage der Münze, ob sie eine der Ritzen berührt oder nicht (Franc-Carreau-Problem). Buffon ging darauf ausführlicher 1777 ein, wobei er im Fall des Nadelproblems auch schon die korrekte Antwort vermutete. Insbesondere leitete er aus der Formel für kurze Nadeln ab, dass für ein faires Wetten (d. h. für Wetten mit 50-prozentiger Gewinnwahrscheinlichkeit) beim Nadelproblem das Verhältnis sein muss. Für den Wurf auf ein quadratisches Gitter gab er allerdings eine falsche Formel an. Die korrekte Formel (auch im Fall eines Rechteck-Gitters) gab erst Pierre Simon de Laplace 1812 an, ohne Buffon zu erwähnen. Er zitierte das als Beispiel für die Anwendung der Wahrscheinlichkeitstheorie auf die Bestimmung von Kurvenlängen und Flächeninhalten. Das wurde dann unter anderem von Isaac Todhunter 1865 ausgeführt. Aus der Beschäftigung mit dem buffonschen Nadelproblem ergab sich auch Croftons Formel (siehe Morgan Crofton) für die Bogenlänge einer Kurve in der Integralgeometrie (1868).
Ein gewisser Mario Lazzarini soll 1901 den umfangreichsten experimentellen Test der Formel durchgeführt haben (mit einer eigens gebauten Maschine), mit 3408 Würfen von Nadeln mit einem Längenverhältnis . Sein Ergebnis war 1808 Treffer, so dass sich ein Wert von von ergab, auf sechs Stellen hinter dem Komma genau. Die von ihm angegebenen Zahlen sind jedoch verdächtig (andere Autoren interpretierten das als Glückstreffer) und scheinen auf die bekannte Näherung für zugeschnitten zu sein. Der Astronom Wolf führte das Experiment 1850 aus mit und erhielt bei 5000 Würfen 2532 Treffer, entsprechend einer Abschätzung für von Weitere Experimente führte Ambrose Smith 1855 mit 3204 Würfen () bei 1218 Treffern aus, was für einen Wert von ergibt. Hans-J. Bentz führte das Experiment mit 2000 Würfen aus und erhielt für .
Literatur
- Martin Aigner, Günter M. Ziegler: Das Buch der Beweise, Springer Verlag 2002, Kapitel 24 Das Nadelproblem von Buffon, S. 179–182
- Persi Diaconis: Buffon’s Needle Problem with a Long Needle, J. Appl. Prob. 13, 1976, S. 614–618 (Verteilung der Anzahl der Treffer bei langen Nadeln)
- P. Holgate: Buffon’s cycloid, Studies in the history of probability and statistics XXXIX, Biometrika 68 (3) (1981), 712–716 (zur Geschichte)
- Magdalena Hyksova, Anna Kalousova, Ivan Saxl: Early history of geometric probability and stereology, Image Anal. Stereology 31, 2012, 1–16, pdf
- Maurice George Kendall, P. A. P. Moran: Geometric Probability, London: Charles Griffin, 1963, S. 70ff
- P. H. Müller (Hrsg.): Lexikon der Stochastik – Wahrscheinlichkeitsrechnung und mathematische Statistik. 5. Auflage. Akademie-Verlag, Berlin 1991, ISBN 978-3-05-500608-1, Buffonsches Nadelproblem (Buffon’s needle problem), S. 46–47.
- Isaac Todhunter: A History of the mathematical theory of probability from the time of Pascal to that of Laplace, Macmillan 1865, S. 347ff, Archive
- L. Schroeder: Buffon’s needle problem: An exciting application of many mathematical concepts, Mathematics Teacher, 67, 1974, S. 183–186
- James Victor Uspensky: Introduction to Mathematical Probability, McGraw Hill 1937, S. 112ff
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ Später stellte sich heraus, dass auch Isaac Newton Überlegungen auf diesem Gebiet angestellt hatte, diese aber nicht veröffentlichte
- ↑ Isaac Todhunter: History of the Mathematical Theory of Probability, 1865, S. 203
- ↑ John J. O’Connor, Edmund F. Robertson: Georges Louis Leclerc Comte de Buffon. In: MacTutor History of Mathematics archive.
- ↑ Buffon: Essai d’arithmétique morale, Histoire naturelle, générale er particulière, Supplément 4, 46-123, 1777. Der Essay stammt aus der Zeit um 1760. Todhunter, History of the Mathematical Theory of Probability, 1865, S. 344
- ↑ Eric Weisstein: Buffon's Needle Problem. In: MathWorld (englisch).
- ↑ Die Ableitung ist aber nicht viel schwieriger. Man macht beim Integrationsbereich eine Fallunterscheidung in einen Bereich, in dem nur eine Berührung stattfinden kann, bei dem die Integration wie bei kurzen Nadeln ausgeführt werden kann, und einen Bereich mit mindestens einer Berührung, dort ist die Wahrscheinlichkeit 1. Siehe Aigner, Ziegler.
- ↑ E. Barbier: Note sur le problème de l’aiguelle et le jeu du joint couvert, J. Math. Pures et Appliqués, Band 5, 1860, S. 273–286
- ↑ Aigner, Ziegler: Das Buch der Beweise, Springer Verlag, Kapitel 24
- ↑ Zum Beispiel Boris Wladimirowitsch Gnedenko Theory of Probability, MIR Publishers, 1978, S. 38f
- ↑ Eric Weisstein: Buffon-Laplace Needle Problem. In: MathWorld (englisch).
- ↑ Diderot, Enzyklopädie 1752 zum Franc Carreau Problem, PDF (Memento des vom 21. September 2013 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- ↑ Histoire de l’Academie royale des Sciences, année 1733, Paris 1735, S. 43–45, nur in einer kurzen Mitteilung
- ↑ Laplace: Théorie analytique des probabilités, Paris: Veuve Courcier, 1812, S. 359ff
- ↑ Genauer zur Analyse von Resultaten wie dem von Lazzarini: Gnedenko Theory of Probability, MIR 1978, S. 37f. Ist die Anzahl der Würfe kleiner als 5000, folgt schon aus elementaren Überlegungen, dass schon bei Änderung der Trefferanzahl um 1 die vierte Dezimalstelle geändert wird. Nach Gnedenko ist die Wahrscheinlichkeit, gerade diesen Zahlenwert für im Fall des Experiments von Lazzarini zu erhalten, kleiner als drei Prozent.
- ↑ Kendall, Moran: Geometric Probability, S. 70 führen scherzhafter Weise in ihrer Tabelle der Experimente auch folgenden Eintrag von N. T. Gridgeman (Geometric Probability and the Number Pi, Scripta Mathematica 25, 1960, 183–195): Anzahl der Würfe: 2, Treffer: 1, , ergibt die Näherung für von
- ↑ Nach Aigner, Ziegler:
- ↑ Siehe dazu auch: Lee Badger: Lazzarini’s Lucky Approximation of π, Mathematics Magazine, Band 67, 1994, 83–91
- ↑ Biographie von Wolf in der ADB von Siegmund Günther
- ↑ Kendall, Moran: Geometric Probability, S. 70
- ↑ Augustus De Morgan berichtet darüber in A Budget of Paradoxes 1872, siehe Uspensky: Introduction to Mathematical Probability, 113
- ↑ Genauer 1213 bei 11 unklaren Fällen, von denen die Hälfte gewertet wurde
- ↑ H.-J. Bentz: Das Buffon-Nadelproblem (1777), Praxis der Mathematik, 22, 1980, Heft 6, S. 167–171
- ↑ Simulation mit einem Computerprogramm (Monte-Carlo-Verfahren): Hans-J. Bentz: Zur Simulation des Buffon Nadelproblems, Praxis der Mathematik, 24, 1982, Heft 5, S. 129–137