Caritas Romana (lat. für römische Liebe) ist ein Sujet der europäischen Kunst und Literatur. Es geht zurück auf die von Valerius Maximus verbreitete Legende, wonach erwachsene Frauen einem Elternteil, das im Gefängnis vom Hungertod bedroht war, das Leben retteten, indem sie ihm die Brust gaben. In der Antike galt die Geschichte als Musterbeispiel für pietas, also für treue Kindesliebe. Im Christentum wurde es im Sinne der caritas gedeutet, also der Nächstenliebe und Barmherzigkeit.

Antike

Von Valerius Maximus sind die etwa 30 n. Chr. unter Tiberius (14–37 n. Chr.) entstandenen Factorum ac dictorum memorabilium libri überliefert, die unter anderem die Erzählung der „Caritas Romana“ (Römische Caritas) in zwei verschiedenen Versionen enthält. Die Geschichte handelt von einem Elternteil, der im Gefängnis verhungern soll. In der ersten Version von Valerius Maximus ist es die Mutter, in der zweiten Version der Vater. Nur der jungen Tochter wird der Zutritt erlaubt, nachdem diese gründlich nach Lebensmitteln durchsucht wurde. Die Tochter aber, die kurz zuvor entbunden hatte, reicht Mutter/Vater ihre eigene Brust zum Trinken und bewahrt sie/ihn so vor dem Verhungern. Als das schließlich bekannt wird, begnadigt der Prätor beeindruckt von dieser Tat den Elternteil und man errichtet der Tochter später einen Tempel, dort wo früher (angeblich) das Gefängnis gestanden hatte.

Die Geschichte selbst ist vermutlich sehr viel älter, jedenfalls hat sie schon in der Antike in mehreren Versionen existiert, in denen auch mehrere Namen verwendet wurden: Cimon (Cimo, Kimon) und Pero (Peres, Pera), Xanthippe und Mycon und später in Griechenland Tectaphus und Eerie. Die Geschichte muss damals bereits sehr bekannt gewesen sein; so sind alleine in Pompeji (verschüttet 79 n. Chr.) schon drei bildliche Darstellungen dieser Geschichte gefunden worden.

Literatur

In der europäischen Neuzeit ist die Geschichte durch Boccaccio in seinem Werk De claris mulieribus (Von den berühmtesten Frauen) im Jahr 1362 wieder aufgegriffen worden. In kirchlichen Predigten des 17. Jahrhunderts wird das Thema immer wieder aufgegriffen, wobei in diesem Fall fast durchgängig die Mutter-Tochter-Version gewählt wurde, während bei der bildlichen Darstellung nahezu nur die Vater-Tochter-Variante existiert. Im ersten Fall geht man davon aus, dass erotische Bezüge zugunsten der caritativen vermieden werden sollten, während bei der bildlichen Darstellung gerade die erotische Komponente eine nicht unerhebliche Rolle spielt.

Ende des 20. Jahrhunderts recht bekannt geworden ist der Roman Früchte des Zorns von John Steinbeck, wo in der Schlussszene die Tochter der Familie einem verhungernden Mann die Brust gibt. Der eigentliche Reiz der bildlichen Darstellung dürfte für viele Künstler das Spannungsfeld zwischen der rein caritativen Darstellung und der Erotik der Szene liegen. Was überwiegt, lässt sich in der Bildanalyse recht gut anhand vieler Einzelmerkmale festmachen, wie zum Beispiel Blickkontakt, großflächiger Körperkontakt, Handposition, vitale Darstellung des Manns, Menge und Art unbedeckter Körperstellen, anwesende Beobachter und anderes mehr. Der israelische Schriftsteller Abraham B. Jehoschua griff das Sujet in der von Steinbeck abgewandelten Form wieder auf. In seinem 2011 veröffentlichten Roman Spanische Barmherzigkeit überwirft sich der Protagonist, ein Regisseur, mit seinem langjährigen Freund, einem Drehbuchautor, nachdem dieser verlangt hat, dass die Freundin des Regisseurs für eine Filmszene einem Bettler am Straßenrand die Brust geben soll.

Bildende Kunst

Bereits aus der römischen Antike sind mehrere Darstellungen des Themas bekannt; bei den Ausgrabungen in Pompeji wurden mindestens drei entsprechende Bilder gefunden. Ein erneutes Aufgreifen und Veröffentlichen der Geschichte durch Giovanni Boccaccio um das Jahr 1362 führte zu den erwähnten zahlreichen neueren Darstellungen der Szene, die bis in die heutige Zeit anhalten. In der Neuzeit war das Sujet sehr beliebt: Andor Pigler zählte alleine bis zum Ende des 18. Jahrhunderts schon etwa 230 bildliche Darstellungen Rubens, eines als Motiv in Caravaggios Gemälde.

Film

In Jerzy Skolimowskis Kriegsfilm Essential Killing (2010) gelingt einem in Osteuropa gefangenen Afghanen (Vincent Gallo) nach Folterungen die Flucht durch die Wälder. Die Milch einer stummen Mutter (Emmanuelle Seigner) dient ihm dabei als Nahrungsquelle und steigert so verstörend die Dramatik.

Commons: Caritas Romana – Sammlung von Bildern

Literatur

  • Elfriede R. Knauer: Caritas Romana. In: Jahrbuch der Berliner Museen 6. (1964), S. 9–23
  • Jutta Sperling: Roman Charity: Queer Lactations in Early Modern Visual Culture. Bielefeld 2016, ISBN 978-3-8394-3284-6 (transcript-verlag.de).

Einzelnachweise

  1. Valerius Maximus: Facta et dicta memorabilia. Kapitel: 5,4 De pietate in parentes.; Englische Übersetzung: Valerius Maximus, Memorable Doings and Sayings. ed. by D. R. Shackleton Bailey (Harvard University Press, 2000), Band 1, Buch v, Nr. 4, S. 501–503.
  2. Jutta Sperling: Roman Charity: Queer Lactations in Early Modern Visual Culture. transcript Verlag, Bielefeld 2016.
  3. Mary Beagon: The Elder Pliny on the Human Animal: Natural History Book 7. Oxford University Press, 2005, ISBN 0-19-927701-X, S. 314.
  4. Giovanni Boccaccio: De claris mulieribus, chapter: LXV. De romana iuvencula. Englische Übersetzung: Giovanni Boccaccio: Famous Women. Edited and translated by Virginia Brown. The I Tatti Renaissance Library, Harvard University Press, Cambridge MA, London 2001
  5. István Bitskey: Das Motiv Caritas Romana in der ungarischen und deutschen Literatur der Frühen Neuzeit. Tagung der Institute für Komparatistik, Germanistik und Ungarische Literaturwissenschaft der Károly-Eszterházy-Hochschule Eger und des Germanistischen Instituts der RWTH Aachen in Verbindung mit der Grimmelshausen-Gesellschaft e. V. am 9. Oktober in Eger/Ungarn
  6. Pompeji: (1) „Gruppi figurati con perona e avicane“ im Pompeji-Museum Neapel, (2) Wandgemälde im Haus des Marcus Lucretius Fronto, (3) Wandgemälde „Micon e Pero“ im Museo Nazionale Romano – Palazzo Massimo, Ausstellung „Rosso Pompeiano“
  7. Andor Pigler: Barockthemen. Eine Auswahl von Verzeichnissen zur Ikonographie des 17. und 18. Jahrhunderts. Band 2. Budapest 1974.
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