Als Zerebralisation (auch: Cerebralisation oder Encephalisation) bezeichnet man die evolutionäre Herausbildung einer Konzentration von Nervenzellen, aus der sich im Verlauf der Stammesgeschichte mehrfach und unabhängig voneinander ein zentrales Koordinationsorgan – ein Gehirn – bildete. Ein Sonderfall des Geschehens ist die evolutionäre Entwicklung der Großhirnrinde beim Menschen, die Kortikalisierung.

Im Verlauf der Stammesgeschichte des Menschen und der Hominisation war die Vergrößerung des Hirnvolumens ein charakteristisches Merkmal seiner Evolution (siehe Tabelle rechts).

Entwicklung des Gehirns im Laufe der Evolution

TaxonGehirnvolumen
in cm3
Schimpansenca. 400
Sahelanthropus tchadensis365
Ardipithecus ramidus280–350
Australopithecus afarensis458
(335–580)
Australopithecus africanus464
(426–502)
Homo rudolfensisca. 750
(501–950)
Homo habilis610
(544–674)
Homo ergaster764
(640–888)
Homo erectus1003
(956–1051)
Homo antecessorca. 1000
Homo heidelbergensis1204
(1130–1278)
Neandertaler1426
(1351–1501)
Homo sapiens1478
(1444–1512)

Im Laufe der Evolution hat sich das Gehirn aus einfach gebauten Vorstufen zu einem immer komplexeren System entwickelt. Quallen gehören zu den ältesten heute noch existierenden Organismen, die über ein einfaches Nervensystem verfügen, das aus einem Netz von Neuronen besteht. Im Unterschied zu radialsymmetrischen Tieren wie Quallen und Seesternen konzentrieren sich bei Tieren, die (wie die Würmer) eine Bewegungsrichtung bevorzugen, die Nerven- und Sinneszellen an einem ihrer Enden (genannt „Vorderseite“), also dort, wo sich die bewegungsrelevanten Reize häufen.

Wurde dieser Bauplan im Verlauf der Evolution beibehalten, entwickelte sich an der so definierten Vorderseite in unterschiedlichen Tiergruppen unabhängig voneinander ein markanter Körperteil, genannt Kopf (siehe Cephalisation), der das Gehirn umschließt und schützt.

Beim Menschen ist der Hirnstamm der stammesgeschichtlich älteste Teil des Gehirns, an dessen unterem Ende sich das Rückenmark anschließt. Im Hirnstamm werden zahlreiche automatische und reflexartige Vorgänge gesteuert. Vom Kleinhirn werden beispielsweise Gleichgewichtssinn und Motorik verarbeitet, das Zwischenhirn ist u. a. beteiligt an der Schlaf-Wach-Steuerung und am Schmerzempfinden. Das Großhirn schließlich ist zum Beispiel an Gedächtnis und Denkvorgängen beteiligt.

Vergleichsmaßstab

Speziell bei Säugetieren dient der Enzephalisationsquotient (EQ) – das Verhältnis von Hirnmasse zu Körpermasse – als Maß für die Komplexität und die hiermit verbundenen kognitiven Fähigkeiten unterschiedlich großer Arten.

Der EQ gibt das Verhältnis des Gehirngewichts einer Tierart zu dem errechneten durchschnittlichen Hirngewicht an, das andere Tiere mit demselben Körpergewicht haben beziehungsweise das sie theoretisch hätten, wenn sie dasselbe Körpergewicht hätten.

Dabei kann eine Tierart mit einem ungefähr mittleren Wert als Referenz-Spezies bestimmt werden. Ein EQ von 1 bedeutet dann, dass das Verhältnis von Hirngewicht und Körpergewicht bei der betreffenden Art mit dem Wert bei der Referenz-Spezies übereinstimmt. Beim Vergleich mit der Katze als Referenz-Spezies für Säugetiere liegt der EQ des Menschen bei 7,4–7,8, der des Schimpansen bei 2,2–2,5.

Folgen der Zerebralisation

Da das Gehirn ein sehr energiezehrendes Organ ist, bedeutet Zerebralisation einen erhöhten Energiebedarf durch die Nahrung: Obgleich das Gehirn des Menschen nur 2 % des Körpergewichtes beinhaltet, beansprucht es etwa 20 % des Grundumsatzes.

Eine deutliche Zunahme des Hirnvolumens der Neugeborenen im Lauf der Evolution ist nur möglich, wenn sich auch der Geburtskanal entsprechend erweitert.

Literatur

  • Adolf Portmann: Einführung in die vergleichende Morphologie der Wirbeltiere, p. 141, Kapitel Cerebralisation, Basel 1976, 5. revidierte Auflage, Schwabe & Co, ISBN 3-7965-0668-2
  • Sally C. Reynolds und Andrew Gallagher (Hrsg.): African Genesis: Perspectives on Hominin Evolution. Cambridge University Press, New York, 2012

Siehe auch

Wiktionary: Zerebralisation – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. 1 2 Gisela Grupe, Kerrin Christiansen, Inge Schröder und Ursula Wittwer-Backofen: Anthropologie. Ein einführendes Lehrbuch. Springer, 2005, S. 15 ISBN 978-1-107-01995-9
  2. Henke und Rothe, 1998
  3. Storch et al., 2001
  4. Ronald M. Nowak: Walker’s mammals of the world. 6. Auflage. Johns Hopkins University Press, Baltimore 1999, S. 613
    Wolfgang Maier: Primates, Primaten, Herrentiere. In: Wilfried Westheide, Reinhard Rieger (Hrsg.): Spezielle Zoologie. Teil 2. Wirbel- oder Schädeltiere. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg/Berlin 2004, S. 573
  5. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 Matthew M. Skinner und Bernard Wood: The evolution of modern human life history – a paleontological perspective. In: Kristen Hawkes und Richard R. Paine (Hrsg.): The Evolution of Modern Human Life History. School of American Research Press, Santa Fe 2006, S. 351, ISBN 978-1-930618-72-5. – Ausgewiesen ist jeweils das arithmetische Mittel und in Klammern das 95 %-Konfidenzintervall.
  6. Gen Suwa et al.: The Ardipithecus ramidus Skull and Its Implications for Hominid Origins. In: Science. Band 326, 2009, S. 68, 68e1–68e7, doi:10.1126/science.1175825
  7. Gary J. Sawyer, Viktor Deak: Der lange Weg zum Menschen. Lebensbilder aus 7 Millionen Jahren Evolution. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg, 2008, S. 79
  8. Friedemann Schrenk: Die Frühzeit des Menschen. Der Weg zum Homo sapiens, C. H. Beck, 1997, S. 70
  9. Harry J.Jerison: Evolution of the Brain and Intelligence. Academic Press, 1973, ISBN 0-12-385250-1.
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