Deterministische Simulationsmodelle als Insolvenzprognoseverfahren sind sowohl im bank- als auch im versicherungsregulatorischen Kontext bei der Ermittlung der Ausfallwahrscheinlichkeit von Unternehmen von Bedeutung, aber auch bei der Ratingvergabe durch die großen Ratingagenturen. Die Vergabe von Ratings auf Basis von deterministischen Simulationen (Stressszenarien) wird sogar explizit als ein zulässiges Verfahren für die Bonitätsbeurteilung im Regelwerk von Basel II erwähnt, das ansonsten methodisch sehr offen ist.

Einperiodenmodelle vs. Mehrperiodenmodelle

Im Fall von Mehrperiodensimulationen werden auf Basis eines oder mehrerer Szenarien je ein Entwicklungspfad des Unternehmens über einen bestimmten Zeitraum ermittelt („simuliert“). Im (typischeren) Fall von Einperiodensimulationen wird auf eine zeitlich differenzierte Modellierung der Szenarien verzichtet; stattdessen werden nur die unmittelbaren Auswirkungen bestimmter „außergewöhnlicher, aber plausibler Schockereignisse“ auf das Unternehmen betrachtet. Die einzelnen Szenarien können dabei sowohl aus detaillierten Beschreibungen der Ausprägungen einzelner Risikofaktoren als auch – im Fall von Mehrperiodensimulationen – allgemeinen Fortschreibungsregeln bestehen.

Szenarioanalyse vs. Sensitivitätsanalyse

Je nachdem, ob den Analysen konkrete benennbare Ereignisse mit genau spezifizierten Auswirkungen auf die modellierten Risikofaktoren zugrunde liegen oder nicht, wird begrifflich nach Szenario- und Sensitivitätsanalysen unterschieden. Sensitivitätsanalysen liegt ferner typischerweise ein deutlich kürzerer Prognosehorizont zugrunde als Szenarioanalysen. Die in den jeweiligen Szenarien unterstellten Ausprägungen der Risikofaktoren können auf rein fiktiven Vorgaben basieren, sich an (ungünstigen) historischen Beobachtungen („historische Simulation“) orientieren oder aus vorgeschalteten Modellannahmen („Makromodellen“) abgeleitet werden.

Einsatz von deterministischen Simulationsmodellen bei Banken

Die im Bankenkontext derzeit verwendeten deterministischen Simulationsmodelle (Stresstestmodelle) werden allerdings überwiegend nicht zur Erstellung von Insolvenzprognosen bzw. der hiermit korrespondierenden Ermittlung „ökonomischen Kapitals“, sondern zur Festlegung von Investitionslimiten und zur Kapitalallokation verwendet, insbesondere im Zusammenhang mit der Modellierung außergewöhnlicher Risiken, die im Rahmen herkömmlicher VaR-Ansätze nicht adäquat abgebildet werden können. Die von den Banken verwendeten Modelle unterscheiden sich zwischen den verschiedenen Finanzinstitutionen erheblich, die Ergebnisse werden geheim gehalten. Die Analysen beziehen sich hauptsächlich auf liquide Märkte, seltener auch auf nichthandelbare Kreditrisiken und unterschiedliche Risikoarten (darunter besonders häufig auf Zinsänderungsrisiken).

Bei Verwendung historischer Szenarien werden folgende Ereignisse von Banken besonders häufig zugrunde gelegt: „Schwarzer Montag“ (Oktober 1987), weltweite Anleihenmarktkrise (1994), Asienkrise (1997), Russlandkrise – z. T. in Kombination mit der LTCM-Krise (1998), Terroristische Anschläge in den USA (2001). Erstaunlich ist dabei, wie unterschiedlich Banken identische historische Ereignisse modellieren. Die mit „Schwarzer Montag (1987)“ betitelten Szenarien bestehen beispielsweise aus Kursverlusten des S&P 500-Aktienindex um 4 % bis 36 %, im Median um 23 %. Ferner unterscheiden sich die simultan für die anderen Märkte angenommenen Auswirkungen. Nur die Hälfte der „Schwarzer Montag (1987)“- Szenarien betrachteten zusätzlich auch die Anleihemärkte – wobei in 60 % der Szenarien rückläufige und in 40 % der Szenarien steigende Zinsen unterstellt wurden. Gegenüber der historischen Simulation hat die modellgestützte Vorgehensweise bei der Definition der Risikoparameter den Vorteil, dass sie nicht auf wenige, möglicherweise zufällige oder untypische historische Ereignisse zur Modellierung künftiger adverser Ereignisse angewiesen ist. Andererseits erfordert die modellgestützte Vorgehensweise eine explizite Modellierung der gemeinsamen Verteilungsfunktion aller Risikoparameter – wofür aber möglicherweise die theoretischen und empirischen Grundlagen fehlen.

Ergebnisse der Simulation sind die für die einzelnen Szenarien ermittelten Ausfallzustände (Solvenz vs. Insolvenz oder Einhaltung vs. Nichteinhaltung aufsichtsrechtlicher Vorgaben) bzw. -zeitpunkte (bei Mehrperiodenbetrachtungen). Insolvenzprognosen können aber auch mittels herkömmlicher empirisch-statistischer Verfahren auf Basis von Kennzahlen erstellt werden, die auf dem Modelloutput (beispielsweise der simulierten EBIT-Marge, der Eigenkapitalquote zum Ende des Simulationszeitraumes usw.) basieren.

Kritik an deterministischen Simulationsmodellen

Theoretische Schwachpunkte der deterministischen Simulationen sind die Beschränkung auf eine geringe Anzahl von Szenarien (häufig wird nur ein einziges Szenario betrachtet) und/oder Risikofaktoren trotz Nichtadditivität der üblichen Risikomaße, die willkürliche Wahl von Szenarien, deren Relevanzen (Wahrscheinlichkeit, mit der ein Szenario mit mindestens genau so großer Schadenswirkung eintritt) unbestimmt sind und individuell differieren können. Weitere Probleme beim praktischen Einsatz der Stresstestmodelle resultieren aus der mangelnden Verfügbarkeit historischer Daten und, speziell bei Einperiodensimulationen, aus dem zu kurzfristigen, ereignisbezogenen Prognosehorizont der Modelle, bei denen Folge- und Langzeiteffekte vernachlässigt werden. „Gerade die Kumulierung von ‚Stress-Ereignissen’ wirkt aber unter Umständen stabilitätsgefährdend, während isolierte Schocks für sich genommen relativ unproblematisch erscheinen können.“

Einige der genannten Kritikpunkte an deterministischen Simulationen könnten relativ einfach durch eine stochastische Modellierung der individuellen Risiken behoben werden. Der Verzicht hierauf wird mit dem dafür erforderlichen, speziell im regulatorischen Kontext als unangemessen hoch erachteten individuellen Modellierungsaufwand begründet. Ferner werden szenariobasierte Simulationsansätze als leichter kommunizierbar angesehen als stochastische Simulationsverfahren, oder es wird auf die höheren rechentechnischen Anforderungen verwiesen.

Quellen

  1. Zu aufsichtsrechtlichen deterministischen Simulationsmodellen im Kontext von Versicherungsunternehmen siehe Cummins, Grace, Phillips (1999), BaFin (2004), Lopez (2005, S. 2f.) und im Kontext von Banken siehe Deutsche Bundesbank (2003, 2004). Zum Einsatz deterministischer Simulationsmodelle durch Banken siehe FRB (1998), Paura, Jokivuolle (2004), Sorge (2004), Basler Ausschuss (2005b) und Lopez (2005).
  2. siehe hierzu ausführlich Treacy, Carey (2000) und Carey, Hrycay (2001). Die Vergabe von Ratings auf Basis von Stressszenarien wird insbesondere dann praktiziert, wenn eine kreditzyklusübergreifende Stabilität der Ratingurteile angestrebt wird (“rating through the cycle”), siehe Löffler (2004) und Basler Ausschuss (2005a, S. 12 und S. 21ff.). Zum Rating von Versicherungsunternehmen mittels deterministischer Simulationen siehe FitchRatings (2003)
  3. siehe FRB (1998, S. 42) “Stress testing is used routinely by the credit rating agencies, who often assign credit ratings on the basis of a security’s ability to withstand various stress scenarios: to qualify for a AAA rating, the security would have to avoid defaulting under a AAA-scenario, to quality for a AA rating, the security would have to withstand a AA-scenario, and so forth.”
  4. siehe Basler Ausschuss (2004, §415): “A borrower rating must represent the bank’s assessment of the borrower’s ability and willingness to contractually perform despite adverse economic conditions or the occurrence of unexpected events. For example, a bank may base rating assignments on specific, appropriate stress scenarios.”
  5. Dieser Artikel basiert auf Bemmann (2007, Abschnitt 2.3.3.5).
  6. siehe Sorge (2004, S. 1)
  7. Beispielsweise wird bei den Szenarien „R 10“/„A 35“/ „RA 25“ der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht pauschal ein Wertverlust aller von den untersuchten Versicherungsunternehmen gehaltenen festverzinslichen Wertpapiere von 10%/0%/5% und ein gleichzeitiger Kursrückgang der gehaltenen Aktien um 0%/35%/20% unterstellt, siehe BaFin (2004, o. S.). Die Stresstests von JPMorgan Chase (2005, S. 73) hingegen bestehen aus Szenarien, bei denen jeweils die individuellen Preisentwicklungen für ca. 10.000 Einzelpositionen vorgegeben werden.
  8. Der Stresstest für Lebensversicherungsunternehmen von FitchRatings (2003, S. 7) basiert auf einem Szenario, bei dem gleichzeitig die Immobilienpreise um 15%, Aktien um 35% und festverzinsliche Wertpapiere um 12% an Wert verlieren.
  9. Basler Ausschuss (2005a, S. 3f.)
  10. siehe Deutsche Bundesbank (2003, S. 57ff.)
  11. siehe Basler Ausschuss (2005b, S. 4ff.) für die Ergebnisse einer Befragung zu den verwendeten Stresstestverfahren von 64 Finanzinstitutionen aus 16 Ländern
  12. siehe Fender, Gibson, Mosser (2001, S. 2ff.), Basler Ausschuss (2005b, S. 4) und Deutsche Bundesbank (2004, S. 80) und Lopez (2005, S. 1)
  13. siehe Basler Ausschuss (2005b, S. 1f.)
  14. siehe Basler Ausschuss (2005b, S. 30) oder analog Lopez (2005, S. 2)
  15. siehe Fender, Gibson, Mosser (2001, S. 4)
  16. Siehe FRB (1998, S. 42): “In principle, stress testing could at least partially compensate for the data limitations, estimation problems, and shortcomings in available back-testing methods for credit risk models. Most of the uncertainty within credit risk models (and the infeasibility of backtesting) relates to estimation of the joint probability distribution of risk factors. Stress tests circumvent these difficulties by specifying, albeit arbitrarily, particular economic scenarios against which the bank’s capital adequacy might be judged - without regard to the probability of that event actually occurring. […].”
  17. Offenkundig ist die Wahrscheinlichkeit für eine Bank oder Versicherung aufgrund adverser Effekte insolvent zu werden wesentlich geringer als die Wahrscheinlichkeit gegen bestimmte regulatorische Forderungen zu verstoßen – schließlich ist es gerade das Ziel dieser regulatorischen Forderungen, Insolvenzen mit einer großen Wahrscheinlichkeit zu vermeiden, siehe Paura, Jokivuolle (2004, S. 1809).
  18. Siehe das von Cummins, Grace, Phillips (1999) für die aufsichtsrechtliche Insolvenzprognose von US-Versicherungsunternehmen entwickelte Simulationsmodell (cash flow simulation model).
  19. siehe Sorge (2004, S. 27)
  20. siehe Lopez (2005, S. 2)
  21. Siehe Sorge (2004, S. 16): „Most macro stress-tests performed to date have shown that the first-year effects of macroeconomic shocks are very small compared to current levels of capitalization in banking systems across countries. Historical experience, however, suggests that systemic episodes are the result of financial system strains that persist for a number of years and progressively weaken the cushioning capacity of capital. It would be desirable, therefore, to lengthen the horizon of macro stress-tests (so far typically limited to one year) allowing for serially correlated shocks to build up economic imbalances over time […].“
  22. Deutsche Bundesbank (2004, S. 81)
  23. Cummins, Grace, Phillips (1999, S. 424): “The reason for choosing a scenario testing rather than a stochastic approach is that accurate stochastic modeling requires careful estimation of probability distributions, which are likely to vary by company. Such a detailed analysis would not be feasible in a regulatory context where approximately 2000 companies are to be analyzed within a few months’ time.”
  24. Cummins, Grace, Phillips (1999, S. 424): “The scenario approach is also much easier to explain to nontechnical users and thus would be more likely than the stochastic approach to gain widespread acceptance among regulatory personnel.”
  25. siehe Sorge (2004, S. 6)

Literatur

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