Der Doketismus (griechisch δοκεῖν dokein „scheinen“) ist eine Lehre, der die Auffassung zugrunde liegt, dass die Materie niedrig und böse sei, und die Christus nur einen Scheinleib zuerkennt. So sei Jesus aus doketischer Sicht Gott geblieben, weil seine physische Existenz sein Wesen nicht berührt habe, er also nur zum Schein gelitten habe und gestorben sei. Das Menschsein und die Geschichtlichkeit Christi werden damit im Doketismus aufgegeben oder zumindest eingeschränkt.

Geschichte

Die Ansicht verschiedener frühchristlicher Gruppen, dass alle Materie unrein sei, weshalb Christus keine Stoffgestalt annehmen könne, wurde schon in den Briefen des Ignatius von Antiochien (ca. 110 n. Chr.) bekämpft. Zudem wirft er seinen Gegnern vor, sie lehrten, Christus habe nur zum Schein gelitten. Später hat Irenäus, um ebenfalls dem Doketismus entgegenzuwirken, die apologetische Logos-Christologie mit einer betonten Inkarnationstheologie verbunden. Häufig wird auch vermutet, schon im 1. Johannesbrief (der zwischen Mitte des ersten Jahrhunderts bis ins 1. Jahrzehnt des 2. Jahrhunderts datiert wird) sei Doketismus bereits als Gegnerposition gegeben (1. Joh. 1,1-3 ; 1. Joh. 4,2-3 ), so die Positionen von Weigandt und Uebele. Als Quellen werden sowohl hellenistische Auffassungen, wie die Ideenlehre Platons, gesehen, die die Materie als minderwertig betrachteten, als auch der judenchristliche Monotheismus, der an der Menschwerdung und dem Leiden Gottes Anstoß nahm.

Der Doketismus ging später im Gnostizismus und Manichäismus auf. Da viele gnostische Lehren auch doketisch sind, nahm man lange an, dass der Doketismus aus der Gnosis entstanden oder gar mit ihr identisch sei.

Die römische Kirche verurteilte mit Tertullian den Doketismus, da sie gerade das Leiden und Sterben am Kreuz als zentralen Bestandteil ihres Erlösungsglaubens betrachtete.

Beispiele für Doketismus

  • Der Gnostiker Addru Cerdo (Κέρδων Kerdōn) vertritt die Auffassung, dass Christus nur als Trugbild (in phantasmate) in der Welt gewesen, nicht geboren sei und nur vermeintlich gelitten (quasi passum) habe.
  • Markion meint, dass Christus als Mensch erschien, obwohl er kein Mensch war, und dass er weder Geburt noch Leiden wirklich auf sich genommen habe, sondern nur zum Schein. Jesus habe sich in »Gestalt eines Menschen« offenbart und Markion habe die Stellen über die (menschliche) Geburt Jesu aus seiner Bibel eliminiert. Die doketistische Christologie Markions impliziert demnach eine Abwertung des Leibes und das Heil allein der Seele.
  • Von Basilides (um 133) berichtet Irenäus von Lyon die Vorstellung, dass Simon von Cyrene die Gestalt Jesu angenommen und an dessen Stelle am Kreuz gestorben sei, während dieser selbst sich unsichtbar gemacht und als „unkörperliche Kraft“ (virtus incorporalis) zum Vater aufgestiegen sei.
  • Valentinus, er hatte einen psychischen Leib Christi gelehrt, schrieb: „Und Valentinus sagt in seinem Brief an Agathopus: Jesus ertrug alles und war enthaltsam; er suchte sich das Gottsein zu erwerben; er aß und trank auf eine nur ihm eigene Weise, indem er die Speisen nicht wieder von sich gab; so groß war die Macht seiner Enthaltsamkeit, dass die Speise in ihm nicht dem Verderben unterlag; denn er selbst unterlag dem Verderben nicht.‘“
  • In einer anderen Form des Doketismus bediente sich nach Cerinthus der göttliche Christus eines gewöhnlichen Menschen (Jesus) als Medium, auf den er bei der Taufe im Jordan herabstieg („Du bist mein geliebter Sohn, ich habe dich heute gezeugt.“ Lk 3,22 ), und den er vor dem Kreuzestod wieder verließ („Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ Mk 15,34 ; Mt 27,46 ).
  • Mani, Begründer des Manichäismus deutete an, dass nicht der Erlöser (Soteriologie), sondern ein anderer, der Teufel, gekreuzigt wurde. Originalquellen zeigen allerdings eine sehr differenzierte doketische Auffassung Jesu, der als Apostel des Lichtes auf der Welt war, dort in der Passion gelitten hat und gekreuzigt wurde, aber nur seine äußere Form (ein ⲥⲭⲏⲙⲁ) am Kreuz starb, während das Göttliche in ihm unversehrt blieb.
  • Im Koran lässt sich eine doketische Sicht des Todes Jesu erkennen in der Sure 4 Vers 157f.

„157 und (weil sie) sagten: 'Wir haben Christus Jesus, den Sohn der Maria und Gesandten Allahs, getötet.' - Aber sie haben ihn (in Wirklichkeit) nicht getötet und (auch) nicht gekreuzigt. Vielmehr erschien ihnen (ein anderer) ähnlich (so dass sie ihn mit Jesus verwechselten und töteten). Und diejenigen, die über ihn (oder: darüber) uneins sind, sind im Zweifel über ihn (oder: darüber). Sie haben kein Wissen über ihn (oder: darüber), gehen vielmehr Vermutungen nach. Und sie haben ihn nicht mit Gewißheit getötet (d. h. sie können nicht mit Gewißheit sagen, daß sie ihn getötet haben).

158 Nein, Gott hat ihn zu sich (in den Himmel) erhoben. Gott ist mächtig und weise.“

Rudi Paret: Koran, Sure 4

Literatur

  • Norbert Brox: Doketismus – eine Problemanzeige; in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 95 (1984), S. 301–314 (W. Kohlhammer, Stuttgart Berlin Köln Mainz, ISSN 0044-2925)
  • Wichard v. Heyden: Doketismus und Inkarnation. Die Entstehung zweier gegensätzlicher Modelle von Christologie. Francke-Verlag, Tübingen 2014, ISBN 978-3-7720-8524-6.
  • Adolf Jülicher: Δοκηταί. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band V,1, Stuttgart 1903, Sp. 1268.
  • Winrich Löhr, Josef van Ess: Art. Doketismus I. Christentum II. Islam. In: RGG, 4. Aufl., Bd. 2.
  • Ulrich B. Müller: Die Menschwerdung des Gottessohnes. Frühchristliche Inkarnationsvorstellungen und die Anfänge des Doketismus; Stuttgarter Bibelstudien 140; Verl. Kath. Bibelwerk, Stuttgart 1990; ISBN 3-460-04401-2
  • Wolfram Uebele: „Viele Verführer sind in die Welt ausgegangen“. Die Gegner in den Briefen des Ignatius von Antiochien und in den Johannesbriefen; BWANT 151; Kohlhammer, Stuttgart/Berlin/Köln 2001; ISBN 3-17-016725-1
  • Benjamin Walker: Gnosis. Vom Wissen göttlicher Geheimnisse; Diederichs, München 1992; ISBN 3-424-01126-6
  • Peter Weigandt: Der Doketismus im Urchristentum und in der theologischen Entwicklung des zweiten Jahrhunderts. 2 Bde., Diss. Heidelberg 1961
Wiktionary: Doketismus – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. 1 2 Doketismus. In: www.bibelwissenschaft.de. Deutsche Bibelgesellschaft, abgerufen am 16. Oktober 2019: „Vielmehr hat er [Jesus] sich – in der Taufe am Jordan – nur äußerlich und »zum Schein« (»Doketismus« kommt von dem griechischen Wort dokein = scheinen) mit einem Menschenleib verbunden, den er vor der Passion wieder verließ.“
  2. 1 2 Johannes Hanselmann, Samuel Rothenberg, Uwe Swarat (Hrsg.): Fachwörterbuch Theologie. SCM R. Brockhaus, Wuppertal 1987, ISBN 3-417-24083-2, Doketismus, S. 44.
  3. 1 2 3 4 5 6 7 8 Winrich Löhr: Doketismus. In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 4. Auflage. Band 2, Mohr-Siebeck, Tübingen 1999, Sp. 925–926.
  4. Susanne Hausammann: Alte Kirche, Frühchristliche Schriftsteller. Band 1. Neukirchener, 2001, ISBN 3-7887-1806-4, S. 64: „Doketimus nennt man diese Leugnung der Leiblichkeit Christi. Seiner Geburt, Seines Kreuzes und Seiner Auferstehung. Mit ihr hat sich schon Paulus auseinandersetzen müssen (1. Kor. 15 )“
  5. Ignatius: Die sieben Briefe des Ignatius von Antiochien - 2. Kapitel - Christus hat für uns gelitten wahrhaft, nicht scheinbar. - Ignatius an die Smyrnäer. In: Bibliothek der Kirchenväter. Griechische Patristik und orientalische Sprachen, abgerufen am 16. Oktober 2019: „Dies alles hat er nämlich gelitten unseretwegen, damit wir gerettet werden; und zwar hat er wahrhaft gelitten, wie er sich auch wahrhaft auferweckt hat, nicht wie einige Ungläubige behaupten, er habe nur scheinbar gelitten, da sie selbst nur scheinbar leben; und gemäß ihren Anschauungen wird es ihnen ergehen, wenn sie körperlos und gespensterhaft sind (bei der Auferstehung).“
  6. Wolfhart Pannenberg: Christologie II. Dogmengeschichtlich. In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 3. Auflage. Band 1, Mohr-Siebeck, Tübingen 1957, Sp. 1763. „Im Kampf gegen die Christologie der Gnosis (vor allem Valentins) und Marcions, die den Erlöser für die Dauer seines irdischen Wirkens mit einem seinem wahren Wesen fremd bleibenden und gleichzeitig der Fleischlichkeit baren Leibe nur bekleidet sein ließ (»Doketismus«), hat Irenäus die apologetische Logos-Christologie mit einer betonten Inkarnationstheologie verbunden.“
  7. 1 2 Franz Lau: Christologie - 2. Die ersten Anfänge einer Lehre von Christus. In: Evangelisches Kirchen Lexikon. Band 1. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1961, S. 755756: „Eine sog. doketische Christologie (Christus hat nur einen Scheinleib) ist gnostisch und wird meistens (vgl. 1Joh 1,1ff), aber nicht durchgehend abgewiesen.“
  8. Tertullian: Über den Leib Christi. (De carne Christi) - 9. Kapitel - Der Leib des Menschen kommt von der Erde. Ebenso war der Leib Christi und nicht aus himmlischen Stoffen gebildet. In: Bibliothek der Kirchenväter. Griechische Patristik und orientalische Sprachen, 220, abgerufen am 16. Oktober 2019: „Wie kann man mir überhaupt einen Leib als himmlisch bezeichnen, woran man keine Spur von etwas Himmlischem wahrnimmt? Wie kann man die irdische Beschaffenheit leugnen, da, wo man die klaren Beweise davon sieht? Es hungerte ihn — unter den Augen des Teufels, es dürstete ihn — in Gegenwart der Samariterin, er weinte — über Lazarus, er zagte — im Angesichte des Todes, denn das Fleisch, ruft er aus, ist schwach, und zuletzt vergoss er sein Blut.“
  9. Irenäus: Gegen die Häresien (Contra Haereses) - Erstes Buch - 24. Kapitel: Saturninus and Basilides - 4. In: Bibliothek der Kirchenväter. Griechische Patristik und orientalische Sprachen, abgerufen am 16. Oktober 2019: „Wie aber der ungezeugte und unnennbare Vater ihre Verderbtheit sah, sandte er seinen eingeborenen Nous, der Christus genannt wird, um die, welche an ihn glauben würden, von der Herrschaft jener zu befreien, die die Welt gemacht haben. Er erschien auch ihren Völkern auf Erden als Mensch und vollendete die Kräfte. Aber er hat nicht gelitten, sondern ein gewisser Simon von Cyrene, den man zwang, für ihn das Kreuz zu tragen. Dieser wurde irrtümlich und unwissentlich gekreuzigt, nachdem er von ihm verwandelt war, so dass er für Jesus gehalten wurde. Jesus aber nahm die Gestalt des Simon an und lachte sie aus, indem er dabeistand. Er war ja die unkörperliche Kraft und der Nous des ungezeugten Vaters, deswegen konnte er sich nach Belieben verwandeln und stieg so wieder zu dem hinauf, der ihn gesandt hatte, indem er derer spottete, die ihn nicht halten konnten, und unsichtbar für alle war.“
  10. Clemens von Alexandria: Teppiche (Stromateis) - Drittes Buch - 7. Kapitel 59.3. In: Bibliothek der Kirchenväter. Griechische Patristik und orientalische Sprachen, abgerufen am 27. Oktober 2019.
  11. Evodius, De fide contra Manichaeos 28
  12. Siegfried G. Richter: Christology in the Coptic Manichaean Sources. In: BSAC 35 (1996) 117–128; Siegfried G. Richter: Bemerkungen zu verschiedenen “Jesus-Figuren” im Manichäismus. In: J. Van Oort, O. Wermelinger, G. Wurst (Hrsg.): Augustine and Manichaeism in the Latin West. Proceedings of the Fribourg-Utrecht Symposium of the International Association of Manichaean Studies (IAMS), Leiden etc. 2001, S. 174–184.
  13. E. Kellerhals: Islam. In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 3. Auflage. Band 3, Mohr-Siebeck, Tübingen 1959, Sp. 922. „Als Religion der Werkgerechtigkeit sagt der Islam zum stellvertretenden Erlösungstod Christi am Kreuz ein radikales Nein. Da ein gerechter Prophet nicht unschuldig sterben kann, hat Gott in letzter Minute den Leib Jesu durch denjenigen eines andern Menschen ersetzt (Doketismus), und da die Bedingungen zum Heilsempfang nur im Glauben an Allah und seinen Propheten sowie in der Unterwerfung (»islam«) unter die an Muhammed ergangene endgültige Offenbarung besteht, bedarf der Mensch keiner Erlösung durch einen Mittler.“
  14. Rudi Paret: Der Koran. 12. Auflage. Kohlhammer, Stuttgart 2014, ISBN 978-3-17-026978-1, Sure 4, Die Frauen, S. 76.
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