Mit dem Begriff doppelte Hermeneutik wird in der sozialwissenschaftlichen Erkenntnistheorie und Methodologie eine besondere Problematik der Sozialwissenschaften benannt: Sowohl bei der Theorienbildung als auch bei der Erfassung der Daten werde hermeneutisch vorgegangen.

Näheres

Geprägt wurde der Begriff vom britischen Soziologen Anthony Giddens, der zunächst an den – auch vor ihm nicht unbekannten – Tatbestand erinnerte, dass Sozialphänomene, auch bevor sie von Sozialwissenschaftlern professionell analysiert werden, bereits sinnhaft konstituiert seien. Das bedeutet für ihn, dass die Bedingung für den sich gesellschaftliche Phänomene aneignenden Sozialwissenschaftler als „Eintritt“ ins soziologische Forschungsfeld sei, sich das anzueignen, was Akteure schon wissen und wissen müssen, um sich in den täglichen Aktivitäten des gesellschaftlichen Lebens ‚zurechtfinden‘ zu können.

Voraussetzung für die hermeneutische Dopplung und ihr erster Schritt sei zunächst die Aneignung von alltäglichem gesellschaftlichem Wissen. Dieses Wissen erfahre sodann im soziologischen Forschungsprozess seine fachwissenschaftliche Umformung. Dieser Transformationsprozess drücke sich auch in Form eines speziellen Denkstils mit seiner besonderen Fachsprache aus.

In der deutschen Ausgabe von Giddens' Theorie der Strukturierung wird methodisch auf die unbehebbare Doppelung der „Bedeutungsrahmen“ beider Wissensformen hingewiesen, da die wechselseitige Durchdringung zweier Bedeutungsrahmen als logisch notwendiges Moment der Sozialwissenschaften, die sinnhafte Sozialwelt, wie sie von handelnden Laien und den von den Sozialwissenschaftlern eingeführten Metasprachen konstituiert wird; in der Praxis der Sozialwissenschaften gibt es [zwar] einen beständigen ‚Austausch‘ zwischen den beiden Bedeutungsrahmen. Trotz aller gegenseitigen Rückwirkungsprozesse und wechselseitigen Durchdringungen von laienhaftem Alltags- und professionellem Wissenschaftlerwissen könnten beide Wissensformen jedoch nie miteinander identisch werden.

Literatur

  • Ginev, Dimitri. „Doppelte Hermeneutik und Konstitutionstheorie.“ Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55.5 (2007): 679–688.
  • Anthony Giddens: The Constitution of Society. Outline of a Theory of Structuration, The University of California Press, Berkeley 1984, ISBN 0-520-05292-7; deutsche Ausgabe: Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung, übersetzt von Wolf-Hagen Krauth u. Wilfried Spohn. Einf. v. Hans Joas, [„Theorie der Gesellschaft“ 1], Campus, Frankfurt am Main/New York 1988, ISBN 3-593-33611-1.

Anmerkungen

  1. Die Konstitution der Gesellschaft, Frankfurt am Main/New York 1988, S. 338.
  2. Die Konstitution der Gesellschaft, Frankfurt am Main/New York 1988, Glossar, Stichwort „Doppelte Hermeneutik“, S. 429 f.
This article is issued from Wikipedia. The text is licensed under Creative Commons - Attribution - Sharealike. Additional terms may apply for the media files.