Elefantengedächtnis (portugiesisch Memória de elefante) ist der erste Roman von António Lobo Antunes. Der 1979 veröffentlichte Roman handelt von einem Tag im Leben eines Psychiaters in der Lissaboner Anstalt Miguel Bombarda und ist geprägt durch seine zynischen Reflexionen über seine Mitarbeiter, seine Familie und die selbstkritische Aufarbeitung einer gescheiterten Ehe.

Einordnung in das Gesamtwerk

Anders als in seinen anderen Romanen bedient sich Antunes in „Elefantengedächtnis“ eines externen anonymen Erzählers, der vom Arzt in der 3. Person spricht, ab dem zweiten Roman Judaskuss erreicht er dann die Formhöhe seiner inneren Monologe. Die Sprachgewalt, seine barock anmutenden, weit hergeholten Metapher und ungewöhnlichen ausufernden Vergleiche finden sich auch schon im Roman „Elefantengedächtnis“. Antunes entfaltet hier, wie in allen späteren Romanen eine Prosa der Gleichzeitigkeit aus dem Hier und Jetzt, den Erinnerungen, den Reflexionen und Assoziationen. Ähnlich wie in Guten Abend ihr Dinge hier unten setzt sich Antunes auch schon im Erstling mit dem verlorenen Angolakrieg auseinander, beschreibt den Verfall einer großbürgerlichen Familie, wie dem der Valadas in Antunes Roman Die natürliche Ordnung der Dinge. Ähnliche Thematiken über psychisch Kranke, wie verrückte Eisenbahnfreaks und Mongoloide mit Inzestbiographien greift er noch einmal im Roman über den Niedergang der Familie in Reigen der Verdammten auf. Hier beginnt der Roman ebenfalls in der Lebenswirklichkeit eines Arztes, dort gesellen sich jedoch noch neun andere Monologführer dazu. Ebenso wie im Elefantengedächtnis geht es im Handbuch der Inquisitoren um die Trennung der Ehe. Kurzum alle Thematiken seiner Erinnerungsprosa der späteren Romane sind auch schon im Debüt angelegt.

Aufbau

Der Roman ist gegliedert in zehn nicht bezeichnete Kapitel, die durch den Seitenumbruch getrennt sind. Die Rahmenhandlung findet an einem Tag von morgens bis zum nächsten Morgen statt. Eingeschoben sind mehrere in Strophen gefasste Liedtexte und Gedichte.

Inhalt

Die Handlung ist antirealistisch und findet als psychologisierende, reihende Abbildung Portugals und seiner Bewohner statt, diese ist misogyn, voller Selbsthass, der größte Teil sind bitterböse zynische Vergleiche, Aneinanderreihung von genauen Beobachtungen, sentimentale Rückblicke auf die Ehe, die in einem März geschieden wurde.

Dennoch gibt es eine untergeordnete Rahmenhandlung, die den assoziativen Elementen als Vehikel dient. Der nicht näher genannte Arzt betritt die Klinik Miguel Bombarda zum Dienstbeginn, trifft da auf zahlreiche skurrile Gestalten, nachdem ihm eine Krankenschwester Charlotte Bronte dann assistiert hat und Unterlagen ausgefüllt sind und er wieder allein in seinem Sprechzimmer sitzt, ruft er seinen Freund einen Arzt an und verabredet sich zum Mittag, mit der Begründung, er sei ganz unten angekommen. Es folgt ein Elternpaar in die Sprechstunde und möchte gern den Sohn Zwangseinliefern, es stellt sich heraus, dass dies völlig unnötig ist und es nur deren Überforderungen mit den normalen spät-pubertäre Auswüchsen eines Siebzehnjährigen sind. Nachdem das Gespräch sehr einseitig ohne die Eltern verlaufen ist, wobei das ängstliche „Frettchen“ im Sprechzimmer saß und schweigend aus dem Fenster blickte, ohne auf den Arzt zu reagieren, begleitete er die Familie aus dem Krankenhaus und steigt in sein Auto, das er als ganz persönlichen Minibunker ansieht und der an mehreren Stellen dieser Odyssee Kapitel neu einleitet.

Interessant ist, dass sich Antunes in den Vergleichen hier in seinem Erstling auch mit anderen Schriftstellern vergleicht, sein Freund der Arzt, mit dem er zum Mittag isst und dem er sein Herz ausschütten kann, wird zum Max Brod, der ihn Franz Kafka nach dem Tod veröffentlichen soll. Die Liste mit Schriftstellern setzt sich fort mit Umberto Eco, dieser soll zu Rate gezogen werden, Agatha Christie ist genannt, Federico Fellini wird zitiert und etliche Größen der Kulturgeschichte Portugals. Die Vermutung, dass es sich um ein in das Romanwerk gegossenes „Namedropping“ handelt, liegt daher nahe und wird dabei auch zu einer Gelehrtenrepublik à la Arno Schmidt.

Dessen Utopia findet sich bei Antunes auf konzentrische Kreise rund um die Klinik übertragen: „Möglich, dass hier und dort draußen die Mauern des Krankenhauses konzentrisch sind und das ganze Land bis zum Meer umschließen… konzentrische Mauern… Labyrinthe aus Häusern und Straßen… dass man nie wirklich wegkommt.“ Nachdem das Mittagessen beendet ist, begibt er sich zu einer Zahnarztbehandlung, wo ihm ein rotblondes leicht biestiges Mädchen ihre Nummer gibt. Die Schmerzen und das helle Licht der Boxringlampe beim Zahnarzt, lösen eine Flut von Erinnerungen aus. Es folgt eine Wanderung durch die Stadt, bei der er auch seine beiden Töchter aus dem Gymnasium kommen sieht. Später besucht er eine Bar, versucht die Rotblonde zu erreichen, doch sie geht nicht ans Telefon, dann erinnert er sich einer Analysesitzung beiwohnen zu wollen.

Dort angekommen sprechen nun fünf Frauen und drei Männer über ihre Leiden. Als der Arzt zu Worte kommt, spricht er aus, was in den übrigen Kapiteln nur gedacht hatte: „Ich sehne mich nach meiner Frau, kann es aber weder ihr noch sonstwem außer ihnen sagen“. Es folgt die Heimfahrt mit seinem Auto in die riesige möbellose Wohnung. Nun folgt eine Schlussepisode in einem Casino, wo der Psychiater auf eine ältere Frau namens Dori, das „Reptil“, trifft. Mit dieser verbringt er die Nacht und deckt sie am Morgen zu wie mit einem „barmherzigen Leichentuch, während sich ihr vom Gaumen gelöstes Gebiss im Rhythmus des Atems bewegt“. Der Psychiater tritt auf dem dunklen kalten Balkon und fühlt sich frei, nimmt sich vor sein Leben zu ordnen, weniger obszön zu sein und sich einen Wandteppich mit Tigern zu kaufen. Er erklärt sich dazu im Schlußsatz: „Ich brauche etwas, das mir hilft zu existieren“.

Interpretation

Die Irrenanstalt dient als Metapher für das ganze Land, das sich gerade erst aus dem Knebelgriff der Salazar-Diktatur gewunden hat, dem Chaos der Verrückten wird eine Freiheit geboten, die schwer nutzbar ist. Der Oberheiligkeit der Ärzteschaft begegnet Antunes Arzt Protagonist mit zynisch beißendem Witz, entlarvt sie als unfähig, bürokratisiert und zeigt deren dilettantischen Handlungsanweisungen auf. Es ist somit zugleich auch eine Hinterfragung überkommener psychiatrischer Lehrmeinungen der Zeit als auch ein Überdruss gegenüber der Institution schlechthin, was dem Trend der ausgehenden 1970er Jahre entspricht. Dieser vordergründigen als Vehikel benutzten Erzählung setzt Antunes seine eigene Aufarbeitung der gescheiterten Ehe hinzu, was natürlicher Schreibanlass für sehr viele Autoren ist, das jedoch dem Erstling weitere dutzende Romane folgen würden beweist, dass es sich um einen ganz großen Literaten handelt, der sich an der Welt reiben muss um nicht unterzugehen. Der Romantitel „Elefantengedächtnis“ geht laut der Verlagsinformation im Klappentext auf Beschreibungen der Mutter Antunes über ihrem Sohn zurück.

Ausgaben

  • Antonio Lobo Antunes: Memória de elefante. Publicações Dom Quixote, Lissabon 1979
  • Antonio Lobo Antunes: Elefantengedächtnis. Aus dem Portugiesischen von Maralde Meyer-Minnemann. Luchterhand, München 2004, ISBN 3-630-87177-1 (Taschenbuchausgabe mit einem Nachwort von Sigrid Löffler: btb, München 2006, ISBN 978-3-442-73424-5)

Rezensionen

Friedhelm Rathjen von der Frankfurter Rundschau attestierte dem Autor eine bestechende „sprachliche Wucht“, die jedoch in der dritten Person nicht richtig zum Ausdruck kommen könne: „Die Sätze sind lang und ausladend, viele zerdehnen sich durch Partizipialkonstruktionen und schaffen eine Art Gleichzeitigkeitsprosa, wie sie außer Antonio Lobo Antunes niemand schreibt.“ Der äußere Erzähler behindere dabei den erwarteten inneren Monolog. „Erst auf den letzten zwei Seiten von Elefantengedächtnis schafft er den Sprung in sein eigentliches Werk, alles vorherige ist ein fauler Kompromiss, der Versuch, auf eine Art zu schreiben, die (noch) nicht die seine ist. Sein zweiter, beinahe gleichzeitig entstandener und wenige Monate nach Elefantengedächtnis veröffentlichter Roman Der Judaskuss ist folgerichtig ein einziger ungefilterter innerer Monolog und damit der eigentliche Fanfarenstoß dieses unvergleichlichen Autors.“

Kersten Knipp freute sich in der Neuen Zürcher Zeitung über die gelungene Neuübersetzung und sah das Werk bereits als Kunstwerk an, da es „Topoi und Stereotype“ weitgehend vermeide.

Hans-Peter Kunisch schloss sich für die Süddeutsche Zeitung Knipps genereller Einschätzung zur Neuübersetzung des Romans von 1979 an und lobte die „Sprachkunst“ des Schriftstellers, dessen Werk „bis an die Grenzen der Sentimentalität“ mit Wahrheitswillen verknüpft scheint.

Andrea Kachelrieß von den Stuttgarter Nachrichten war zwar von dem Werk angetan, dessen Stil nahezu überwältigend, aber auch mitunter kitschig geraten sei: „Atemlose Satzgebilde reißen den Leser wie die Strudel eines Hochwasser führenden Flusses in ihren Sog. Eine Metapher jagt die nächste; in der Flut der Bilder gerät allerdings das eine oder andere schon mal schief oder eine Spur zu kitschig.“

Hans-Jürgen Schmitt wog im Kulturprogramm des Deutschlandradios die Vorzüge des Romanerstlings ab und stellte ihn rückblickend in Vergleich zu dem Gesamtwerk: „Etwas aber ist ganz anders als in allen späteren Romanen: der Furcht sich in Nichts aufzulösen, begegnet er mit der Zuflucht zu Literatur, Musik und Kunst. Immer wieder finden sich in die Erzählung eingebettet pointierte Anspielungen auf Werke von Künstlern, Musikern und Schriftstellern, die seine Lebenssituation erklären helfen.“

In novacultura befand man, dass sich die „Unruhe und Getriebenheit des Protagonisten“ fast unweigerlich auf den Leser übertrage und die Irrenanstalt zur Metapher wird: „Elefantengedächtnis liest sich wie ein Prototyp dieses gewaltigen, verschachtelten, und noch lange nicht abgeschlossenen Gesamtwerks, mit dem sich Lobo Antunes mit jedem Roman neu den immer gleichen Hass von der Seele schreibt.“

Literatur

  • Rezensionsnotiz in der Frankfurter Rundschau vom 26. Januar 2005
  • Rezensionsnotiz in der Neuen Zürcher Zeitung vom 20. Januar 2005
  • Rezensionsnotiz in der Süddeutschen Zeitung vom 6. Dezember 2006

Einzelnachweise

  1. 1 2 3 Zitiert nach der Rezensionszusammenfassung. Auf: perlentaucher.de. Aufgerufen am 16. November 2012.
  2. Volltext der Rezension Rathjens: Ockerfarben für einen wütenden Psychiater. Dem Debütroman "Elefantengedächtnis" des meisterhaften António Lobo Antunes fehlt der monologische Überschuss (Memento des Originals vom 24. März 2016 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.. Auf: www.lyrikwelt.de. Aufgerufen am 16. November 2012.
  3. Andrea Kachelrieß: „António Lobo Antunes: Elefantengedächtnis – Schwindelig vor Liebe“ (Seite nicht mehr abrufbar, festgestellt im April 2018. Suche in Webarchiven.)  Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.. In: Stuttgarter Nachrichten. 17. November 2004. Aufgerufen am 16. November 2012.
  4. Hans-Jürgen Schmitt: "Saudade" und Rotlicht. António Lobo Antunes: "Elefantengedächtnis". Auf: Deutschlandradio. 21. Oktober 2004. Aufgerufen am 16. November 2012.
  5. mk: Vorstellung und Rezension zu António Lobo Antunes: Elefantengedächtnis. Auf: novacultura. Dezember 2004. Aufgerufen am 16. November 2012.
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