Franz Murer (* 24. Jänner 1912 in St. Lorenzen ob Murau, Österreich-Ungarn; † 5. Jänner 1994 in Leoben) war ein österreichischer Funktionär der NSDAP. Er war einer der Hauptverantwortlichen für die Vernichtung der Juden in Vilnius und unter den Opfern als der „Schlächter von Wilna“ bekannt.

Verbrechen in Vilnius

Murer war der Sohn eines Landwirts. Am 12. Mai 1938 beantragte Murer die Aufnahme in die NSDAP und wurde rückwirkend zum 1. Mai aufgenommen (Mitgliedsnummer 6.171.713). Er wurde in der NS-Ordensburg Krössinsee ausgebildet. Von 1941 bis 1943 war er in der damals dem Reichskommissariat Ostland eingegliederten Stadt Vilnius als Stellvertreter des Gebietskommissars Hans Christian Hingst „zuständig für jüdische Angelegenheiten“. Vilnius, einst als „Jerusalem des Nordens“ bekannt, hatte eine jüdische Bevölkerung von 80.000 Personen, die während Murers „Zuständigkeit“ auf 600 sank. Er war für seinen Sadismus bekannt, da er es genoss, seine Opfer zu verhöhnen. Am 1. Juli 1943 wurde Murer durch Bruno Kittel (* 1922), früher Musiker und Schauspieler, nun SS-Oberscharführer und Leiter des „Judenreferats“ der Gestapo in Vilnius, ersetzt, der die Aufgabe erhielt, das Ghetto Vilnius aufzulösen. Murer wurde stattdessen als Lehrkraft und zur eigenen Weiterbildung an die Ordensburg Krössinsee berufen. Dort war er vermutlich von 1943 bis 1945 als Lehrkraft tätig.

Nürnberger Prozess

In den Zeugenaussagen und Dokumenten des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher wurde Murers Beteiligung am Holocaust benannt.

Ghetto Wilna

Die Anklage vernahm den Zeugen Abram Gerzewitsch Suzkewer am 27. Februar 1946.

Aber ich muß sagen, daß die Massenvernichtung der jüdischen Bevölkerung in Wilna dann begann, als der Bezirkskommissar Hans Fincks sowie der Referent für jüdische Fragen, Muhrer, nach Wilna kamen. (am 31. August 1941)
Ungefähr die Hälfte der jüdischen Bevölkerung von Wilna ist nicht bis zum Ghetto gekommen, sondern wurde auf dem Wege erschossen.
Wenn Muhrer ins Ghetto kam und die jüdischen Werkstätten besuchte, befahl er allen Arbeitern, sich auf den Boden zu legen und wie Hunde zu bellen.
Ende Dezember 1941 kam ein Befehl im Ghetto heraus, der den jüdischen Frauen verbot, ein Kind auszutragen.
Muhrer kam in das Spital in der Straße Nr. 6 und sagte den jüdischen Ärzten, daß ein Befehl aus Berlin gekommen sei, der besagte, daß jüdische Frauen nicht mehr gebären dürften, und wenn die Deutschen erführen, daß eine Frau einem Kinde das Leben geschenkt hat, würde das Kind vernichtet werden.
Sie sah, wie ein Deutscher das Kind hielt und ihm etwas unter die Nase schmierte. Sodann warf er das Kind auf das Bett und lachte. Als meine Frau das Kind vom Bett aufnahm, hatte es bereits schwarze Lippen.

Sollte man bei jemandem einen versteckten Juden finden, werden alle Mitbewohner erschossen oder gehängt, so lautete eine Warnung Murers an die litauischen und polnischen Bewohner der Stadt. Die Sängerin Lyuba Levicka ließ er wegen eineinhalb Kilo geschmuggelter Erbsen sterben.

Sonderaktion 1005 in Ponar

Am 14. August 1946 wurde aus dem Affidavit D-964 aus der Zeugenvernehmung des Szloma Gol zitiert. Der Zeuge berichtet darin, dass im Dezember 1943 die Massengräber bei Wilna geöffnet wurden.

„Diese Arbeit, die im Öffnen der Gräber und Aufbauen der Scheiterhaufen bestand, wurde von etwa 80 Wachmannschaften überwacht… Im Verlaufe dieser Arbeit wurden die litauischen Wächter selbst erschossen, wahrscheinlich, damit sie nicht ausplaudern konnten, was gemacht worden war. Der Befehlshaber des gesamten Platzes war der SA-Führer Murer (der Sachbearbeiter der jüdischen Fragen).“
„Unsere Arbeit bestand darin, Massengräber zu öffnen und Leichen herauszubefördern, um sie dann zu verbrennen. Ich war damit beschäftigt, diese Leichen auszugraben. Mein Freund Belic war mit Sägen und Zurechtmachen von Holz beschäftigt.“
„Wir haben insgesamt 80.000 Leichen ausgegraben. Ich weiß dieses daher, weil zwei Juden, die mit uns in der Grube lebten, von den Deutschen dazu angestellt worden waren, diese Leichen zu zählen. Das war die einzige Aufgabe dieser beiden. Die Leichen bestanden aus einem Gemisch von Juden, polnischen Priestern und russischen Kriegsgefangenen.“

Bereicherung

Sir David Maxwell Fyfe: Euer Lordschaft! Ich möchte nun – ich brauche im Hinblick auf die Erklärung des Zeugen keine Zeit damit zu verlieren, – Dokument D-975, eine zusätzliche Erklärung des Herrn Gol, vorlegen. Das wird GB-598. In diesem Dokument wird der Vorgang beschrieben, wie die Goldzähne aus den Leichen entfernt wurden. Ich möchte nicht auf Einzelheiten eingehen, Euer Lordschaft; es ist schon oft genug behandelt worden, wie das normalerweise vor sich ging. Euer Lordschaft! Ich möchte lediglich feststellen, daß Murer persönlich die Schachteln mitgenommen hat.

Nachkriegszeit

1947 wurde Murer eher zufällig festgenommen, und es wurden Ermittlungen beim Landesgericht für Strafsachen Graz wegen seiner Tätigkeit als Gebietskommissar der Stadt Wilna vorgenommen. Murer gab in seinen Einvernahmen an, mit dem Ghetto und den Judenangelegenheiten niemals etwas zu tun gehabt zu haben. Murer wurde im März 1948 gemäß der Moskauer Deklaration, nach der nationalsozialistische Verbrecher am Ort ihrer Verbrechen anzuklagen seien, an die Sowjetunion überstellt, weil Vilnius inzwischen zur Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik gehörte. In Vilnius wurde er am 25. Oktober 1948 wegen der persönlichen Selektion von Juden (wobei er über 5000 in den Tod geschickt haben soll) und wegen der Erschießung von zwei Jüdinnen vom litauischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt.

1955 wurde Murer entsprechend den Vorgaben des Staatsvertrages an Österreich übergeben. Von der österreichischen Justiz wurde Murer nicht weiter verfolgt. Erst 1962 kam es nach juristischer Intervention von Simon Wiesenthal zu einer neuerlichen Verhaftung und einem Prozess in Graz, der am 19. Juni 1963 mit einem Freispruch endete, was von einem Teil der österreichischen Öffentlichkeit bejubelt wurde. Der Prozessverlauf schlug zu einem Tribunal gegen die überlebenden Opfer um. Beobachter berichteten, dass „die Söhne des Angeklagten jüdische Zeugen verhöhnten“. Im Prozess sagten prominente Fürsprecher, unter anderen solche der ÖVP, zu seinen Gunsten aus. Die Nichtigkeitsbeschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den Freispruch wurde schließlich 1974 vom Landesgericht Graz endgültig abgewiesen und das Verfahren eingestellt. Der umfangreiche Gerichtsakt befindet sich im Steiermärkischen Landesarchiv in Graz.

Franz Murer lebte bis an sein Lebensende in Gaishorn am See, Bezirk Liezen. Murer war zuletzt Bezirksbauernvertreter der ÖVP.

Ein Sohn Murers ist der 1941 geborene FPÖ-Politiker und ehemalige Staatssekretär und Nationalratsabgeordnete Gerulf Murer. 1989 kündigte er an, neutrale Historiker aus Deutschland würden mit einem von ihnen verfassten Buch die Unschuld seines Vaters Franz Murer beweisen, doch ist ein solches Buch nie erschienen.

Von April bis Juni 2017 entstand unter der Regie von Christian Frosch der Spielfilm Murer – Anatomie eines Prozesses mit Karl Fischer in der Titelrolle.

Literatur

  • Christoph Dieckmann: Deutsche Besatzungspolitik in Litauen 1941–1944. Wallstein-Verlag, Göttingen 2011, ISBN 978-3-8353-0929-6.
  • Josef Fiala: „Österreicher“ in den SS-Einsatzgruppen und SS-Brigaden. Die Tötungsaktionen in der Sowjetunion 1941-1942. Diplomica Verlag, Hamburg 2010, ISBN 9783842850156 (zum Lebenslauf Murers siehe S. 92–94).
  • Internationaler Militärgerichtshof Nürnberg (Hrsg.): Der Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vor dem Internationalen Militärgerichtshof (14. November 1945 bis 1. Oktober 1946). Amtlicher Text in deutscher Sprache.
  • Heimo Halbrainer, Martin F. Polaschek (Hrsg.): Kriegsverbrecherprozesse in Österreich: eine Bestandsaufnahme. Clio, Graz 2003, ISBN 3-9500971-5-5.
  • Florian Freund [Hrsg.]: Ess firt kejn weg zurik... Geschichte und Lieder des Ghettos von Wilna 1941–1943. Picus-Verlag, Wien 1992, ISBN 3-85452-222-3.
  • Lukas Nievoll: „Jüdische“ Zeugenschaft. Aspekte des Umgangs mit Holocaust-Überlebenden am Beispiel des Prozesses gegen Franz Murer 1963 in Graz. In: zeitgeschichte 48 (2021), Heft 2, S. 207–224.
  • Mascha Rolnikaitė: Ich muss erzählen. Mein Tagebuch 1941–1945. Kindler Verlag, 2002, ISBN 3-499-23555-2.
  • Johannes Sachslehner:
  • Mirjam Schnorr: „Es ist in meiner Gegenwart niemals jemand erschossen worden.“ Der Prozess gegen Franz Murer vor dem Landesgericht für Strafsachen Graz 1963. In: Alliierte Prozesse und NS-Verbrechen, hg. von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Beiträge zur Geschichte der nationalsozialistischen verfolgung in Norddeutschland 19), Bremen 2020, S. 198–206.
  • Mirjam Schnorr: From Vilnius to Graz: Franz Murer as an Accomplice to Mass Murder. In: Karoline Georg, Verena Maier und Paula A. Oppermann (Hrsg.): Between Collaboration and Resistance. Papers from the 21st Workshop on the History and Memory of National Socialist Camps and Extermination Sites. Metropol, Berlin 2020, S. 196–217.
  • Abraham Sutzkever: Wilner Getto 1941–1944. Übersetzt von Hubert Witt, Ammann Verlag, Zürich 2009, ISBN 978-3-250-10530-5 (Murer u. a. auf S. 82 f).

Einzelnachweise

  1. Mascha Rolnikaitė: Ich muss erzählen. Mein Tagebuch 1941–1945. Dort die kaltblütige Ermordung eines Mädchens (S. 83 f), die Prügel einer nackten Frau (S. 110 f.), der Sadismus gegen einen älteren Mann (S. 111).
  2. Doron Rabinovici: Instanzen der Ohnmacht. Wien 1938-1945. Der Weg zum Judenrat. Historische Studie, Jüdischer Verlag, Frankfurt 2000, ISBN 3-633-54162-4 (Zugleich Diss. phil. Universität Wien 2000). S. 31.
  3. Bundesarchiv R 9361-IX KARTEI/29940662
  4. Michael Good: The Search for Major Plagge. The Nazi who saved Jews. In: Google Books. Fordham University Press, New York, 2005, S. 36 ff., abgerufen am 15. September 2021 (englisch).
  5. Nürnberger Prozesse, Bd. 8, S. 340 ff.
  6. Arno Lustiger: Feldwebel Anton Schmid. Judenretter in Vilnius 1941–1942. In: Vincas Bartusevičius, Joachim Tauber, Wolfram Wette (Hrsg.): Holocaust in Litauen : Krieg, Judenmorde und Kollaboration im Jahre 1941. Böhlau, Köln 2003, S. 195; Manus I. Midlarsky: The Killing Trap. Genocide in the Twentieth Century. Cambridge UP, Cambridge 2005, S. 301.
  7. Mascha Rolnikaitė: Ich muss erzählen. Mein Tagebuch 1941–1945, S. 139 und passim.
  8. Hagen Stöckmann: Gewalträume. Die sog. NS-Ordensburgen und ihre Absolventen zwischen propagandistischer Zurichtung, Politik der Vernichtung und generationeller Vergemeinschaftung. In: Söhnke Grothusen, Vânia Morais, Hagen Stöckmann (Hrsg.): Generation und Raum: Zur symbolischen Ortsbezogenheit generationeller Dynamiken. Wallstein, Göttingen 2014, S. 125.
  9. Nürnberger Prozesse, Bd. 8, S. 335 ff.
  10. Hans Fincks anstelle von Hans Hingst (!). Muhrer (!). Die falsche Schreibung führt zu Murer und Muhrer beim Prozess. Bei der zweiten Aussage wird Murer als SA-Führer bezeichnet. Ein Indiz dafür, dass es den Verteidigern leicht gemacht wurde, immer wieder Fehler der Anklage in dem Zuständigkeitsgestrüpp zwischen der Ministerialbürokratie, Wehrmacht, Partei, der SA und der SS zu finden, siehe auch die Vernehmung des Zeugen Max Jüttner, der so leicht bestreiten kann, dass die SA in Wilna gemordet habe, während es die SS in braunen Hemden war. Die überlebenden Opfer werden dafür verantwortlich gemacht, die verworrenen Organisationsverhältnisse richtig zu beschreiben.
  11. Mascha Rolnikaitė: Ich muss erzählen. Mein Tagebuch 1941–1945, S. 85.
  12. Mascha Rolnikaitė: Ich muss erzählen. Mein Tagebuch 1941–1945, S. 130.
  13. Nürnberger Prozesse, Bd. 21, S. 178 ff.
  14. Nürnberger Prozesse, Bd. 21, S. 180.
  15. Gabriele Pöschl: Der halbierte Prozess – Die Einstellung eines Teils des Strafverfahrens gegen Franz Murer im Jahr 1955. Zentrale österreichische Forschungsstelle Nachkriegsjustiz (FStN), 10. Februar 2005, abgerufen am 9. September 2020.
  16. 1 2 3 Karl Wimmler: „Mein Freund Murer“. Korso. Das nachhaltige Magazin für Graz und die Steiermark, 9. Dezember 2008, abgerufen am 9. September 2020.
  17. StLA, Landesgericht für Strafsachen Graz, 15 Vr 1811/1962.
  18. Österreichisches Filminstitut: Murer - Anatomie eines Prozesses. Abgerufen am 3. November 2017.
  19. Alexandra Föderl-Schmid: NS-Verbrecher Franz Murer: „Er brauchte Blut“. Rezension. In: sueddeutsche.de. Süddeutsche Zeitung, 7. Mai 2018, abgerufen am 7. September 2020.
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