Die Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) ist eine 2010 von Österreich, Bayern und Südtirol aus gestartete Reformbewegung, welche das Wirtschaften grundlegend auf das demokratisch definierte Gemeinwohl ausrichten möchte. Grundlage ist ein 2010 erschienenes Buch von Christian Felber. Die Bewegung sieht sich selbst in einer historischen Tradition von Aristoteles bis Adam Smith und bezieht sich auf die Grundwerte demokratischer Verfassungen. Die Gemeinwohl-Ökonomie stellt als Wirtschaftsmodell das Gemeinwohl, Kooperation und Gemeinwesen in den Vordergrund. Auch Menschenwürde, Solidarität, ökologische Nachhaltigkeit (etwa Kreislaufwirtschaft), soziale Gerechtigkeit und demokratische Mitbestimmung („Partizipation“) werden als Werte der Gemeinwohl-Ökonomie bezeichnet. Diese Vision soll durch die Anwendung der sogenannten „Gemeinwohl-Bilanz“ erfolgen, ein werteorientiertes Messwerkzeug und Reportingverfahren für Unternehmen, Privatpersonen, Gemeinden und Institutionen.
Begriffsgeschichte
Im deutschen Sprachraum wurde der Begriff erstmals von Joachim Sikora, Leiter des Katholisch-Sozialen Instituts der Erzdiözese Köln, verwendet. Gemeinsam mit Günther Hoffmann verfasste er 2001 die „Vision einer Gemeinwohl-Ökonomie – auf der Grundlage einer komplementären Zeit-Währung“. Als Quelle beruft er sich prominent auf die Enzyklika „Gaudium et spes“. Davon unabhängig entwickelte Christian Felber 2008–2010 mit Unternehmern aus Wien und Niederösterreich ein alternatives Wirtschaftsmodell, das er 2010 als Buch unter dem Titel Gemeinwohl-Ökonomie veröffentlichte. 2011 gründete sich in Wien auf Basis diese Buches der „Verein zur Förderung der Gemeinwohl-Ökonomie“. Felbers Buch lag Ende 2020 in 12 Sprachen vor. Außerdem war er Initiator des gescheiterten Projektes Bank für Gemeinwohl und stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender der projekttragenden Genossenschaft.
Der Begriff des Gemeinwohls ist auch im englischen, italienischen und französischen Sprachraum zu finden. Zunächst veröffentlichten die US-Ökonomen Herman Daly und John Cobb 1989 „For the Common Good. Redirecting the Economy toward Community, the Environment, and a Sustainable Future“. In Italien publizierte der papstnahe Volkswirt Stefano Zamagni „L'economia del bene comune“. In Frankreich veröffentlichte Jean Tirole, Träger des Preises der Schwedischen Nationalbank für die Wirtschaftswissenschaften 2018 „Économie du bien commun“.
Gemeinwohl-Ökonomie – das Modell
Das Modell der Gemeinwohl-Ökonomie wird auf der Website der Bewegung in 10 Punkten zusammengefasst. Herzstück ist eine neue Zielvorgabe und Erfolgsmessung in der Wirtschaft. Gleich im ersten Punkt heißt es „die Gemeinwohl-Ökonomie ist der Aufbruch zu einer ethischen Marktwirtschaft, deren Ziel nicht die Vermehrung von Geldkapital ist, sondern das gute Leben für alle.“
Das Gemeinwohl-Produkt (Makroebene), die Gemeinwohl-Bilanz (Mesoebene) und die Gemeinwohl-Prüfung (Mikro-Ebene) sollen das BIP, den Finanzgewinn und Finanzrendite als bisherige, rein monetäre Erfolgsmaßstäbe ablösen.
Je mehr Wirtschaftsakteure und -aktivitäten zum Gemeinwohl beitragen, desto stärkere Anreize sollen sie vorfinden: vom öffentlichen Einkauf und der kommunalen Wirtschaftsförderung über Finanzierungen und Steuern bis hin zum Weltmarktzugang und Welthandel. Umgekehrt sollen schädigende Aktivitäten schlechter gestellt werden. Langfristig sollen dadurch nur noch wirtschaftliche Aktivitäten rentabel sein, die keine ökologischen und sozialen Schäden anrichten.
Neben diesem Kern einer „ethischen Marktwirtschaft“ schlägt die Gemeinwohl-Ökonomie zahlreiche Reformen vor wie den Schwenk von Konkurrenz zu Kooperation, Arbeitszeitverkürzung und Sabbaticals, die Begrenzung der Ungleichheit, ethischen Welthandel oder ökologische Menschenrechte. Die konkreten Reformen sollen nach Vorstellung der Bewegung in demokratischen Wirtschaftskonventen – ähnlich den Bürgerräten in Irland, Deutschland und Frankreich – ausgearbeitet, vom demokratischen Souverän abgestimmt und in den Verfassungen verankert werden. Der Start könnte die Definition eines Gemeinwohl-Produkts werden, das sich aus 20 Teilzielen zusammensetzen und – so die Vision der GWÖ – die neue Leitvorgabe für die Wirtschaftspolitik werden könnte.
Gemeinwohl-Bilanz
Der Beitrag, den eine juristische Person zum Gemeinwohl leistet, kann über die Gemeinwohl-Bilanz ermittelt werden. Als Kriterien werden Menschenwürde, Solidarität und Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit, Transparenz und Mitentscheidung herangezogen.
Gemeinwohl-Ökonomie als gesellschaftliche Bewegung
Seit dem Start im Jahr 2010 haben sich laut eigenen Angaben etwa 3.000 Unternehmen und 8.000 Personen angeschlossen (Stand Beginn 2021). Rund 200 Regionalgruppen haben sich gebildet (Stand Januar 2021). Schwerpunkte bilden dabei die DACH-Staaten, weitere Staaten in Europa sowie Süd- und Nordamerika.
Immer mehr Kommunen und Städte wenden die GWÖ an und versuchen ihre Prinzipien umzusetzen, darunter Stuttgart, Mannheim, Amsterdam, Wien und Barcelona. Der Stadtrat von Münster hat beschlossen, für sämtliche Kommunalbetriebe eine Gemeinwohl-Bilanz zu erstellen.
Die erste Gemeinwohl-Region soll laut Angaben in Höxter (Ostwestfalen) entstehen. Die dortige Gemeinwohl-Stiftung NRW fördert die Bilanzierung von Städten und Unternehmen. Die ersten drei Gemeinwohl-Städte der Welt, Steinheim, Brakel und Willebadessen, zählen zu den GWÖ-Pionieren der Region.
Die Einbettung der Gemeinwohl-Ökonomie in das europäische Wirtschaftssystem und Wirtschaftsprogramm Europa 2020 wurde ab Februar 2015 im Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss diskutiert. Der Ausschuss nahm eine zehnseitige Initiativ-Stellungnahme am 17. September 2015 mit 86 % Stimmenmehrheit an und „erachtet das Modell als geeignet, in den Rechtsrahmen der EU und ihrer Mitgliedschaften integriert zu werden“.
2017 lud das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) die GWÖ ein, ihr Konzept vorzustellen. 2019 fand sie Erwähnung im UNRISD Working Paper „Sustainable Development Impact Indicators for Social and Solidary Economy“. 2019 wurde das Modell auf der UNECE-Konferenz in Genf vorgestellt – als geeignetes Instrument, die SDGs auf der Ebene von Unternehmen und Gemeinden umzusetzen.
Der Bericht an den Club of Rome von 2017 bringt Beispiele für seine Analyse, wonach sich die Welt – trotz aller Widerstände – auf dem Weg einer sozialen Transformation zu globaler Nachhaltigkeit befindet; als eines dieser Beispiele wird die Gemeinwohl-Ökonomie vorgestellt.
Auch der Bericht an den Club of Rome 2022 (earth for all) erwähnt die Gemeinwohlökonomie als das Wirtschaftsmodell einer positiven Zukunft.
Wissenschaftliche Aktivitäten
Die GWÖ-Aktionskreise „Bildung“ sowie „Wissenschaft und Forschung“ koordinieren zahlreiche Aktivitäten in Bildung und Wissenschaft. Die Fachhochschule Burgenland bot 2018 gemeinsam mit dem Studienzentrum Saalfelden erstmals einen Lehrgang „Angewandte GWÖ“ an.
An der Universität Valencia wurde 2017 ein Lehrstuhl GWÖ eingerichtet. Eine erste empirische Studie an 206 Unternehmen mit Gemeinwohl-Bilanz kam zum Ergebnis, dass das GWÖ-Modell sowohl die ethische Performance von Unternehmen stark als auch die finanzielle Performance leicht verbessert. Eine Studie der Universitäten Flensburg und Kiel bescheinigt der GWÖ „das Potenzial, zu einem Wandel in Richtung einer Postwachstumsgesellschaft beizutragen“.
Eine Studie des Institute for Advanced Sustainability Studies (IASS) verglich mehrere NFI-Rahmenwerke auf mögliche Anforderungen eines einheitlichen gesetzlichen NFI-Standards, bei dem die Gemeinwohl-Bilanz am besten abschnitt.
Ein Vergleich von Instrumenten zur Umsetzung der SDG in KMU bescheinigte der Gemeinwohl-Bilanz ein „hohes Ambitionsniveau“. Im Herbst 2019 fand die erste 3-tägige wissenschaftliche Konferenz zur GWÖ an der Hochschule Bremen statt.
Im Dezember 2019 brachte die Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik eine Sonderausgabe Ökonomie und Gemeinwohl heraus. Anfang 2021 editierte das wissenschaftliche Journal sustainability ein Special Issue „Sustainable Economy for the Common Good“. Ein Beitrag darin von Christian Felber, Johannes Dolderer und Petra Teitscheid zeichnet den Übergang von der Neoklassischen Ökonomik zu einer Gemeinwohl-Ökonomik.
Im Juli 2022 erschien ein Sammelband mit Beiträgen verschiedener Wissenschaftler zur Gemeinwohlökonomie im Gesundheitswesen.
Die Ziele der Gemeinwohl-Ökonomie decken sich weitgehend mit den Nachhaltigkeitszielen der UN und verschiedenen Konzepten, beispielsweise der Donut-Ökonomie von Kate Raworth, der wachstumskritischen Bewegung (auch Postwachstumsbewegung, engl. degrowth movement), dem qualitativen Wachstum, der ökologischen Ökonomie und earth for all.
Kritik von Unternehmerverbänden
Die Wirtschaftskammer Österreich veröffentlichte am 27. August 2013 eine „umfassende und kritische Analyse“ mit dem Titel „Gemeinwohl-Ökonomie auf dem Prüfstand“; Hauptkritikpunkte waren im Vergleich zum österreichischen Modell der Ökosozialen Marktwirtschaft
- die Gemeinwohl-Ökonomie gehe von Wertungen aus,
- schränke Eigentums- und Freiheitsrechte ein,
- wolle Marktwirtschaft und Konkurrenz abschaffen,
- die Individuen einem Gemeinwohl-Gremium unterwerfen,
- sie sei bürokratisch und ineffektiv,
- außerdem nur weltweit durchsetzbar, nicht von einzelnen Ländern.
Die Wirtschaftskammer Steiermark brachte 2013 eine Broschüre ähnlichen Inhalts zu den Themen Wachstumskritik und Gemeinwohl-Ökonomie heraus. Felber setzte sich ausführlich mit den Kritikpunkten auseinander:
- Es gebe keine wertfreien Aussagen darüber, wie die Wirtschaftsordnung beschaffen sein soll. Auch das ökosoziale Modell gehe von Wertungen aus.
- Jede Wirtschaftsordnung müsse demokratisch legitimiert werden, diese Legitimation fehle gerade dem bestehenden liberalen System.
- Schrankenlose Freiheit sei keine sinnvolle Freiheit. Die größtmögliche Freiheit aller sei nur möglich, wenn sie begrenzt sei, um Machtkonzentration auszuschließen.
- Das Gemeinwohlprinzip sei in vielen Verfassungen festgelegt.
- Verpflichtung zu ethischem Verhalten sei keine unzulässige Einschränkung der Freiheit.
2010 bezeichnete der Unternehmer Mirko Kovats, Mehrheitseigner der noch im gleichen Jahr insolvent gewordenen A-Tec Industries, in einem Streitgespräch mit Felber das Modell der Gemeinwohl-Ökonomie als „weltfremd“. 2011 sah der ehemalige Chefökonom der österreichischen Industriellenvereinigung Erhard Fürst in der Gemeinwohl-Ökonomie einen „Wegweiser in Armut und Chaos“.
Literatur
- Christian Felber: Die Gemeinwohl-Ökonomie. Eine demokratische Alternative wächst. Neuausgabe 2018 (erste Ausgabe 2010), ISBN 978-3-552-06291-7.
- Christian Felber: Geld. Die neuen Spielregeln. ISBN 978-3-552-06213-9.
- Christian Felber: Ethischer Welthandel. Eine Alternative zu TTIP, WTO & Co. 2017, ISBN 978-3-552-06338-9.
- Christian Felber: Neue Werte für die Wirtschaft: Die Gemeinwohl-Ökonomie als Alternative. In: Ethik und Ressourcenverknappung Bd. 7, 2013, S. 175.
- René Schmidpeter: Gemeinwohl-Ökonomie à la Felber – eine kritische Betrachtung. Gutachten im Auftrag der Julius Raab Stiftung (PDF; abgerufen am 10. April 2018).
- Bernd Sommer, Harald Welzer, Ludger Heidbrink: Gemeinwohl-Ökonomie im Vergleich unternehmerischer Nachhaltigkeitsstrategien (GIVUN). 2015 (PDF).
- Bernd Sommer, Klara Stumpf, Ralf Köhne, Josefa Kny, Jasmin Wiefek: Die zivilgesellschaftliche Bewegung der „Gemeinwohl-Ökonomie“ (GWÖ) aus Perspektive der sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung und Praktischen Philosophie. In: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik : zfwu. Vol. 20, Nr. 3. Nomos, 2019, ISSN 1439-880X, ZDB-ID 2017203-5, S. 448–457, doi:10.5771/1439-880X-2019-3-448.
Weblinks
- Internationaler Verein zur Förderung der Gemeinwohl-Ökonomie Internationale Webseite auf Englisch
- Gemeinwohl-Ökonomie Deutschland, Offizielle Webseite auf Deutsch
- „Gemeinwohlökonomie – nachhaltig wirtschaften nach der Krise“, Radio Feature, SWR2, 9. Juni 2020
- „Gemeinwohl-Ökonomie: Verantwortung übernehmen“, Süddeutsche Zeitung, 5. Oktober 2016
Einzelnachweise
- ↑ Bernd Sommer, Klara Stumpf, Ralf Köhne, Josefa Kny, Jasmin Wiefek: Die zivilgesellschaftliche Bewegung der „Gemeinwohl-Ökonomie“ (GWÖ) aus Perspektive der sozialwissenschaftlichen Transformationsforschung und Praktischen Philosophie. In: Zeitschrift für Wirtschafts- und Unternehmensethik : zfwu. Band 20, Nr. 3. Nomos, 2019, ISSN 1439-880X, ZDB-ID 2017203-5, S. 448–457, doi:10.5771/1439-880X-2019-3-448.
- 1 2 3 4 5 Christian Felber: Gemeinwohl-Ökonomie. Pieper, München 2018.
- ↑ Gemeinwohl in der Geschichte. Abgerufen am 19. April 2021.
- ↑ Niklas S. Mischkowski, Simon Funcke, Michael Kress-Ludwig, Klara H. Stumpf: Die Gemeinwohl-Bilanz – Ein Instrument zur Bindung und Gewinnung von Mitarbeitenden und Kund*innen in kleinen und mittleren Unternehmen? In: NachhaltigkeitsManagementForum | Sustainability Management Forum. Band 26, Nr. 1, 1. Dezember 2018, ISSN 2522-5995, S. 123–131, doi:10.1007/s00550-018-0472-0.
- 1 2 Joachim Sikora: Vision einer Gemeinwohl-Ökonomie auf der Grundlage einer komplementären Zeit-Währung. ISBN 3-927566-24-1.
- ↑ Gründungsverein. Abgerufen am 26. April 2021.
- ↑ Hannes Koch: Der Finanzmissionar In: die tageszeitung. 14. April 2012.
- ↑ Die Gemeinwohl-Ökonomie. Abgerufen am 26. April 2021.
- ↑ Christian Felber: Lebenslauf. Abgerufen am 19. Juni 2018.
- ↑ Christian Felber – Genossenschaft für Gemeinwohl. Abgerufen am 19. Juni 2018.
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- ↑ Économie du bien commun. Abgerufen am 26. April 2021 (französisch).
- ↑ Theoretische Basis. Abgerufen am 26. April 2021.
- ↑ ECG in Municipalities. Abgerufen am 26. April 2021.
- ↑ Susanne Meier: Menschlichkeit statt Finanzgewinn: 16 Tiroler Pionier-Unternehmen erstellen erstmals eine Gemeinwohlbilanz, indem sie ihre Firma in Punkten wie soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit bewerten. In: Tiroler Tageszeitung. 17. November 2012
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- ↑ Gemeinwohlökonomie am Prüfstand (Memento vom 4. März 2016 im Internet Archive)
- ↑ Anmerkungen zum Positionspapier der WK Steiermark „Wachstum und Wirtschaftsmodelle. Bruttoinlandsprodukt, Gemeinwohl-Ökonomie & Co“ (PDF; 97 kB; 6 Seiten) (Memento vom 22. Januar 2017 im Internet Archive), Christian Felber, 1. Juli 2013, abgerufen am 15. März 2020.
- ↑ Format, Print-Ausgabe, 24. September 2010.
- ↑ Erhard Fürst: Ein Wegweiser in die Armut. Die Presse, 31. Januar 2011, abgerufen am 4. Juli 2017.