Als Ghulāt (arabisch غلاة, DMG ġulāt ‚Übertreiber‘, Einzahl: Ghālin) werden in der islamischen Doxographie solche schiitische Gruppen bezeichnet, die in der Verehrung der Imame so weit gehen, dass sie ihnen göttliche Eigenschaften beimessen. Diese Art der Verehrung wird Ghulūw (arabisch غلو, DMG ġulūw ‚Überschreitung der gebührenden Grenzen, Übertreibung‘) genannt.

Als Begründer der Ghulūw-Tradition gilt ʿAbdallāh ibn Saba', von dem erzählt wird, dass er ʿAlī ibn Abī Tālib für Gott hielt. Danach wurden derartige Vorstellungen vor allem im Kreis der Kaisānīya weiter gepflegt. Zu den wichtigsten Ghulāt-Theoretikern des 8. Jahrhunderts gehörten al-Mughīra ibn Saʿīd (gest. 737), Abū Mansūr al-ʿIdschlī und Abū l-Chattāb. Einige Ghulāt-Theoretiker haben sich auch sehr intensive Gedanken über die Gestalt Gottes gemacht. So lehrte zum Beispiel al-Mughīra, dass Gott die Gestalt eines Mannes aus Licht habe, sich auf seinem Haupt eine Krone aus Licht befinde, aus seinem Herzen die Weisheit quelle und seine Glieder den Buchstaben des arabischen Alphabets entsprächen. Zu den heute noch existierenden Gruppen, die den Ghulāt zugerechnet werden, gehören die Nusairier in Syrien und der Türkei, die Ahl-e Haqq in Iran und die Schabak im Irak. Auch im Bereich der Zwölfer-Schia hat sich Ghulāt-Gedankengut erhalten.

Mit den Ghulāt waren die Gruppen verwandt, die in der schiitischen Häresiographie als Mufauwida (مُفَوِّضة, DMG mufawwiḍa ‚Delegierer‘) bezeichnet werden. Sie wurden deswegen so genannt, weil nach ihrer Vorstellung Gott seine Macht an die Imame delegiert.

Literatur

  • T. Bayhom-Dauo: The Second Century Shiʿi Ghulāt: Were they really Gnostic? In: Journal of Arabic and Islamic Studies. Band 5 (2003/04), S. 13–60.
  • Heinz Halm: Die islamische Gnosis. Die extreme Schia und die ʿAlawiten. Artemis-Verlag, Zürich u. a. 1982, ISBN 3-7608-4530-4.
  • Heinz Halm: Ḡolāt. In: Ehsan Yarshater (Hrsg.): Encyclopædia Iranica. Band 11(1), 2003, ISBN 0-933273-71-1, S. 62–64 (englisch, iranicaonline.org, Stand: 9. Februar 2012 mit Literaturangaben).
  • Marshall G. S. Hodgson: GHULĀT. In: Encyclopaedia of Islam. New edition, 2nd reprint. Band 2: C – G. Brill Academic Publishers, Leiden u. a. 1983, ISBN 90-04-07026-5, S. 1093–1095.
  • Michel M. Mazzaoui: The origins of the Ṣafawids: Šīʿism, Ṣūfism, and the Ġulāt. Steiner, Wiesbaden 1972 (Digitalisat).
  • Matti Moosa: Extremist Shiites. The Ghulat Sects. Syracuse University Press, Syracuse NY 1988, ISBN 0-8156-2411-5.
  • Colin P. Turner: The “Tradition of Mufaḍḍal” and the doctrine of the rajʿa: evidence of ghuluww in the eschatology of Twelver Shiʿism? In: Iran: Journal of the British Institute of Persian Studies. Band 44, 2006, S. 175–195.

Einzelnachweise

  1. Vgl. H. Wehr: Arabisches Wörterbuch. Wiesbaden 1968, S. 611.
  2. Vgl. Hossein Modarressi: Crisis and Consolidation in the formative period of Shiʿite Islam. Abū Jaʿfar ibn Qiba al-Rāzī and his contribution to Imāmite Shīʿite thought. Darwin Press, Princeton NJ 1993, ISBN 0-87850-095-2, S. 21–29.
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