Hans Geissel (* 13. Mai 1950 in Alsfeld) ist ein deutscher Experimentalphysiker, der sich mit der atomaren und nuklearen Wechselwirkung energiereicher Schwerionen mit Materie beschäftigt. Dabei bilden die Entdeckung von neuen Isotopen und die Untersuchung ihrer Eigenschaften einen besonderen Schwerpunkt. Geissel ist außerplanmäßiger Professor am II. Physikalischen Institut der JLU und war Leiter der Abteilung FRS / Super-FRS beim GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung in Darmstadt, wo er heute als Helmholtz Professor tätig ist.
Leben und Wirken
Studium und Forschung
Hans Geissel studierte Physik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Seine Diplomarbeit, betreut von Gottfried Münzenberg, beschäftigte sich 1977 mit dem Bau von Flugzeitdetektoren im Rahmen des Aufbaus des Schwerionen-Separators SHIP, dem Herzstück der Anlage zur Erzeugung der schwersten Elemente an der 1969 gegründeten Gesellschaft für Schwerionenforschung in Darmstadt (heute GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung). Seine Dissertation bei Peter Armbruster befasste sich mit dem Studium der atomaren Wechselwirkung und der Abbremsung von Schwerionen in Materie im Energiebereich bis 10 MeV/u. Der universelle lineare Beschleuniger UNILAC stellt seit 1974 an der GSI weltweit erstmals alle Spezies von Projektilionen, vom Wasserstoff bis zu den schwersten, Uran, für Experimente zur Verfügung. Von 1982 bis 1984 war Geissel Post-Doktorand am kanadischen Atomic Energy of Canada Limited in den Chalk River Laboratories. Seine dortige Forschung in der Festkörperphysik-Gruppe von William N. Lennard führte er am dortigen Forschungsreaktor und an kleineren Ionenbeschleunigern durch.
Aufbau des Fragment-Separators FRS bei GSI
Geissel kehrte 1985 an die GSI zurück, um dort am von Paul Kienle und Dieter Böhne konzipierten Schwer-Ionen-Synchrotron mit dem Experimentier-Speicher-Ring (SIS-ESR)-Projekts die Konzeption, die Berechnung und den Aufbau des Projektil-Fragment-Separators, FRS, mit Gottfried Münzenberg und anderen zu betreuen. Der FRS hat drei achromatische ionenoptische Zweige, charakterisiert durch eine maximale magnetische Steifigkeit von 18 Tm und einer Gesamtlänge von mehr als 100 m. Der kurze, symmetrische Zweig (74 m) hat die höchste ionenoptische Auflösung und Transmission, er ist somit am besten für die Entdeckung und Untersuchung von neuen Isotopen geeignet. Geissel habilitierte sich 1994 im Fachbereich Physik der Universität Gießen und gehörte zur im Jahr 2000 gegründeten IONAS-Gruppe.
Erzeugung und Vermessung neuer Kern-Isotope
Geissel hat am FRS der GSI über drei Jahrzehnte herausragende Forschungsleistungen erbracht, insbesondere zur Erzeugung von neuen, stabilen Kern - Isotopen und zur Erzeugung und zum Zerfall von neuen, instabilen Isotopen. Seit 2012 führt Geissel ein vom Discovery of Nuclides Project erstelltes Ranking der Forscher mit den meisten neu erzeugten Isotopen an.
Der erste Protonen-Halokern und die 2-Protonen-Radioaktivität sind weitere Beispiele für bedeutende Entdeckungen mit dem FRS und seinen Detektorsystemen. Neue schwere neutronenreiche Isotope sind astrophysikalisch von großer Bedeutung für das detaillierte Verständnis der Elementsynthese in den Sternen. Mit dem FRS-Zweig in Kombination mit dem Speicher- und Kühlerring ESR wurden hunderte von neuen Grundzustandsmassen erstmals gemessen. Dabei wird die neue β-Zerfallsart in gebundenen atomaren Elektronenzuständen untersucht. Pionierexperimente der internationalen FRS-ESR-Kollaboration wurden von Geissel geleitet. Am dritten FRS-Zweig, der relativistische exotische Projektilstrahlen zu den großen Detektorsystemen LAND und ALADIN leitet, wurden durch vollständige kinematische Messungen aller nuklearen Reaktionsprodukte ebenfalls zahlreiche neue Kerneigenschaften entdeckt. Da der FRS gleichzeitig ein hochauflösendes Magnetspektrometer darstellt, werden auch neue atomare Eigenschaften bei der Abbremsung von relativistischen Schwerionen erforscht.
Die experimentellen Ergebnisse bei relativistischen Geschwindigkeiten zeigen klar starke Abweichungen zu der noch häufig benutzten Bethe-Theorie. Genaue Daten zur atomaren Wechselwirkung sind auch für die Tumortherapie mit schweren Ionen notwendig. Anfang der 1990er Jahre war Geissel maßgeblich an Experimenten zur Anwendung von Positronen-Emittern in der Tumortherapie beteiligt. Ein weiterer Meilenstein in der wissenschaftlichen Arbeit von Geissel ist die experimentelle Entdeckung gebundener pionischer Zustände in schweren Atomen (Pb, Sn). Viele der genannten atom- und kernphysikalischen Fragestellungen untersucht er mit Kollegen in internationalen Forscherteams auch an Beschleunigern in Frankreich, Japan, Kanada und USA.
Schriften (Auswahl)
- mit P. Armbruster, K. H. Behr et al.: The GSI projectile fragment separator (FRS): a versatile magnetic system for relativistic heavy ions. In: Nuclear Instruments & Methods in Physics Research B 70(1-4), S. 286–297 (1992). doi:10.1016/0168-583X(92)95944-M.
- mit K. Beckert, F. Bosch et al.: First storage and cooling of secondary heavy-ion beams at relativistic energies. In: Physical Review Letters 68(23), S. 3412–3415 (1992). doi:10.1103/physrevlett.68.3412.
- mit H. Weick, C. Scheidenberger et al.: Experimental studies of heavy-ion slowing down in matter. In: Nuclear Instruments & Methods Physics Research B 195, S. 3–54 (2002). doi:10.1016/S0168-583X(02)01311-3.
- mit Gottfried Münzenberg, K. Riisager: Secondary Exotic Nuclear Beams. In: Annual Review of Nuclear and Particle Science 45(1), S. 163–203 (1995). doi:10.1146/annurev.ns.45.120195.001115.
- mit W. M. Schwab, H. Lenske et al.: Observation of a proton halo in 8B. In: Zeitschrift für Physik A Hadrons and nuclei 350, S. 283–284 (1995). doi:10.1007/BF01291183.
- mit T. Radon, G. Münzenberg et al.: Schottky mass measurements of stored and cooled neutron-deficient projectile fragments in the element range of 57 ≤ Z ≤ 84. In: Nuclear Physics A 677(1-4), S. 75–99 (2000). doi:10.1016/S0375-9474(00)00304-3.
- mit K. Suzuki, M. Fujita et al.: Precision Spectroscopy of Pionic 1s States of Sn Nuclei and Evidence for Partial Restoration of Chiral Symmetry in the Nuclear Medium. In: Physical Review Letters 92, 072302 (2004). doi:10.1103/PhysRevLett.92.072302.
- mit H. Weick, M. Winkler et al.: The Super-FRS project at GSI. In: Nuclear Instruments & Methods in Physics Research B 204, S. 71–85 (2003). doi:10.1016/S0168-583X(02)01893-1.
- mit J. Kurcewicz, F. Farinon et al.: Discovery and cross-section measurement of neutron-rich isotopes in the element range from neodymium to platinum with the FRS. In: Physics Letters B 717(4-5), S. 371–375 (2012). doi:10.1016/j.physletb.2012.09.021.
- mit J. S. Winfield, G. P. A. Berg et al.: Dispersion-matched spectrometer in the low-energy branch of the Super-FRS for high-resolution measurements with large-emittance relativistic fragment beams. In: Nuclear Instruments and Methods in Physics Research B, Volume 317, S. 277–283 (2013). doi:10.1016/j.nimb.2013.07.064.
- mit T. Dickel, W. R. Plass, S. Andres, S. Ayet San Andres; et al.: First spatial separation of a heavy-ion isomeric beam with a multiple-reflection time-of-flight mass spectrometer. In: Physics Letters B 744 (2015) S. 137. doi:10.1016/j.physletb.2015.03.047.
Ehrungen
- 1982: DPG Research Grant Canada
- 2010: Ehrendoktor der Chalmers University of Technology, Göteborg
- 2010: Goldmedaille der Comenius-Universität Bratislava
- 2013: „Weltrekord“ in der Zahl der neuentdeckten Isotope
- 2015: Helmholtz Professor an der GSI
- 2020: Alexander von Humboldt-Preis für Physik der Foundation for Polish Science, Polen
Weblinks
Einzelnachweise
- ↑ II. Physikalisches Institut: AG Schneidenberger. In: uni-giessen.de. Abgerufen am 12. August 2023.
- ↑ Website der FRS-Gruppe. In: gsi.de. Abgerufen am 12. August 2023.
- ↑ Er ist der Forscher mit den meisten Koautorschaften in Artikeln, die ein neues Isotop nachweisen, Stand 2022 mit 277 Koautorschaften/Isotopen. Siehe Michael Thoennessen: Top 1000 (co)authors 2022. Abgerufen am 12. August 2023. Im Jahr 2012 führte er die Liste erstmals mit 272 Koautorschaften an. Für die verwendeten Kriterien, vgl. Discovery of Nuclides Project.
- ↑ Justus-Liebig-Universität Gießen: Ehrendoktor für Prof. Dr. Hans Geissel. 28. Juli 2010, abgerufen am 30. Juni 2023.
- ↑ Michael Thoennessen: Table of top 1000 (co)authors. 2012, abgerufen am 12. August 2023.
- ↑ Menschen. Preise, Auszeichnungen, Ehrungen. In: Physik Journal. Band 14, Nr. 11, 2015, S. 50 (pro-physik.de [abgerufen am 18. August 2023]).
- ↑ Auszeichnung der Foundation for Polish Science für Prof. Hans Geissel. In: idw. Justus-Liebig-Universität Gießen, 9. Februar 2020, abgerufen am 30. Juni 2023.