Hegel: „Über den Staat“ ist der Titel eines Anfängerseminars, das im Wintersemester 1934/35 von Martin Heidegger und Erik Wolf an der Universität Freiburg durchgeführt wurde. Es fand in acht Sitzungen vom November 1934 bis zum Januar 1935 statt. Der genaue Wortlaut des Seminars ist unbekannt, doch Verlauf, Themen und Wertungen sind durch Mitschriften der Studenten Wilhelm Hallwachs und Siegfried Bröse überliefert. Die Mitschriften wurden 2011 in der Gesamtausgabe veröffentlicht, waren aber bereits seit 2005 Gegenstand der Heidegger-Kontroverse.
Quellen
Als Primärquelle existiert ein Manuskript von Heidegger, das – größtenteils stichpunktartig und in Satzfragmenten – nur Notizen zur Struktur des Seminares enthält. Die Mitschriften der studentischen Teilnehmer Hallwachs und Bröse, von Heidegger handschriftlich „stellenweise ergänzt“, sind im Literaturarchiv Marbach aufbewahrt. Textgrundlage des Seminars, das als Interpretationskurs konzipiert war, sind nicht die kompletten Grundlinien der Philosophie des Rechts (1820) von Georg Wilhelm Friedrich Hegel gewesen, sondern eine Ausgabe des Kröner-Verlages, die nur ca. ein Drittel davon wiedergibt und erstmals im Jahr 1924 von Paul Alfred Merbach zusammengestellt wurde.
Das Seminar im Kontext der Heidegger-Kontroverse
In den Fokus öffentlicher Wahrnehmung geriet das Seminar 2005 im Zusammenhang mit Emmanuel Fayes Publikation zu Heideggers nationalsozialistischer Vergangenheit. Zum Stein des Anstoßes wurde insbesondere ein Satz, mit dem Heidegger auf die entsprechende Darlegung von Carl Schmitt reagierte, indem er sie zurückwies und das Gegenteil befürwortete:
„Welches ist nun aber die heutige Staatsauffassung? Man hat gesagt, 1933 ist Hegel gestorben; im Gegenteil: er hat erst angefangen zu leben.“
Gemäß Faye handle sich um einen „abscheulichen Satz“, der vollkommen unhaltbar sei und die „Identifizierung Hegels mit dem Staat von 1933“ zeige. Man begegne im Seminar „einem Heidegger, der für den Fortbestand des nationalsozialistischen Reiches sorgen will“. Die These von Carl Schmitt, „die eine profunde Kontinuität zwischen dem hegelschen Denken der Totalität des Staates (...) mit der dreigliedrigen Organisation des nationalsozialistischen Staates behauptet“, habe er noch radikalisiert. Heidegger präsentiere in dem Seminar eine bewusste Umdeutung der Hegelschen Philosophie mit der Absicht, der nationalsozialistischen Ideologie ein philosophisches Fundament zu geben. Weitgehend dokumentiere das Seminar sogar Heideggers Versuch, Hegels Rechtsphilosophie zu Gunsten des Führerstaates zu zerstören. Diese Deutung wurde von anderen Gelehrten teils bekräftigt, teils infrage gestellt. Weitgehende Einigkeit herrscht aber darüber, dass Heidegger metaphysisches Denken als notwendig für die hegelsche Auffassung beschreibt und das „neue Ringen um den Staat“ nur teilweise darin einordnet.
„Die Bedeutung der Auseinandersetzung mit H[egel]’s Staatsphilosophie und zunächst der Besinnung auf sie liegt darin, zu lernen, wie ein metaphysisches Denken und Durchdenken des Staates aussieht. Es handelt sich um die Form des Staatsdenkens. Es ist sicher, daß unser neues Ringen um den Staat aus der soziologischen Fragestellung heraus ist, wenn es auch immer wieder in sie zurückfällt.“
Im Deutungszusammenhang einer heideggerschen Kritik am NS-Staat gibt L. Hemming zu denken, dass der Hegelianismus, insofern er 1933 also die Erfüllung fand und metaphysisches Denken forderte, dann von Heidegger aber zurückgewiesen wurde, mitsamt Hitlers Anspruch, die Verkörperung des NS-Staates zu sein.
In diese Richtung geht wohl schon ein Kommentar von B. Altmann, 1938, obgleich unentschieden ist, in welchem Maß Heideggers Ablehnung platonischer Ideen darin berücksichtigt ist: „Dabei prägte er einmal das Wort, dass die Hegelsche Staatsidee ihre vollendete Ausprägung in Hitler-Deutschland gefunden hat und damit 'eine Platonische Idee an sich in der Wirklichkeit' geworden sei.“
In seiner Replik wies H. Zaborowski Fayes Lesart des Seminars insgesamt zurück. Der Herausgeber der Seminarmitschriften, P. Trawny, kam hingegen zur Deutung, das Manuskript dokumentiere Heideggers Versuch, „den Nationalsozialismus zu »hegelianisieren«“.
Historischer Hintergrund
Kurz nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten war Heidegger zum Rektor der Universität Freiburg gewählt worden, im Mai 1933 trat er der NSDAP bei, im April 1934 legte er sein Rektoratsamt nieder. Er war ab 1934 Mitglied des Ausschusses für Rechtsphilosophie der Akademie für Deutsches Recht, die von dem Reichskommissar für die Gleichschaltung der Justiz Hans Frank geleitet wurde. Zu den Mitgliedern des Ausschusses Rechtsphilosophie gehörten neben Hans Frank und Martin Heidegger noch ihr Stellvertretender Vorsitzender Carl August Emge und unter anderen Hans Freyer, Alfred Rosenberg und Erich Rothacker. Das Seminar aus dem Wintersemester 1934/35 kann als ein weiterer Nachweis für Heideggers rechtsphilosophisches Interesse nach dem Rücktritt vom Rektorat gelten.
Literatur
- Martin Heidegger. Seminare Hegel-Schelling. Hrsg. von Peter Trawny. Gesamtausgabe Band 86. Frankfurt a. M.: Klosterman 2011. ISBN 978-3-465-03682-1
- Peter Trawny: Heidegger und das Politische. Zum „'Rechtsphilosophie'-Seminar“. In: Heidegger Studies. Vol. 28. 2012. S. 47–66.
- Emmanuel Faye: Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie. Im Umkreis der unveröffentlichten Seminare zwischen 1933 und 1935. Berlin: Matthes & Seitz 2009. ISBN 978-3-88221-025-5
- Ausführlicher Review von Peter E. Gordon in: Philosophical Reviews. University of Notre Dame. 3. Dezember 2010. Volltext
- Peter E. Gordon: Hammer without a Master: French Phenomenology and the Origins of Deconstruction (or, How Derrida read Heidegger). In: Mark Bevir, Jill Hargis, Sara Rushing (Hrsg.): Histories of Postmodernism. Routledge 2007. S. 103–130.
- Holger Zaborowski: Eine Frage von Irre und Schuld, Frankfurt am Main, 2010
Einzelnachweise
- ↑ Universität Freiburg, Vorlesungsverzeichnis WS1934/35
- ↑ Holger Zaborowski, Eine Frage von Irre und Schuld, Frankfurt am Main, 2010, S. 406; Emmanuel Faye, Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie. Im Umkreis der unveröffentlichten Seminare zwischen 1933 und 1935, Berlin 2005, S. 280.
- ↑ Martin Heidegger: Seminare Hegel-Schelling. Gesamtausgabe Band 86. Klostermann, Frankfurt am Main 2011.
- ↑ Holger Zaborowski, Eine Frage von Irre und Schuld, Frankfurt am Main, 2010, S. 406
- ↑ Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Der Staat. Leipzig: Kröner 1934
- ↑ vgl. Thomas Meyer, Denker für Hitler, S. 2
- ↑ GA 86, 85.
- ↑ Emmanuel Faye: Heidegger: The Introduction of Nazism Into Philosophy in Light of the Unpublished Seminars of 1933–1935. Yale University Press, 2009, S. 223
- ↑ Emmanuel Faye: Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie. (2005) Matthes & Seitz, Berlin 2009, 273, 313, S. 328..
- ↑ Emmanuel Faye: Heidegger. Die Einführung des Nationalsozialismus in die Philosophie. Im Umkreis der unveröffentlichten Seminare zwischen 1933 und 1935. Berlin: Matthes & Seitz 2009. S. 273 ff.
- ↑ vgl. Laurence Paul Hemming: Heidegger and Marx: A Productive Dialogue over the Language of Humanism. Northwestern University Press, Evanston, 2013, S. 162.; Henning Ottmann: Geschichte des politischen Denkens. Band 4.2, Metzler, Stuttgart/Weimar 2012, PDF (Memento des vom 5. März 2016 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. ; Alexander Hollerbach, Zum Verhältnis von Erik Wolf und Martin Heidegger. Ein nicht abgeschickter Brief Erik Wolfs an Karl Barth, in: Heidegger Jahrbuch 4, Freiburg – München 2009, 284–347, hier: 337.
- ↑ GA 86, 86.
- ↑ vgl. Laurence Paul Hemming: Heidegger and Marx: A Productive Dialogue over the Language of Humanism. Northwestern University Press, Evanston, 2013, S. 162.: „In understanding the extent to which Nazism and Hitlerism are the form of the fulfillment of Hegel's theory of the state (...) Heidegger is (...) repudiating Hitler's claim to be the embodiment of the (...) Nazi 'program'.“
- ↑ Vgl. Heidegger-Jahrbuch 4, S. 207.
- ↑ Holger Zaborowski, Eine Frage von Irre und Schuld, Frankfurt am Main, 2010, S. 405 ff.; 433–445.
- ↑ Martin Heidegger: Seminare Hegel-Schelling. S. 903.