Hier ist noch alles möglich ist der Debütroman der Schweizer Schriftstellerin Gianna Molinari, der im Jahr 2018 im Aufbau Verlag erschienen ist. Der Roman erzählt von einer zunehmend stillstehenden Fabrik, einer jungen Frau, die sich als Nachtwächterin einstellen lässt, einem Chef, der einen Wolf auf seinem Gelände vermutet, und von den Bemühungen, den Wolf einzufangen.
Inhalt
Handlung
Der Roman handelt von einer Nachtwächterin, welche seit kurzem in einer Fabrik arbeitet. Die Fabrik wird bald geschlossen, somit ist ihre Hauptaufgabe, zusammen mit Clemens, welcher ebenfalls als Nachtwächter arbeitet, für Ruhe zu sorgen. Als eines Tages der Koch der Fabrik einen Wolf auf dem Fabrikgelände sichtet, besteht ihre und Clemens Aufgabe darin, den Wolf einzufangen. Jede Nacht graben sie an dem vom Chef in Auftrag gegebenen Fallloch und beobachten die Monitore im Überwachungsraum, doch der Wolf zeigt sich nicht. Auch die ausgelegten Tellereisen führen zu keinem Erfolg. Als die Nachtwächterin von einem Mann, der vom Himmel fiel, erfährt, lernt sie den Fabrikangestellten Lose kennen, welcher sich bestens mit dem Fall auskennt. Er sah den Mann, als er gerade auf seinem Hochstuhl sass, während er am Jagen war. Lose kündigt jedoch kurze Zeit später aufgrund der baldigen Schliessung der Fabrik und fängt an, am Flughafen zu arbeiten. Der Chef erteilt zwei Wochen Urlaub. Da die Nachtwächterin nicht viel zu tun hat und noch dazu in der Fabrik wohnt, beschliesst sie, Lose zu besuchen. Auf diesem Weg lernt sie Erika kennen, welche als Flugzeugmechanikerin arbeitet. Sie zeigt der Nachtwächterin ein Flugzeug aus der Nähe und erklärt ihr ihre Arbeit. Inzwischen taucht ein Phantombild einer Bankräuberin auf, welches der Protagonistin verblüffend ähnlich sieht, weswegen Clemens sie damit konfrontiert. Sie streitet ab, den Überfall begangen zu haben, fühlt sich aber zunehmend beobachtet und unwohl, wenn sie einkaufen geht. Eines Tages, als die Nachtwächterin ihre „Halle“, ihr Zimmer in der Fabrik, betritt, liegt der Wolf in der Zimmerecke und verschwindet einige Tage später wieder. Das Buch endet anschliessend mit der Fertigstellung des Fallochs und dem Verkauf der Fabrik.
Personen
- Ich-Erzählerin (Nachtwächterin; Name nicht bekannt)
- Clemens (ebenfalls Nachtwächter, Freund der Ich-Erzählerin)
- Lose (Angestellter der Fabrik; später: Angestellter am Flughafen)
- Chef (Besitzer der Fabrik)
- Koch (arbeitet in der Kantine, welche die Ich-Erzählerin regelmässig besucht)
- Erika (Angestellte am Flughafen)
- Wolf (wird auf dem Fabrikgelände vermutet)
Ort
Die Geschichte spielt etwas abseits einer kleinen Stadt, auf einem umzäunten Fabrikgelände mit einem nahegelegenen Flughafen. Der Fabrik steht die baldige Schliessung zuvor, weshalb kaum noch Angestellte vor Ort sind. Das Gelände scheint somit ziemlich verlassen.
Themen
- Identitätssuche
- Flucht vor Gesetz
- Ich-Zerfall
- Wirklichkeitsverlust
- Ängste
- Neuanfang
- Ungewissheit
Form
Aufbau und Gattung
Gianna Molinaris Werk gehört zur Gattung Roman und umfasst 190 Seiten. Es handelt sich um eine berichtende Erzählung, in welcher das Geschehene von einem Beobachter beschrieben wiedergegeben wird.
Das Werk ist in drei Teile unterschiedlicher Länge gegliedert, welche keine Überschrift tragen. Die Geschichte verläuft zeitlich chronologisch und enthält wenige Rückblenden (z. B. Mann, der vom Himmel fiel). Das Buch ist einerseits mit Fotografien, andererseits mit Skizzen illustriert. Diese unterstützen die Erzählerin, ihre Gedanken und Aussagen besser ausdrücken zu können und helfen auch dem Leser, ihre Gedankengänge leichter nachzuvollziehen.
Im Roman wird eine wahre Geschichte aufgegriffen, welche sich 2010 in Weisslingen abspielte. Es geht um den Mann, der vom Himmel fiel. Inspiriert wurde Gianna Molinari durch die Radiosendung von Christoph Keller welcher am 22. Juni 2010 im Radio SRF 2 über diesen Fall berichtete. Durch Ermittlungen hatte man herausgefunden, dass der Mann der vom Himmel fiel, wahrscheinlich ein Flüchtling aus Afrika war und versuchte im Flugzeugfahrwerk eines Flugzeugs in die Schweiz einzureisen. Er war ziemlich sicher schon während des Flugs erfroren und aus dem Flugzeug gefallen als dieses die Fahrwerke für die Landung ausfuhr. Bei diesem Fall spielt die Ungewissheit eine grosse Rolle (Woher kam dieser Mann? Hatte er eine Familie? Was war seine Intention? Wurde er vermisst?), welche auch konstant im Buch zu finden ist.
Erzähltechnik und Sprache
Die Geschichte wird aus der Ich-Perspektive geschrieben und verläuft zeitlich linear, wird jedoch teilweise von kurzen Textpassagen, wie den Inselgeschichten, welche nichts mit der Haupthandlung zu tun haben, unterbrochen. Trotz der fehlenden Verbindung mit der Haupthandlung werden diese Inselgeschichten vermehrt wieder aufgegriffen und erzählt.
Die Sprache im Roman ist einfach und er enthält keine komplexen Sätze. Molinari hat mit ihrer Erzählerin eine Person erschaffen, bei welcher man das Gefühl hat, dass sie nicht wirklich an der Aussenwelt teilnehmen will. Die Erzählfigur wirkt so, als ob sie keine Meinung zu den Geschehnissen hat. Dadurch wirkt sie emotionslos und kühl. Trotzdem erkennt man bei einigen Themen (wie z. B. am Flughafen, beim Wolf, bei der Fabrik), Interesse und klare Gedankengänge, welche schlussendlich in ihrem Universal-Lexikon in Form von Texten oder Skizzen festgehalten werden. Diese Gedanken und Aussagen werden präzise beschrieben und genau geschildert. Zusätzlich ist eine Distanz zwischen Leser und Protagonistin vorhanden, da man während des Lesens keine Information über sie als Person bekommt.
Interpretationen
Deutungsansätze
- Parallelismus Wolf und Ich-Erzählerin
Gleich auf der ersten Seite wird sofort deutlich gemacht, dass der Wolf die Parallele zur Nachtwächterin bildet («Sie bewegen sich nachts. Auch ich bewege mich nachts…»). Des Weiteren kann niemand die Existenz des Raubtieres tatsächlich beweisen und ganz ähnlich sieht es auch bei der Protagonistin aus, denn niemand weiss tatsächlich etwas über sie, weder durch irgendwelche Verträge oder Bankkonten, noch durch Informationen, die sie über sich preisgibt.
- Protagonistin als Räuberin
Bereits die auffälligen Gemeinsamkeiten mit dem Phantombild, das in dem kleinen Dorf überall aufgehängt wird, sind ein Hinweis auf diese These (Clemens zu Protagonistin: »Das ist ein Phantombild der Polizei. Damit wird in der Stadt nach einer Bankräuberin gesucht. Das Bild sieht dir sehr ähnlich, bist du das.«). Ihre Paranoia, wenn sie in die Stadt gehen muss, um etwas einzukaufen und dass sie sich selbst existenzlos macht, wirken dann bekräftigend. Auch der Fakt, dass sie so viel über das Innere einer Bank weiss und darüber, wie ein Überfall ablaufen würde, macht den Leser skeptisch. Ein weiteres Indiz liefert die Tatsache, dass sie sich ständig Gedanken macht, wie ein mögliches Szenario bei einem Gespräch mit der Polizei aussehen könnte.
- Grube zeigt Geschichte auf
Im Auftrag des Chefs müssen die Nachtwächterin und ihr Arbeitskollege Clemens eine Falle erbauen, um den Wolf einfangen zu können. Dies geschieht bereits ganz am Anfang der Geschichte.
Je tiefer die Grube wird, desto tiefer taucht man auch in die ganze Geschichte ein. Schlussendlich klettert die Protagonistin selbst hinein, was darauf hindeutet, dass sie am Ende der Geschichte geschnappt wird.
- Mann der vom Himmel fiel
Die Idee basiert auf einem wahren Fall, der sich im Jahr 2010 ereignete. Der Vorfall in Weissling ZH und das Unglück vom namenlosen Mann, der vom Himmel fiel in Gianna Molinaris Erzählung sind quasi identisch. Beide Male trägt der Unbekannte nur eine Jeans, ein Tshirt, Schmuck und eine Banknote der zentralafrikanischen Bank an sich. Ohne Unterschied ist auch die Annahme, dass es sich bei dem jungen dunkelhäutigen Mann um einen Flüchtling handle, der auf illegalem Weg in die Schweiz einreisen wollte. Dazu stieg er in das Flugzeugfahrwerk und fiel dann jedoch bereits erfroren aus grosser Höhe aus dem Flugzeug, als die Räder für die Landung wieder ausgefahren wurden. Zusätzlich hat sich das Szenario mit der Bestattung des Toten ebenfalls gleichartig abgespielt. Es wurde lange umherdiskutiert, wer für die Kosten des Begräbnisses aufkommen müsse, obwohl wir hier in einem wohlhabenden Gebiet leben. Er steht im Roman für Flucht, Identitätslosigkeit, das Mysterium und die Geldabhängigkeit. Die Nachtwächterin beschäftigt sich intensiv mit diesem Fall, obwohl sie beim Geschehen nicht dabei war. Unter dem Vorwand dieses Vorfalls besucht sie Lose am Flughafen und lässt sich über Flugzeuge informieren, um sich ein Bild davon zu machen, wie das etwa ablaufen hätte können. Hinter dieser Aktion könnte man sich aber auch vorstellen, dass sie viel mehr selbst nach einer Fluchtoption sucht.
- Fabrik
Die heruntergekommene Fabrik, dessen Personal bereits ziemlich reduziert wurde und immer und immer weniger produziert steht für den Zerfall. So kann man auch den Ich-Zerfall der Protagonistin daraus ablesen.
Rezeption
Der Debütroman fällt sehr positiv auf und es wird gelobt, es sei Gianna Molinari gelungen, ein fabelhaftes «Sinnesbild unserer Gesellschaft» zu kreieren. Ebenfalls wird gerühmt, wie sie aus dem realen Fall vom «Mann, der vom Himmel fiel» ein Symbol für die zahlreichen Menschen, «die auf der Flucht sind und identitätslos gemacht werden» schafft. Diese Thematik ist gerade heutzutage wieder sehr aktuell und wird im Roman zusätzlich noch durch den Wolf, der in neue Gebiete vordringt, weil sein Revier zerstört wird, verkörpert. Auf diese Weise erhält dieses Thema in Molinaris Buch doppelte Präsenz. Gianna Molinaris Werk erinnert während des Lesens an ein «Kammerstück, spärlich möbliert, mit wenig Personal». Selbst der Titel ist dem Inhalt nahegelegen, denn es ist nichts unmöglich, sogar bedrohliche Wölfe und vom Himmel fallende Menschen sind Teil der Erzählung. Das Buch lebe von «skurrilen Ideen» und würde sowohl in Stil als auch in der Sprache «aus der Reihe tanzen», da diese «sehr knapp gehalten, aber wirkungsvoll, wohl gerade dadurch» sei. Es zeigt eine entmenschte Welt, die nicht dystopisch ist, es einem aber dennoch vorkommt, als hätte sich «die Masse der Menschen bereits verabschiedet». Einige kritische Stimmen bemängeln am Buch, dass Molinaris zentrale Themen in ihrem Debütroman, wie «Obdachlosigkeit, Wirklichkeitsverlust oder Ich-Zerfall», «alles andere als neu seien». Ebenfalls sei ihre Literatur «derart niedergebügelt», dass keine «Spur mehr von einem Möglichkeitssinn» vorhanden wäre.
Auszeichnungen und Nominierungen
- 2018: Robert-Walser-Preis
- 2018: Deutscher Buchpreis (Longlist)
- 2018: Schweizer Buchpreis (Shortlist)
- 2019: Clemens-Brentano-Preis
- 2019: Rauriser Literaturpreis (nominiert)
Einzelnachweise
- 1 2 Der Mann, der vom Himmel fiel - Radio. Abgerufen am 30. September 2020.
- ↑ Gianna Molinari: Hier ist noch alles möglich. 1. Auflage. Aufbau, Berlin 2018, ISBN 978-3-351-03739-0, S. 5.
- ↑ Gianna Molinari: Hier ist noch alles möglich. 1. Auflage. Aufbau, Berlin 2018, ISBN 978-3-351-03739-0, S. 140.
- ↑ Unbekannter Toter beerdigt. In: Tages-Anzeiger. 21. Juli 2010, ISSN 1422-9994 (tagesanzeiger.ch [abgerufen am 30. September 2020]).
- 1 2 Nicola Steiner: Der fabelhafte Debütroman der Baslerin Gianna Molinari. In: Srf. Srf, 17. September 2018, abgerufen am 22. Oktober 2020.
- 1 2 3 4 Gianna Molinari "Hier ist noch alles möglich", Aufbau. In: literaturblatt.ch. 13. Juli 2018, abgerufen am 30. September 2020 (Schweizer Hochdeutsch).
- 1 2 3 4 Johann Holzner: Faltenfrei - Zum Romandebüt „Hier ist noch alles möglich“ von Gianna Molinari : literaturkritik.de. Abgerufen am 30. September 2020 (deutsch).