Historischer Tanz ist ein Oberbegriff für den europäischen Gesellschaftstanz und Bühnentanz des 15. bis 19. Jahrhunderts. Im Gegensatz zum Volkstanz/traditionellen Tanz und auch zum klassischen Ballett beruht er nicht auf einer kontinuierlichen direkten Weitergabe, sondern basiert auf schriftlichen Quellen und ikonographischen Zeugnissen. Er umfasst in der Regel Tanzformen der Oberschicht und des Bürgertums. Die früher geprägte Bezeichnung Höfischer Tanz gilt wegen der zahlreichen Überschneidungen des Tanzrepertoires zwischen Adel und bürgerlichen Schichten inzwischen als überholt.

Mit dem Aufkommen der Alte-Musik-Bewegung im 20. Jahrhundert erwachte auch das Interesse für die Tanzformen früherer Jahrhunderte. Frühe Pioniere in der Forschung auf diesem Gebiet waren Melusine Wood und Mabel Dolmetsch, in Deutschland legte insbesondere Karl-Heinz Taubert die Basis für eine intensivere Erforschung der Tanzgeschichte vor 1900.

Quellen und Notation

Tänze und Tanzformen wurden in früheren Jahrhunderten in der Regel mündlich tradiert und von Tänzer zu Tänzer weitergegeben. Die ältesten Aufzeichnungen von Tänzen stammen aus der Mitte des 15. Jahrhunderts. Sie dienten einerseits als Gedächtnisstütze bei zunehmend komplexen Tanzabläufen andererseits auch dazu, den Status von Tanz zu heben, ihn als ernsthafte Beschäftigung und Kunst zu etablieren. In dieser Zeit verbreitete sich auch zunehmend der Beruf des Tanzmeisters. Tanzmeister tanzten und unterrichteten an den Fürstenhöfen, reisten durch ganz Europa und unterhielten auch Tanzschulen in vielen Städten. Als erstes Tanzlehrbuch der Geschichte gilt Il Ballarino, 1581, des italienischen Tanzmeisters Fabritio Caroso. Dieses Buch und fast alle anderen Schriften notierten Tanz in Form textlicher Beschreibungen. Eine Wortkürzel-Notation zur Beschreibung französischer Basse danses war im ausgehenden 15. Jahrhundert verbreitet, andere Notationssysteme, wie die von André Lorin und Jean Favier, fanden zunächst keine Nachahmer. Im späten 17. Jahrhundert entwickelte hingegen Pierre Beauchamps eine Symbolschrift, die 1700 von Raoul-Auger Feuillet in seinem Buch Chorégraphie publiziert wurde und innerhalb weniger Jahre europaweit zur Standardnotation wurde. Sie trug ganz wesentlich zur Verbreitung des französischen Barocktanzes bei und war bis Ende des 18. Jahrhunderts in Gebrauch. Heute wird sie als Beauchamps-Feuillet-Notation bezeichnet. Feuillet entwickelte auch eine stark vereinfachte, raumwegbasierte Notation, die für die Aufzeichnung von Contredanses verwendet wurde. Ebenfalls raumwegbasiert funktionierte die gegen 1760 von de La Cuisse für Cotillons entwickelte Notation. Im 19. Jahrhundert setzten sich dann wieder die textbasierten Tanzlehrbücher durch, meist ergänzt durch Tanzskizzen und Illustrationen. Beispiele von graphischen und symbolbasierten Notationen für den Ballettbereich sind die Systeme von E.A. Théleur, 1831, und Arthur Saint-Léon, 1852.

Aufgrund der Schwierigkeit Tanzbewegungen und -abläufe schriftlich zu fixieren, setzen alle historischen Tanznotationen mehr oder minder große Vorkenntnisse im jeweiligen Tanzstil voraus, ein Wissen, das uns heute meist fehlt und für eine Rekonstruktion der Tänze durch zusätzliche Quellen erschlossen werden muss.

Eine wichtige Rolle spielen dabei ikonographische Quellen, wie Gemälde, Buchillustrationen, Zeichnungen etc. Dabei sind aber die jeweiligen künstlerischen Darstellungskonventionen zu berücksichtigen, die in der Regel keine „fotografische“ Interpretation von Tanzdarstellungen erlauben. Auch allgemeine ästhetische Vorstellungen einer Zeit, wie sie in anderen Kunstformen oder theoretischen Werken zum Ausdruck kommen, ermöglichen gewisse Rückschlüsse auf gebräuchliche Bewegungsformen.

Renaissance

Hinter dem eingebürgerten, aber sehr ungenauen Begriff „Renaissancetanz“ verbergen sich eine Reihe verschiedener Tanzstile im Europa des 15. bis 17. Jahrhunderts. Trotz des internationalen kulturellen Austausches durch reisende Tänzer und Tanzmeister bildeten sich in jeder europäischen Region und Zeit eigene Stilrichtungen. Anhand der Quellen lassen sich folgende Stile unterscheiden.

1. Der italienische Stil der Frührenaissance, auch Quattrocento-Stil (italienisch für 15. Jh.) oder Lombardischer Stil genannt, basiert auf den Tanzbüchern von Domenico da Piacenza, Guglielmo Ebreo und Antonio Cornazano aus der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts. Er lässt sich bis ins frühe 16. Jahrhundert verfolgen. Auch die einzige deutsche Tanzquelle dieser Zeit, das „Nürnberger Manuskript“, 1517, ist diesem Stil zuzurechnen.

2. Der italienische Cinquecento-Stil (oder Caroso/Negri-Stil) war prägend für den Tanz der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts bis etwa zur Mitte des 17. Jahrhunderts in Italien und beeinflusste über reisende italienische Tanzmeister ganz Europa. Die wichtigsten Quellen sind die Tanzbücher „Il Ballarino“, 1581, und „Nobiltà di Dame“, 1600, von Fabritio Caroso, „Le Gratie d’Amore“, 1602, von Cesare Negri und das Manuskript „Mastro da Ballo“, 1614, von Ercole Santucci. Dieses Repertoire umfasst zusammen mit den kleineren Quellen einen Fundus von über 200 Choreographien.

3. Der Stil der französisch/burgundischen Basse danse aus dem späten 15. Jahrhundert, der in einer Reihe von Manuskripten überliefert ist und sich kulturgeschichtlich noch in das ausgehende Mittelalter einordnen lässt.

4. Der französische Renaissancestil, wie er sich in den Büchern von Antonius Arena, 1525, und Thoinot Arbeau, 1588, darstellt. Beide Quellen beschreiben Tanz, wie er im Studentenmilieu bzw. in einer Kleinstadt im Bürgertum gepflegt wurde. Arbeau präsentiert auch eine Tanznotation, die eine Notenzeile mit Schrittnamen kombiniert.

5. Der französische Übergangsstil, wie er sich im Manuskript der „Instruction pour dancer“, 1612, und Francois de Lauzes „Apologie de la Danse“, 1623, präsentiert, der die Nomenklatur Arbeaus hinter sich lässt und bereits neue Stilelemente bringt, die später für den Barocktanz prägend werden, wie z. B. die Auswärtsdrehung der Füße und Armbewegungen.

6. Englische Country dances, eine Gruppen- und Figurentanzform, waren in England seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert sehr beliebt und erschienen erstmals 1651 in der Sammlung „The English Dancing Master“ des Musikverlegers John Playford in Druck. Country dances wurden in weiten Teilen Europas bis ins 19. Jahrhundert hinein getanzt, dementsprechend durchlief die Tanzform dabei verschiedene stilistische Wandlungen.

Barock und Rokoko

Eine allgemeingültigere Notation wurde erst zur Zeit Ludwigs des XIV. an der Academie Royale du Danse entwickelt. Grundzüge der dort festgelegten Schritte finden sich heute noch im Repertoire des klassischen Balletts.

Zahlreiche Country Dances finden sich z. B. in der Sammlung von John Playford The English Dancing Master, die zwischen 1651 und 1728 vielfach aufgelegt und erweitert wurde.

Online kann man die Sammlung hier einsehen:

Der französische Tanzmeister Louis Lorin besuchte Ende des 17. Jahrhunderts den Englischen Hof und gab daraufhin 1685 seine Beschreibungen, die nur als Manuskript erhalten sind, heraus und widmete sie dem französischen König Ludwig XIV. 1700 veröffentlichte Raoul-Auger Feuillet die epochale Schrift der Choregraphie (von der sich auch der Begriff 'choreographie' ableitet: gr. choreos = Tanz und graphein = schreiben). 1706 erfolgte dann die Herausgabe einer vereinfachten Notation für sog. Contre-Danses, eine franz. Variante zu English Country Dances. Beide Bände wurden 1706 mehrfach ins Englische übersetzt.

Online befindet sich die Orchesographie (englischer Titel) hier:

In Deutschland erfuhren die Kontratänze nach John Playford besondere Aufmerksamkeit durch die Arbeit von Georg Götsch im Musikheim in Frankfurt an der Oder (1927–1942) und auf Burg Fürsteneck (1952–1956). Georg Götsch hat 64 Tänze von Playford mit einer leicht verständlichen Tanzschrift versehen und sie mit deutschem Namen in dem Heft „Alte Kontra-Tänze“ herausgegeben (Möseler-Verlag, 1950 mit Rolf Gardiner). Ein zweiter Band „Neue Kontratänze“ enthielt Tänze aus verschiedenen englischen Quellen (Möseler-Verlag, 1956 mit Rudolf Christl). Die von Georg Götsch initiierte Musische Gesellschaft und andere pflegen diese Tradition unter anderem auf Burg Fürsteneck weiter.

Höfischer Tanz und Volkstanz

Notiert wurden in erster Linie komponierte höfische Tänze. Diese beruhen oft auf Volkstänzen, die kompositorisch verfeinert worden sind. Daher kann man Rückschlüsse auf die Tänze der einfachen Leute ziehen. Volkstänze wurden erst auf Veranlassung von Johann Gottfried Herder (1744–1803) systematisch gesammelt und aufgezeichnet, der auch die Bezeichnung „Volkstanz“ prägte.

Bühnentanz

Auf den opulenten barocken Bühnen spielte der Tanz zunächst nur eine dekorative Rolle, während der inhaltliche Reichtum und die Vielfältigkeit des Ausdrucks eher durch Bühnenmaschinerie, Musik und Gesang in Szene gesetz wurden. Tanzeinlagen bildeten eine Girlande um die verschiedenen Akte, zu Beginn und am Ende eines Stückes, ohne sich direkt auf dessen Inhalt zu beziehen.

Da sich jedoch Theater und Musik gerade im Tanz zu einer Einheit zusammenfügen lassen, entwickelte sich am Hof des Sonnenkönigs Ludwig XIV. der Bühnentanz (Ballett), der zunehmend das sonstige Geschehen auf der Bühne auch inhaltlich einrahmte. Die Tänzer verkörperten dabei kollektive Typen, wie Hirten, Götter, Nymphen etc.

Der Bühnentanz beruhte zwar auf den für den Ballsaal konzipierten Tanzformen und Schrittfolgen, wurde aber durch virtuose Ornamente bereichert und konnte so einen gestischen und mimischen Ausdruck erreichen, der dem eher funktionalen Gesellschaftstanz im Ballsaal kaum mehr ähnelte.

Die Tanzausbildung stand neben anderen Künsten und kriegerischen Fertigkeiten von jeher auf dem aristokratischen Bildungsplan. Daher standen anfangs neben professionellen Tänzern meist auch talentierte Adlige auf der Bühne.

Ballettmeister wie Pierre Beauchamp, Jean Favier d. Ä. und Jean-Baptiste Lully, 1653 zum compositeur de la musique instrumentale de Roi ernannt, erlangten mit ihren Choreographien, die von zunehmend professionellen Tänzern ausgeführt wurden, großen Ruhm. Wie bei den drei Genannten bedeutete es zu dieser Zeit aber noch allgemein, dass die Professionalität im Tanzen einherging mit einer Absicherung durch eine Stelle als Instrumentalist in der königlichen Musik.

Herkunftsländer

Wie auch die Musik unterschieden sich die Tänze der verschiedenen Höfe stilistisch erheblich. Jedoch wurden die Tänze auch international verbreitet und dabei variiert und dem lokalen Stil angepasst. So finden sich die englischen Country Dances als Contredance oder Kontratanz (Kontertanz) auch in Frankreich und Deutschland.

Tanzformen

Historische Tänze basieren oft auf Kreisformen (Reigen), der Gasse (Longway) oder folgen ganz eigenen Choreographien. Viele Tänze sind Gruppentänze, sei es als Paar in der Gruppe oder mit ständigem Partnerwechsel, es gibt solistische Tänze, Paartänze und Mischformen.

Bälle

Bälle fanden regelmäßig an den Höfen statt und dienten der Repräsentation, der Unterhaltung und auch der Kommunikation zwischen den Tänzern und Tänzerinnen.

Rekonstruktion

Die meisten historischen Tänze waren in Vergessenheit geraten und sind durch Tanzforscher im 20. Jahrhundert rekonstruiert und „wiederbelebt“ worden.

Sigrid T’Hooft versucht unter anderem mit ihrem Ensemble Corpo Barocco, Choreographie und Tanz für Aufführungen barocker Opern zu rekonstruieren.

Tänze und Tanzformen der verschiedenen Epochen

Tänze der Renaissance

Tänze des Barock und des Rokoko

(Tänze in den Suiten barocker Komponisten wie Lully, Campra, Rameau, Telemann, Bach und Händel u. a.)

English Country Dances (Kontertanz, Kontratanz, Contredanse) (17./18. Jahrhundert)

  • Jenny Pluck Pears, The Indian Queen, Jamaica, Hunt the Squirrel, The Morning Route, Nonesuch

Tänze des 19. Jahrhunderts

Literatur

  • Renaissancetänze der Orchésographie nach Thoinot Arbeau – bearbeitet und für den tänzerischen Gebrauch neu herausgegeben von Hinrich Langeloh, Verlag der Spielleute, ISBN 3-927240-20-6 (mit CD des 'Katharco Early Music Consort’)

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Barbara Sparti: Dance, Dancers and Dance-Masters in Renaissance and Baroque Italy. Massimiliano Piretti Editore, Bologna 2013, S. 239.
  2. Walter Salmen: Der Tanzmeister. In: Terpsichore Tanzhistorische Studien. Band 1. Olms Verlag, Hildesheim 1997, S. 9 ff.
  3. Ann Hutchinson Guest: Choreo-Graphics. A Comparison of Dance Notation Systems From the Fifteenth Century to the Present. spätere Auflage. Amsterdam 1998, S. 1 ff.
  4. Ann Hutchinson Guest: Choreo-Graphics. A Comparison of Dance Notation Systems From the Fifteenth Century to the Present. spätere Auflage. Amsterdam 1998, S. 13 ff.
  5. Ann Hutchinson Guest: Choreo-Graphics. A Comparison of Dance Notation Systems From the Fifteenth Century to the Present. spätere Auflage. Amsterdam 1998, S. 28 ff. und 102 ff.
  6. Ekaterina Mikhailova-Smolniakova: On the Problem of Pictorial Dance Sources. In: Uwe Schlottermüller (Hrsg.): Tanz in Italien. Italienischer Tanz in Europa 1400 – 1900. Für Barbara Sparti. 4. Symposium für Historischen Tanz, Burg Rothenfels am Main, 25. – 29. Mai 2016. Tagungsband. Addendum. Fagisis-Verlag, Freiburg 2016.
  7. Ingrid Wetzel: "Hie innen sindt geschriben die wellschen tenntz" : le otto danze italiane del manoscritto di Norimberga. In: M. Padovan (Hrsg.): Convegno internationale di Studi Guglielmo Ebreo da Pesaro e la danza nelle corti italiane del XV secolo, Pesaro, 1987. Pisa 1990.
  8. Barbara Sparti (Hrsg.): Ercole Santucci Perugino Mastro da Ballo, 1614. Olms Verlag, Hildesheim 2004, S. 3 (Einführung).
  9. Frederick Crane: Materials for the Study of the Fifteenth-Century Basse Danse. In: Musicological Studies. Band XVI. Assen 1968.
  10. Jadwiga Nowaczek: Arena - Arbeau - de Lauze, die Orchésographie in Relation zu zwei anderen französischen Tanzschriften. In: Roswitha Busch-Hofer (Hrsg.): Tanzhistorische Studien. Band VII. Remscheid 1991, S. 41 - 64.
  11. Barbara Ravelhofer: The Early Stuart Masque. Oxford 2006, S. 60.
  12. Anne Daye: A conversation about the English Dancing Master by John Playford (1651). In: Hanna Walsdorf (Hrsg.): Tanz Musik Transfer. Prospektiven. Band 1. Leipzig 2018, S. 137 ff.
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