Die Humangenetik, früher auch menschliche Erblehre genannt, ist ein Teilgebiet der Genetik, das sich speziell mit dem Erbgut des Menschen beschäftigt. Als eine interdisziplinäre Wissenschaft verknüpft sie medizinische Diagnostik, Therapie und Prävention von Erbkrankheiten mit molekularbiologischer Methodik und Forschung zur Orthologie und Pathologie der menschlichen Vererbung.

Die Bezeichnung „Humangenetik“ wurde vor allem von dem Erbbiologen Günther Just (1892–1950) eingeführt, bevor sich in den USA human genetics nach der 1948 erfolgten Gründung der American Society of Human Genetics durchsetzte.

Einteilung humangenetischer Methodik

  1. Zytogenetik: Untersuchung der Chromosomen des Menschen mittels Fluoreszenz-Mikroskopie. Dabei versucht man Besonderheiten in Chromosomensätzen zu finden und bestimmten Krankheitsbildern, Syndromen oder Krebstumoren zuzuordnen. Beispiel: Karyogramm
  2. Molekulare Humangenetik: Untersuchung von einzelnen Genen oder DNA-Abschnitten. Beispiel: Mutationsanalyse durch Gentests

Zur Humangenetik gehören u. a. die Erforschung der Erbkrankheiten und die Erstellung von Abstammungsgutachten sowie die humangenetische Beratung.

Nachdem das menschliche Erbgut im Humangenomprojekt weitgehend entschlüsselt wurde, geht es jetzt hauptsächlich darum, die Funktionen einzelner Gene und deren Zusammenspiel im Rahmen der Proteomik zu erkunden. Insgesamt enthält das Genom des Menschen rund 20.000 bis 25.000 Gene.

Medizinische Genetik

Die Medizinische Genetik (in Medien auch Medizingenetik genannt) ist der Teilbereich der Humangenetik, der sich mit der Diagnose und Behandlung von Erbkrankheiten beschäftigt. Sie entstand in der Nachkriegszeit. Als ihr Begründer gilt Victor McKusick (1921–2008). Sein Werk Mendelian Inheritance in Man; A Catalog of Human Genes and Genetic Disorders aus dem Jahre 1966 und seitdem neu aufgelegt gehört zu den Standardwerken der Medizinischen Genetik.

Fachärztliche Spezialisierungen

Schweiz

Die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte trifft folgende Definition in dem Weiterbildungsprogramm für den „Facharzt für Medizinische Genetik“ vom 1. Januar 1999 mit Stand 2011:

„Die Medizinische Genetik ist jener Bereich der Humangenetik, der sich mit den Auswirkungen der genetischen Variation des Menschen auf Gesundheit und Krankheit auseinandersetzt. Sie umfasst die Erkennung genetisch bedingter, d. h. chromosomaler, monogener, multifaktorieller, mitochondrialer Erkrankungen, respektive der diesen zugrundeliegenden Veranlagungen, deren prä- und postnatale (inkl. präsymptomatische) Diagnostik und Klassifikation mittels genealogischer, klinischer, biochemischer, molekulargenetischer und/oder zytogenetischer Untersuchungsverfahren. Dies beinhaltet auch die Differentialdiagnose zu nicht-genetisch bedingten Erkrankungen.“

Österreich

In Österreich wurde ab 1. Januar 2007 der Titel „Facharzt/ärztin für Medizinische Genetik“ mit der Ärztlichen Ausbildungsordnung eingeführt, um die „eurokonforme Gebietsbezeichnung für Fachärzte und Fachärztinnen aus dem Gebiet der Humangenetik“ zu ermöglichen. Der „Facharzt für Medizinische Biologie“ wurde dahingehend umbenannt. Die Verordnung verwendet folgende Definition:

„Das Sonderfach Medizinische Genetik umfasst die Diagnostik genetisch bedingter Erkrankungen, die Ermittlung des Erkrankungsrisikos, die genetische Beratung der Patientinnen/Patienten und deren Familien sowie die fachspezifische Grundlagenforschung und angewandte Forschung, insbesondere durch die Anwendung zytogenetischer, biochemischer und molekulargenetischer Verfahren sowie die Anwendung der Kenntnisse des Ablaufs und der Gesetzmäßigkeiten biologischer Funktionen beim Menschen, der Ätiologie und Pathogenese erblicher und erblich mitbedingter Erkrankungen, der allgemeinen Humangenetik, der Zytogenetik, der Molekulargenetik, der Dysmorphologie, der klinischen Genetik einschließlich der Syndromologie, der Populationsgenetik und der genetischen Epidemiologie.“

Deutschland

In Deutschland ist der „Facharzt für Humangenetik“ maßgeblich. Die Weiterbildungsordnungen der Landesärztekammern in Deutschland beinhalteten zunächst folgende Definition für den „Facharzt für Medizinische Genetik“:

„Die Medizinische Genetik umfasst die Klinische Diagnostik und Differentialdiagnostik genetisch bedingter Erkrankungen unter Berücksichtigung labordiagnostischer Möglichkeiten sowie die Risikoermittlung und genetische Beratung der Patienten und deren Familien.“

Nach Definition der deutschen Ärztekammern gilt aktuell folgende Definition aus medizinischer Sicht:

„Das Gebiet Humangenetik umfasst die Aufklärung, Erkennung und Behandlung genetisch bedingter Erkrankungen einschließlich der genetischen Beratung von Patienten und ihren Familien sowie den in der Gesundheitsversorgung tätigen Ärzte.“

Berufsbezeichnungen in der Europäischen Union

Es gibt folgende Spezialisierungen der Facharztberufe für Medizinische Genetik nach Ländern:

Land Bezeichnung
 Belgien Klinische genetica/génétique clinique
 Bulgarien Медицинска генетика
 Dänemark Klinisk genetik
 Deutschland Humangenetik
 Estland Meditsiinigeneetika
 Finnland Perinnöllisyyslääketiede/Medicinsk genetik
 Frankreich Génétique médicale
 Griechenland
 Irland Clinical genetics
 Italien Genetica medica
 Kroatien
 Lettland Medicīnas ģenētika
 Litauen Genetika
 Luxemburg Médecine génétique
 Malta Ġenetika Klinika/Medika
 Niederlande Klinische genetica
 Österreich Medizinische Genetik
 Polen Genetyka kliniczna
 Portugal Genética médica
 Rumänien Genetica medicala
 Schweden Klinisk genetic
 Slowakei Klinična genetika
 Slowenien Lekárska genetica
 Spanien
 Tschechien Lékařská genetika
 Ungarn Klinikai genetika
 Zypern

Vereinigungen und Publikationen

Der Berufsverband Medizinische Genetik in Deutschland entstand 1983 und ging Ende 2003 in der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik (GfH) auf. In Deutschland ist der Berufsverband Deutscher Humangenetiker (BVDH) das berufspolitische Forum aller Fachärzte für Humangenetik und Fachhumangenetiker, in der Schweiz die Schweizerische Gesellschaft für Medizinische Genetik (SGMG) und in Österreich die Österreichische Gesellschaft für Humangenetik (ÖGH). Die gemeinsame Publikation aller vier Verbände ist die Zeitschrift medizinische genetik, ein Nachfolgeorgan der Zeitschrift Humangenetik.

Das Netzwerk der Fachwissenschaftler in der Medizin (nfm) vertritt die Interessen der in der Medizin tätigen Naturwissenschaftler mit unterschiedlicher Spezialisierung wie Fachhumangenetiker (GfH), Klinische Chemiker und Reproduktionsbiologen.

Die British Medical Association gibt das Journal of Medical Genetics heraus.

Bibliothekswesen

In der Basisklassifikation (verwendet in den Niederlanden und im Gemeinsamen Bibliotheksverbund) besitzt das medizinische Grundlagenfach „Medizinische Genetik“ die Klasse 44.48.

Siehe auch

Literatur

  • Tom Strachan, Andrew P. Read: Molekulare Humangenetik. 3. Auflage. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 2005, ISBN 3-8274-1493-8.
  • Jürgen Gerhards, Mike S. Schäfer: Die Herstellung einer öffentlichen Hegemonie. Humangenomforschung in deutschen und der US-amerikanischen Presse. Vs Verlag, Wiesbaden 2006, ISBN 3-531-14964-4.
  • Wolfram Henn: Warum Frauen nicht schwach, Schwarze nicht dumm und Behinderte nicht arm dran sind – Der Mythos von den guten Genen. 2. Auflage. Herder, Freiburg 2004, ISBN 3-451-05479-5.
  • Hans-Albrecht Freye: Humangenetik: eine Einführung in die Erblehre des Menschen. 6. Auflage. Gustav Fischer, Stuttgart 1990, ISBN 3-437-00605-3.
  • Peter Propping: Vom Sinn und Ziel der Humangenetik. In: L. Honnefelder, C. Streffer (Hrsg.): Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik. Band 6, 2001, S. 89–106.
  • Peter Propping, Stefan Aretz, Johannes Schumacher, Jochen Taupitz, Jens Guttmann, Bert Heinrichs: Prädiktive genetische Testverfahren: Naturwissenschaftliche, rechtliche und ethische Aspekte. Sachstandsberichte des DRZE. Band 2, (PDF; 245 kB). Verlag Karl Alber, Freiburg 2006, ISBN 3-495-48194-X.
  • Richard Fuchs: Life Science. Eine Chronologie von den Anfängen der Eugenik bis zur Humangenetik der Gegenwart. LIT Verlag, Münster 2008, ISBN 978-3-8258-0166-3.
  • Eberhard Passarge: Taschenatlas Humangenetik. Farbtaf. von Jürgen Wirth. Thieme, Stuttgart/ New York 2008, ISBN 978-3-13-759503-8.
  • Hans-Peter Kröner: Humangenetik. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 635–641.
Wikibooks: Klinische Humangenetik – Lern- und Lehrmaterialien
Wiktionary: Humangenetik – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Hans-Peter Kröner: Humangenetik. In: Werner E. Gerabek, Bernhard D. Haage, Gundolf Keil, Wolfgang Wegner (Hrsg.): Enzyklopädie Medizingeschichte. De Gruyter, Berlin/New York 2005, ISBN 3-11-015714-4, S. 635–641; hier: S. 635.
  2. Ute Felbor: Das Institut für Vererbungswissenschaft und Rasseforschung der Universität Würzburg 1937–1945. In: Würzburger medizinhistorische Mitteilungen. Band 11, 1993, S. 155–173, hier: S. 156.
  3. Hans-Peter Kröner: Humangenetik. 2005, S. 635–636.
  4. Wenn die Welt an einem Strang zieht: Das Humangenomprojekt (HGP). (Memento vom 20. Dezember 2012 im Internet Archive) Im Original publiziert vom Nationen Genomforschungsnetz. Erstmals abgerufen am 28. August 2012.
  5. Gründer der Medizingenetik gestorben. In: Spiegel Online. 24. Juli 2008.
  6. Geneticists Mourn Loss of the ‘Father of Genetic Medicine’. 2008 (Geneticists Mourn Loss of the ‘Father of Genetic Medicine’ – The American Society of Human Genetics Mourns the Death of Past President and Legendary Society Member, Dr. Victor A. McKusick (Memento vom 28. August 2008 im Internet Archive))
  7. Weiterbildungsprogramm vom 1. Januar 1999. Zentralvorstand der Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH), 1. Januar 1999, akkreditiert durch das Eidgenössische Departement des Innern, 1. September 2011 (Facharzt für Medizinische Genetik Weiterbildungsprogramm vom 1. Januar 1999 (letzte Revision: 6. September 2007) (Memento vom 24. Mai 2012 im Internet Archive))
  8. Ärztliche Ausbildungsordnung (ÄAO), Österreich, 2006 (online)
  9. Weiterbildungsordnung für die Ärzte Bayerns in der Neufassung vom 1. Oktober 1993 in der Fassung vom 13. Oktober 2002 (online)
  10. Weiterbildungsordnung der Berliner Ärztekammer, 2006 (online (Memento vom 11. Februar 2015 im Internet Archive); PDF; 854 kB)
  11. Ärztekammer Berlin, 2011 (online (Memento vom 11. Februar 2015 im Internet Archive); PDF; 854 kB)
  12. Richtlinie 2005/36/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen in der konsolidierten Fassung vom 10. Dezember 2021, abgerufen am 27. Januar 2022
  13. Netzwerk der Fachwissenschaftler in der Medizin.
  14. Information des GBV: 44.30 bis 44.52 (Medizinische Grundlagenfächer)
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