Hussitenlieder entstanden im 15. Jahrhundert unter dem Einfluss des Hussitentums. Sie sind durch religiöses, geistliches und revolutionäres Gedankengut aus dieser Epoche geprägt. Viele der Lieder wurden direkt von Jan Hus und Jan Čapek verfasst.

Das Kanzionale von Jistebnice

Die wertvollste Sammlung hussitischer Lieder stellt das Kanzionale (Gesangbuch) von Jistebnice (Jistebnický kancionál) dar. Den Inhalt bilden die Kirchenlieder der Prager Partei um Jan Želivský und die Lieder der Taboriten. Neben den sonst üblichen Liedern stehen ältere Texte, tschechische Lieder, lateinische Lieder (Weihnachtslieder), Lieder von Hus, aber auch Messlieder, Lieder über das Altarmysterium, Fest- und Feiertagslieder und schließlich Friedens- und Kriegslieder im Buch. Außer Hus ist nur noch ein bezeugter Verfasser von Liedern bekannt und zwar Jan Čapek. Auf ihn geht die Anregung zurück, auch Kinder Lieder lernen zu lassen. Die wohl berühmteste Schöpfung des taboritischen Kriegertums wurde das bekannte Lied Ktož jsú boží bojovníci (deutsch Die, die Gottes-Kämpfer sind). Dieses Lied ist zum direkten Symbol der religiösen Erneuerungsbewegung geworden.

Ein anderes berühmtes Kriegslied ist Povstaň, povstaň, veliké město Pražske (deutsch Steh auf, steh auf, große Stadt Prag bzw. Erhebe dich, erhebe dich, große Stadt Prag), das unter dem Eindruck der Predigt gegen Kaiser Sigismund in dem Kreise um Jan Želivský (Johann von Seelau) entstanden ist.

Das hussitische Lied gipfelt in den revolutionären Gesängen, die von den Gläubigen bei ihren Zügen auf die Berge und in den Lagern gesungen wurden. Es war auch Glaubensgewissheit, dass sich Gott auf den Bergen zu erkennen gibt und dass nur auf den Bergen das Volk vor Gottes Zorn bewahrt bleibt. Die Lieder sind von den Ereignissen der Zeit geprägt, von den religiösen Auseinandersetzungen, von Übergriffen seitens der Radikalen, von Klagen über Neuerungen in Religion und Gottesdienst u. a. Die Instrumentalmusik erlebte damals einen Niedergang, da sie als sündhaft abgelehnt wurde, z. B. waren Orgeln bei den Taboriten nicht zugelassen. Es ist aber das Verdienst von Jan Hus, dass er dem Volk durch das Singen von geistlichen Liedern eine Beteiligung am Gottesdienst ermöglicht hat.

Das hussitische geistliche Lied

Neben der Predigt beherrschte keine andere literarische Darstellungsform so die stürmische Zeit wie das geistliche Lied. Es wurde von Jan Hus und seinen Anhängern in den Gottesdienst aufgenommen und hat dort seine besondere Pflege gefunden. Das hussitische geistliche Lied in tschechischer Sprache wurde bei den einzelnen Parteien unterschiedlich bewertet, da noch auch das lateinische Lied damals zu vernehmen war. Jan Hus schuf als erster bewusst Lieder für das Volk und lehrte sie in der Bethlehemskapelle singen. Sein Bemühen wurde verstanden und er fand Nachfolger. Hus selbst sang auch als er auf dem Scheiterhaufen in Konstanz stand und er nochmals aufgefordert wurde, seine Lehren zu widerrufen. Er bekräftigte seine Lehren und fing an geistliche Lieder zu singen. Daraufhin zündete der Henker den Scheiterhaufen an. An Liedern hat Hus vor allem Jezu Kriste, štědrý kněže (Jesus Kristus, großmütiger Fürst) und Navštěv nás, Kriste žádúcí (Such uns heim, geliebter Christus), ein Adventslied, neu redigiert bzw. neu geschaffen.

Spottlieder

Hus hatte nicht nur Anhänger und Nachfolger, sondern auch Gegner. In dieser Zeit der Entwicklung des Liedes in tschechischer Sprache und der Unterweisung der breiten Massen im Lesen und Verstehen der Heiligen Schrift konnte die römische Partei in Böhmen nicht untätig zusehen. Sie griff zu den bewährten Mitteln der Satire und Parodie, die auch von der anderen Seite als geistige Waffe benutzt wurden. Spottlieder entstanden unter dem Eindruck bestimmter Ereignisse wie z. B. 1410 anlässlich der angeordneten Verbrennung der Bücher von Wyclif. In der Hussitenzeit bekämpften sich die Parteien auch mit lateinischen Liedern, z. B. dem Lied gegen Hus Cancio contra Hus et eius fautores omnes attendite. Das Lied preist Karl IV., schmäht die Zeit Wenzels IV., schildert die Verfolgung der Kirche und beschuldigt in allem Jan Hus. Eines der berühmtesten Spottlieder über Hus hatte Oswald von Wolkenstein geschrieben.

Oswald von Wolkenstein (um 1376–1445) verarbeitete wesentlich zeitnäher in dem ungewöhnlichen Lied Ich hab gehört durch mangen granns (Kl. 27 Ich hab gehört durch manchen Schnabel [= der Gänse oder der edlen Vögel]), dem so genannten Hussitenlied, die politischen Ereignisse um den böhmischen Reformator und die Folgen, die sich aus dessen Lehre ergaben. Oswald verwendet ein Bild aus der Ornithologie (granns/Schnabel) und zielt damit auf den böhmischen Gelehrten ab, denn Hus bedeutet im Tschechischen so viel wie Gans. Diese Übersetzung war bereits den Teilnehmern am Konzil von Konstanz geläufig und für sie negativ besetzt. Die Gegner von Hus verwendeten die Beschreibung deshalb schon zu Beginn des Konzils und verhöhnten den böhmischen Lehrmeister als „Ganskopf“.

Textauszug Strophe 5

Das zweite Hussitenlied Oswalds mit der Nummer Kl. 134, kann man in die Zeit nach der letzten vernichtenden Niederlage gegen die Hussiten in der Schlacht bei Taus im Jahre 1431 datieren.

Literatur

  • Winfried Baumann: Die Literatur des Mittelalters in Böhmen. Deutsch-lateinisch-tschechische Literatur vom 10. bis zum 15. Jahrhundert (= Veröffentlichungen des Collegium Carolinum. Band 37). Oldenbourg, Wien 1978, ISBN 3-486-49071-0.
  • Jiří Daňhelka: Husitské písně (= Národní klenotnice. Band 60). Československý spisovatel, Praha 1952, OCLC 2829168.
  • Franz Josef Schweitzer: Die Hussitenlieder Oswalds von Wolkenstein vor dem Hintergrund der Böhmischen Reformbewegung und Revolution. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft. Hrsg. von Sieglinde Hartmann, Ulrich Müller. Band 9, 1996/97, ISSN 0722-4311, 31–43.
  • Roman Jacobson: Poesie der Grammatik und Grammatik der Poesie. Sämtliche Gedichtanalysen. Kommentierte deutsche Ausgabe. Hrsg. von Hendrik Birus, Sebastian Donat. 2 Bände. Walter de Gruyter, Berlin/New York 2007, ISBN 978-3-11-018362-7.
    • Band 1: Poetologische Schriften und Analysen zur Lyrik vom Mittelalter bis zur Aufklärung.
    • Band 2: Analysen zur Lyrik von der Romantik bis zur Moderne.
  • Wernfried Hofmeister: Oswald von Wolkenstein. Das poetische Werk. Gesamtübersetzung in neuhochdeutsche Prosa mit Übersetzungskommentaren und Textbibliographien (= De-Gruyter-Texte). Walter de Gruyter, Berlin/New York 2011, ISBN 978-3-11-022423-8.
  • Mathias Feldges: Lyrik und Politik am Konstanzer Konzil. Eine neue Interpretation von Oswalds von Wolkensteins Hussitenlied. In: Gert Kaiser (Hrsg.): Literatur, Publikum, historischer Kontext (= Joachim Bumke u. a. [Hrsg.]: Beiträge zur Älteren Literaturgeschichte. Band 1). P. Lang, Bern/Frankfurt a. M./Las Vegas 1977, ISBN 3-261-02923-4, S. 137–181.

Einzelnachweise

  1. Jiří Daňhelka: Husitské písně. S. 183; vollständiger Text des Liedes aus Jistebnický kancionál siehe in Wikisource / Wikizdroje: Ktož jsú boží bojovníci.
  2. Vgl. Matthäus 19,29 : (Jesus zu Petrus:) „Und wer Häuser oder Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Kinder oder Äcker verlässt um meines Namens willen, der wird's hundertfach empfangen und das ewige Leben ererben.“ Vgl. die synoptische Parallele Markus 10,29–30 : „Jesus sprach [zu Petrus]: Wahrlich, ich sage euch: Es ist niemand, der Haus oder Brüder oder Schwestern oder Mutter oder Vater oder Kinder oder Äcker verlässt um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der nicht hundertfach empfange: jetzt in dieser Zeit Häuser und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Äcker mitten unter Verfolgungen – und in der zukünftigen Welt das ewige Leben.“
  3. Vgl. Matthäus 10,28 : „Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können; fürchtet euch aber viel mehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle.“
  4. Vgl. Johannes 15,13 : „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde.“ 1 Joh 3,16 : „Daran haben wir die Liebe erkannt, dass er sein Leben für uns gelassen hat; und wir sollen auch das Leben für die Brüder lassen.“ Johannes 10,11 : „Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe.“
  5. Jiří Daňhelka: Husitské písně. S. 180.
  6. 1 2 „Kl“ – Zählung nach der Ausgabe von Karl Kurt Klein: Die Lieder Oswalds von Wolkenstein (unter Mitwirkung von Walter Weiß und Notburga Wolf), in der Fassung der 3., neubearb. und erw. Auflage (von Hans Moser, Norbert Richard Wolf und Notburga Wolf). M. Niemeyer, Tübingen 1987, ISBN 3-484-21155-5. Vgl. Texte. Die Lieder Oswalds von Wolkenstein. In: wolkenstein-gesellschaft.com, abgerufen am 16. November 2022. – Neubearbeitung: Die Lieder Oswalds von Wolkenstein (= Altdeutsche Textbibliothek. Nr. 55). Hrsg. von Karl Kurt Klein. 4., grundlegend neu bearbeitete Auflage von Burghart Wachinger. De Gruyter, Berlin/Boston, Mass. 2015, ISBN 978-3-11-033503-3, doi:10.1515/9783110335187.
  7. Zur Übersetzung und Interpretation siehe Sieglinde Hartmann: Wolkensteins politische Lyrik: Der Kampf um Greifenstein in Tirol (Kl 85) und Wolkensteins Beteiligung an den Reichskreuzzügen gegen die Hussiten (Kl 27 + Kl 134). (PDF; 48 kB) (= Oswald von Wolkenstein und die deutsche Lyrik des Spätmittelalters: Materialien zur 4. VL. VL SS 2013). S. 2. In: sieglinde-hartmann.com, abgerufen am 19. September 2016.
  8. Ich hab gehört durch mangen granns. In: wolkenstein-gesellschaft.com, abgerufen am 16. November 2022.
    Zur Übersetzung und Interpretation siehe Sieglinde Hartmann, 2013, S. 4 f.
  9. Franz Josef Schweitzer: Die Hussitenlieder Oswalds von Wolkenstein vor dem Hintergrund der Böhmischen Reformbewegung und Revolution. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft. Hrsg. von Sieglinde Hartmann, Ulrich Müller. Band 9, 1996/97, ISSN 0722-4311, 31–43, hier S. 31–32.
  10. Wernfried Hofmeister: Oswald von Wolkenstein. Das poetische Werk. S. 99.
  11. Got mus fur vns vechte. In: wolkenstein-gesellschaft.com, abgerufen am 16. November 2022.
  12. Franz Josef Schweitzer: Die Hussitenlieder Oswalds von Wolkenstein vor dem Hintergrund der Böhmischen Reformbewegung und Revolution. In: Jahrbuch der Oswald von Wolkenstein Gesellschaft. Hrsg. von Sieglinde Hartmann, Ulrich Müller. Band 9, 1996/97, ISSN 0722-4311, 31–43, hier S. 43.
  13. Wernfried Hofmeister: Oswald von Wolkenstein. Das poetische Werk. S. 337.
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