Isonomia (gr. ἰσονομία, von ἴσος ísos, „gleich“, und νόμος nómos, „Gesetz, Verordnung, Regel, Sitte, Brauch“) bezeichnete im antiken Griechenland die politische Gleichheit aller Vollbürger einer Polis vor dem Gesetz. Erstmals taucht das Wort in Athen im populären Harmodios-Skolion adjektivisch auf, welches sich auf die Ermordung des Tyrannen Hipparchos 514 v. Chr. bezieht; dessen Beseitigung wird als Herstellung von Isonomie besungen. In Ionien ist sogar bereits seit Mitte des sechsten Jahrhunderts von diversen Isonomien als Verfassung oder Regierungsform die Rede, allerdings in vager Bedeutung. Erst mit den Kleisthenischen Reformen wird Isonomie inhaltlich greifbar und positiv konnotiert. In hellenischer Zeit wurde der Begriff von pythagoreischen Ärzten wie Alkmaion von Kroton im Sinne von „Gleichgewicht der entgegengesetzten Paare“, die damit die Gesundheit des Körpers aufrechterhalten, verwendet. Heute wird Isonomie häufig als Gleichheit vor dem Gesetz oder Gleichheit im Recht interpretiert.

Antike Verwendung

Das Recht auf Gleichheit unter Vollbürgern einer Polis findet sich bereits unter dem Begriff isonomia im antiken Griechenland. Nach den Reformen des Kleisthenes von Athen (um 570–507 v. Chr.) bezeichnete der Begriff isonomia die Gleichheit vor dem Gesetz. Danach hatte jeder das gleiche Anrecht auf eine Behandlung entsprechend dem Gesetz.

Nach Auffassung von Kurt Raaflaub (1941–2023) ist Kleisthenes der Erfinder einer nahezu perfekten Form der Isonomie. Um die Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. ist der Begriff in Athen aufgekommen – in anderen Poleis womöglich noch früher –, und zwar im Zusammenhang mit der adligen Opposition gegen die Tyrannis, die ihrerseits bereits die sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Gleichberechtigung breiterer Schichten und für die Integration der Polis verbessert habe. „Die intellektuellen Voraussetzungen für die Verwirklichung isonomer Polisordnungen schließlich wurden in einem langen Prozeß geschaffen, der auf vielen, den Griechen weitgehend gemeinsamen Faktoren beruhte und von zahlreichen Persönlichkeiten in verschiedenen Teilen Griechenlands getragen wurde.“

Mogens Herman Hansen hat argumentiert, dass die Isonomia, obwohl sie oft mit „Rechtsgleichheit“ übersetzt wird, in Wirklichkeit etwas anderes war. Neben der Isonomia verwendeten die Athener mehrere Begriffe für Gleichheit, die alle mit Is- beginnen: Isegoria (gleiches Recht, sich an die politischen Versammlungen zu wenden), Isopsephos polis (ein Mann eine Stimme) und Isokratia (Gleichheit der Macht).

Den Historien des Herodot (3,80–82) entsprechend vertrat der Perser Otanes, ein ranghoher Angehöriger des Adels im persischen Achämenidenreich im 6. Jahrhundert vor Christus, die Meinung, dass auch der beste Monarch ethisch fehl gehe, nur nach dem eigenen Willen handele und sich über die Gesetze stelle. Schließlich verbindet Otanes mit dem Alleinherrscher Vergewaltigung der Frauen, Gesetzesfrevel und ungestraften Mord (3,80,5). Deshalb forderte er die politische Gleichheit aller Vollbürger, die Isonomie.

Die Isonomie bildete die Grundlage der Demokratie in den antiken griechischen Poleis. Etwa 508/507 v. Chr. führte Kleisthenes in Athen Reformen durch, die auf der Isonomia („Gleichheit vor dem Recht, Gleichberechtigung“) und Isegoria („gleiche Freiheit zu reden, gleiches Recht auf Meinungsäußerung“) basierten. Isonomia verstand sich als Gegensatz zur Eunomia („gute Ordnung“), der von Solon 594 v. Chr. eingeführten Gesellschaftsordnung, und zielte primär darauf ab, die Tyrannis und die Herrschaft von Adelscliquen zu verhindern. Einen der Hintergründe bildete die Verschiebung des militärischen Gewichts von der vom Adel gestellten Reiterei zum schwer bewaffneten Fußvolk, den Hopliten, die ihre Ausrüstung selbst beschafften und deren Kriegsleistungen ein Mehr an Teilhabe implizierten.

Die meisten Beamten wurden durch das Losverfahren bestimmt, wenige gewählt. Zudem wurden Beamte darauf vereidigt, die Interessen der Bürger zu vertreten. Den Endpunkt dieser Entwicklung stellte schließlich die um die Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. in Athen etablierte attische Demokratie dar. Diese basierte nach Meinung des Aristoteles (384–322 v. Chr.) auf einer erneuten Verschiebung des Gewichts von der kleinen Gruppe schwer bewaffneter Hopliten zu einem größeren Heer von Leichtbewaffneten und zur Marine. Im Laufe der Zeit hörte das Wort auf, sich auf ein bestimmtes politisches Regime zu beziehen; Platon (428/427–348/347 v. Chr.) verwendet es, um sich einfach auf die Gleichberechtigung zu beziehen.

Im Werk von Aristoteles über Politik wird die „Gemeinschaft“ (koinonia) mit dem politischen Verband der Polisbürger gleichgesetzt, die durch eine Reihe von Normen und ein Ethos charakterisiert ist, gemäß denen die Vollbürger gleichberechtigt unter der Herrschaft des Gesetzes leben (Isonomie). Das Telos oder Ziel der Gemeinschaft ist das gute Leben des Menschen, der als politisches Lebewesen definiert wird (zōon politikón). Die Idee der Isonomie wurde in Europa während der Aufklärung wieder aufgegriffen.

Medizinische Verwendung

Isonomia wurde in hellenischer Zeit auch von pythagoreischen Ärzten wie Alkmaion von Kroton, der zwischen dem späten 6. und frühen 5. Jahrhundert v. Chr. lebte, verwendet, die damit das Gleichgewicht oder die Gleichheit der entgegengesetzten Paare von heiß/kalt, nass/trocken und bitter/süß bezeichneten, die die Gesundheit des Körpers aufrechterhalten. Alkmaion von Kroton sagte, dass die Gleichheit (isonomia) der Kräfte (nass, trocken, kalt, heiß, bitter, süß usw.) die Gesundheit aufrechterhält, aber dass die Monarchie [eine Vorherrschaft] unter ihnen Krankheit hervorruft.

Von Alkmaion stammt die älteste bekannte Definition von Gesundheit und Krankheit. Er bestimmte die Gesundheit als den Zustand der Isonomie und Krankheit als dessen Störung. Mit Isonomie meinte Alkmaion ein Gleichgewicht oder eine Ausgewogenheit der gegensätzlichen polaren Kräfte im menschlichen Körper. Krankheit war für ihn das Ergebnis der Alleinherrschaft (monarchía) eines von zwei Gegensatzpolen. So führte er ursprünglich politische Begriffe in die medizinische Terminologie ein. Er war der einzige antike Denker, der das Begriffspaar Isonomie/Alleinherrschaft in naturphilosophisch-medizinischem Zusammenhang verwendete.

Spätere Verwendung

Nach Ansicht des Ökonomen und politischen Theoretikers Friedrich Hayek (1899–1992) wurde die Isonomia von dem Römer Cicero propagiert und im elften Jahrhundert n. Chr. von den Jurastudenten von Bologna „wiederentdeckt“, denen er die Gründung eines Großteils der westlichen Rechtstradition zuschreibt.

Die politische Theoretikerin Hannah Arendt (1906–1975) vertrat die Ansicht, dass Isonomie spätestens seit Herodot mit politischer Freiheit gleichgesetzt wurde. Das Wort bezeichnete im Wesentlichen einen herrschaftsfreien Zustand, in dem es keinen Unterschied zwischen Herrschern und Beherrschten gab. Es war „die Gleichheit derer, die eine Gemeinschaft von Gleichen bilden“. Die Isonomie war unter den Regierungsformen im antiken Wortschatz insofern einzigartig, als ihr die Suffixe „-archie“ und „-kratie“ fehlten, die in Wörtern wie „Monarchie“ und „Demokratie“ eine Vorstellung von Herrschaft bezeichnen. Arendt argumentiert weiter, dass die griechische Polis daher nicht als Demokratie, sondern als Isonomie konzipiert war. „Demokratie“ war der Begriff, der von Gegnern der Isonomie verwendet wurde, die behaupteten, dass „das, was Sie als ‚keine Herrschaft‘ bezeichnen, in Wirklichkeit nur eine andere Art von Herrschaft ist ... die Herrschaft des Demos oder der Mehrheit“.

Der Theoretiker der öffentlichen Verwaltung, Alberto Guerreiro Ramos, räumte der Isonomie eine zentrale Rolle in seinem Modell der menschlichen Organisation ein. Ihm war es ein besonderes Anliegen, den Raum der Isonomie von dem der Wirtschaft zu unterscheiden. In Anlehnung an Arendt vertrat Guerreiro Ramos die Ansicht, dass Individuen die Möglichkeit haben sollten, sich mit anderen in einem Umfeld zu engagieren, das von ökonomischen Überlegungen unbeeinflusst ist. Die Isonomie stellt einen solchen Rahmen dar; ihre Funktion ist es, „das gute Leben des Ganzen zu fördern“.

Literatur

  • Heinrich Ryffel: ΜΕΤΑΒΟΛΗ ΠΟΛΙΤΕΙΩΝ [Metabolē politeiōn]. Der Wandel der Staatsverfassungen. Untersuchungen zu einem Problem der griechischen Staatstheorie. Paul Haupt, Bern 1949, Nachdruck. Arno Press, New York 1973, ISBN 0-405-04800-9.
  • Christian Meier: Die Entstehung des Politischen bei den Griechen. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980, ISBN 3-518-07505-5, S. 506 (Index, siehe dort Isonomie)
  • Kurt Raaflaub: Die Entdeckung der Freiheit. Zur historischen Semantik und Gesellschaftsgeschichte eines politischen Grundbegriffes der Griechen (= Vestigia. Beiträge zur alten Geschichte. Bd. 37). Beck, München 1985, ISBN 3-406-30552-0.
  • Kurt Raaflaub: Politisches Denken und Krise der Polis. Athen im Verfassungskonflikt des späten 5. Jahrhunderts v. Chr. (= Schriften des Historischen Kollegs. Vorträge. Bd. 27). Stiftung Historisches Kolleg, München 1992 (Digitalisat).
  • Kurt Raaflaub: Einleitung und Bilanz: Kleisthenes, Ephialtes und die Begründung der Demokratie. (1992); in Kinzl (Hrsg.) 1995
  • Jochen Bleicken: Die athenische Demokratie. Schöningh, Paderborn 1986. 4., völlig überarbeitete und wesentlich erweiterte Auflage 1995, ISBN 3-8252-1330-7.
  • Oswyn Murray: Das frühe Griechenland (= dtv-Geschichte der Antike. = dtv 30139). 6. Auflage, deutsche Erstausgabe. Dt. Taschenbuch-Verl., München 1998, ISBN 3-423-30139-2, S. 345
  • Gerald Stourzh: Die moderne Isonomie. 1. Auflage. Böhlau-Verlag, Wien 2015, ISBN 978-3-205-20095-6.
  • Karl Acham: Rezension zu: Stourzh, Gerald: Die moderne Isonomie. Menschenrechtsschutz und demokratische Teilhabe als Gleichberechtigungsordnung. Wien 2015, ISBN 978-3-205-20095-6.
  • Charlotte Schubert: Isonomia. Entwicklung und Geschichte. (= Beiträge zur Altertumskunde 392). De Gruyter, Berlin/München/ Boston 2021, ISBN 978-3-11-071796-9

Einzelnachweise

  1. Maria Luisa Nava,: Immagine e mito nella Basilicata antica. Osanna Edizioni, 2013, S. 134 (italienisch, Titel in Deutsch: Bild und Mythos in der antiken Basilikata).
  2. Wilhelm Pape, Max Sengebusch (Bearb.): Handwörterbuch der griechischen Sprache. 3. Auflage, 6. Abdruck. Vieweg & Sohn, Braunschweig 1914 (zeno.org [abgerufen am 9. Oktober 2019]).
  3. Kelly Lancaster: Isonomie als essentially contested concept. In: Roxana Kath, Michaela Rücker, Reinhold Scholl, Charlotte Schubert (Hrsg.): Digital Classics Online. Band 5, Nr. 2. Leipzig 2019, S. 53–79; hier: S. 57, 66, 74 (ub.uni-heidelberg.de [PDF; 3,8 MB; abgerufen am 4. Juni 2022]).
  4. M.-C. Amouretti, F. Ruzé, Le Monde grec au temps classique Hachette Supérieur, Édition 2003, Seite 139.
  5. Kurt Raaflaub: Entdeckung der Freiheit. 1985, S. 115 f.
  6. Kurt Raaflaub: Einleitung und Bilanz: Kleisthenes, Ephialtes und die Begründung der Demokratie. (1992); in Kinzl (Hrsg.) 1995, S. 52.
  7. Kurt Raaflaub: Einleitung und Bilanz: Kleisthenes, Ephialtes und die Begründung der Demokratie. (1992); in Kinzl (Hrsg.) 1995, S. 32 f.
  8. Mogens Herman Hansen: The Athenian Democracy in the Age of Demosthenes. ISBN 1-85399-585-1, S. 8184 (englisch).
  9. Euripides: The Suppliant Woman. Ste Croix 1981 (englisch).
  10. Herodot 5.92
  11. Laut Ryffel (1949), Anmerkung 172 war die Isonomie auch in Athen vorherrschend; der Gedanke der Gleichheit vor dem Gesetz sei schon bei Protagoras zu finden, werde von Herodot aber weitergebildet, siehe Ryffel (1949), Anmerkung 209.
  12. Roman Herzog: Staaten der Frühzeit. München 1998. S. 209.
  13. Plato, Republik 563b
  14. Siebter Brief 336c–337e.
  15. Aristoteles Politik, Buch 1, 1252a1–6
  16. Jean L. Cohen: Civil Society and Political Theory. MIT Press, 1994, S. 84–85.
  17. Bruno Blumenfeld: The Political Paul: Democracy and Kingship in Paul's Thought. Sheffield Academic Press, 2001, S. 45–83.
  18. Michael Davis: The Politics of Philosophy: A Commentary on Aristotle's Politics. Rowman & Littlefield 1996, S. 15–32.
  19. Siehe dazu Stavros Kouloumentas: The Body and the Polis: Alcmaeon on Health and Disease. In: British Journal for the History of Philosophy 22, 2014, S. 867–887, hier: 869–873, 881–885; Jaap Mansfeld: The body politic: Aëtius on Alcmaeon on isonomia and monarchia. In: Verity Harte, Melissa Lane (Hrsg.): Politeia in Greek and Roman philosophy, Cambridge 2013, S. 78–95, hier: 79–82, 84.
  20. Friedrich A. Hayek: Origins of the Rule of Law. (Nicht mehr online verfügbar.) In: lamar.colostate.edu. Archiviert vom Original am 5. Oktober 2010; abgerufen am 16. Oktober 2022 (englisch).  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
  21. F. A. Hayek: The Constitution of Liberty. Hrsg.: University of Chicago Press. 1960, S. 162175 (englisch).
  22. Hannah Arendt: On Revolution. Penguin Books, London: 1963, S. 30 (englisch).
  23. A. Guerreiro Ramos: The new science of organizations: A reconceptualization of the wealth of nations. University of Toronto Press., Toronto 1981, S. 131.
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