Jón Gnarr (* 2. Januar 1967 in Reykjavík als Jón Gunnar Kristinsson) ist ein isländischer Komiker, Musiker, Schriftsteller und Politiker. Von Juni 2010 bis Juni 2014 war er Bürgermeister seiner Heimatstadt.
Leben
Jón Gnarr – jüngster ehelicher Sohn eines Polizeibeamten (* 1917) und einer Arbeiterin (* 1922; † 25. Dezember 2010) – verließ im Alter von vierzehn Jahren ohne Abschluss eine Reykjavíker Schule, die kein herkömmliches Klassensystem und keine Noten kannte. Seit dieser Zeit nennt er sich Jón Gnarr. Er besuchte dann für zwei Jahre ein Internat für schwer erziehbare Jugendliche. Nach diversen Gelegenheitsjobs arbeitete er zunächst als Pfleger in einem Heim für geistig und körperlich Behinderte. Mit neunzehn Jahren schrieb er den Roman Miðnætursólborgin („Die Stadt der Mitternachtssonne“).
Jón ist mit der Masseurin Jóhanna Jóhannsdóttir (Jóga), Tochter eines Seemannes, verheiratet. Das Ehepaar hat fünf Kinder: das älteste Kind wurde 1985 und das jüngste 2005 geboren. Im Jahr 2006 schrieb Jón Gnarr eine fiktive Autobiografie mit dem Titel Indjáninn („Der Indianer“), die er 2012 mit Sjóræninginn („Der Seeräuber“) fortsetzte.
Seine Karriere als Komiker begann Jón Gnarr Anfang der 1990er Jahre beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk Ríkisútvarpið mit der Radio-Sitcom Hotel Volkswagen. Später arbeitete er für einen privaten Sender, für den er morgendliche „Interviews“ führte, und trat in Hörfunk, Fernsehen und in Spielfilmen auf. Neben der Sketch-Show Fóstbræður (1997–2001) wurde er vor allem durch seine Rolle als Georg Bjarnfreðarson in den drei Serien Næturvaktin (2007), Dagvaktin (2008) und Fangavaktin (2009) bekannt. Jón Gnarr war laut Munzinger-Archiv Bassist der Punkrockband Nefrennsli („laufende Nasen“) und wirkte in mehreren Filmen, Sitcoms und Talkshows mit. Ferner veröffentlicht er Prosa und Lyrik.
Im Jahr 2009 – während der isländischen Finanzkrise – arbeitete Jón Gnarr in einer Werbeagentur als Creative Director. Nachdem er sich von dieser Agentur getrennt hatte, konzentrierte er seine Arbeit auf die Politik. Bei der Kommunalwahl in Reykjavík am 29. Mai 2010 erzielte Jóns Partei Besti flokkurinn („die beste Partei“) mit 34,7 % die meisten Stimmen. Nach dem Wahlsieg übernahm Jón am 15. Juni 2010 von der bisherigen Bürgermeisterin Hanna Birna Kristjánsdóttir das Amt des Bürgermeisters. Auf der Liste der Partei kandidierten Musiker, Schauspieler, Comic-Zeichner und weitere Prominente. Zum Wahlprogramm gehörten unter anderem folgende Punkte:
- Offene statt heimliche Korruption.
- Kostenlose Handtücher für alle Schwimmbäder.
- Ein Eisbär für Reykjavíks Zoo.
- Ein drogenfreies Parlament bis 2020.
- Gratis-Bustickets. (Mit dem Zusatz: «Wir können mehr versprechen als alle anderen Parteien, weil wir jedes Wahlversprechen brechen werden.»)
Auf nationaler Ebene ist Jón Gnarr Mitglied im Vorstand der 2012 gegründeten Partei Björt framtíð, die in enger Verbindung mit Besti flokkurinn steht. Im Oktober 2013 gab Jón Gnarr bekannt, dass er keine zweite Amtszeit als Bürgermeister von Reykjavík anstreben wird. Seine Amtszeit endete am 17. Juni 2014. Jóns Nachfolger wurde sein bisheriger Koalitionspartner Dagur B. Eggertsson von der sozialdemokratischen Allianz (Samfylkingin). Dagur äußerte anlässlich der Amtsübergabe, „die ganze Gesellschaft“ habe von Jón Gnarr gelernt.
Während der Amtszeit von Jón Gnarr wurde die Online-Plattform Betri Reykjavík (Besseres Reykjavík) als eine Möglichkeit direkter Demokratie etabliert.
Jón Gnarr trat von der isländischen Staatskirche zur katholischen Kirche über, bezeichnet sich aber als Atheisten und Anarchisten.
Veröffentlichungen
Isländische Sprache
- Miðnætursólborgin. Smekkleysa, Reykjavík 1989.
- Plebbabókin. Mál og menning, Reykjavík 2002, ISBN 9979-3-2373-6.
- Þankagangur. Skálholtsútgáfan, Reykjavík 2005, ISBN 9979-792-06-X.
- Indjáninn. Skálduð ævisaga. Mál og menning, Reykjavík 2006, ISBN 9979-3-2792-8.
- Deutsche Ausgabe: Indianer und Pirat. (Aus dem Isländischen von Tina Flecken und Betty Wahl.) Klett-Cotta, Stuttgart 2015, ISBN 978-3-608-50141-4.
- Sjóræninginn. Skálduð ævisaga. Mál og menning, Reykjavík 2012, ISBN 978-9979-3-3320-3.
Deutsche Sprache
- Hören Sie gut zu und wiederholen Sie!!! Wie ich einmal Bürgermeister wurde und die Welt veränderte. Mitarbeit: Jóhann Ævar Grímsson. Aus dem Isländischen von Betty Wahl. Klett-Cotta, Stuttgart 2014, ISBN 978-3-608-50322-7.
- Indianer und Pirat: Kindheit eines begabten Störenfrieds. Aus dem Isländischen von Betty Wahl und Tina Flecken. Tropen/Klett-Cotta, Stuttgart 2015, ISBN 978-360-8501414.
- Der Outlaw: Eine isländische Jugend am Rande der Gesellschaft. Aus dem Isländischen von Tina Flecken. Tropen/Klett-Cotta, Stuttgart 2017. ISBN 978-3608501537.
Film
- Jón Gnarr – Mein Reykjavík. Dokumentarfilm, Österreich, 2014, 51:20 Min., Buch und Regie: Günter Schilhan, Produktion: Filmpark, ORF, 3sat, Reihe: Meine Stadt, Erstsendung: 15. Dezember 2014 bei 3sat, Inhaltsangabe von 3sat, (Memento vom 16. Dezember 2014 im Internet Archive), Vorschau, 2:11 Min. von Filmpark.
Weblinks
- Jón Gnarr in der Internet Movie Database (englisch)
- Englischsprachiges Tagebuch auf Facebook
- Online-Plattform Betri Reykjavík (Better Reykjavík).
- Vera Kämper: Bürgermeister von Reykjavík: Ansichten eines Clowns. In: SpOn, 2. Februar 2014.
- Constantin Seibt: Mehr Punk, weniger Hölle! In: Tages-Anzeiger, 30. Mai 2014.
Einzelnachweise
- ↑ Jón Gnarr: Hören Sie gut zu und wiederholen Sie!!! Klett-Cotta, Stuttgart 2014, S. 23–25 und 131–132.
- ↑ Jón Gnarr: Hören Sie gut zu und wiederholen Sie!!! Klett-Cotta, Stuttgart 2014, S. 114–117 und 124.
- ↑ wk: Jón Gnarr. In: Munzinger-Archiv. Abgerufen am 23. Juni 2014. Nur Artikelanfang frei abrufbar.
- ↑ Jón Gnarr: Hören Sie gut zu und wiederholen Sie!!! Klett-Cotta, Stuttgart 2014, S. 49.
- ↑ Henryk Broder: Politclown siegt bei Kommunalwahl. In: SpOn, 30. Mai 2010.
- ↑ dpa: Spaßpartei stellt Bürgermeister. (Memento vom 27. Dezember 2013 im Internet Archive). In: Frankfurter Rundschau, 5. Juni 2010.
- ↑ Hannes Gamillscheg: Ein Clown macht Ernst. (Memento vom 17. Dezember 2014 im Internet Archive). In: Frankfurter Rundschau, 26. Mai 2010.
- ↑ Thomas Borchert und Hallgrimur Indridasson: Reykjaviks Bürgermeister: Wir brauchen Eisbären! In: Westdeutsche Zeitung, 6. Juni 2010.
- 1 2 Constantin Seibt: Mehr Punk, weniger Hölle! In: Tages-Anzeiger, 30. Mai 2014.
- ↑ Stjórnin. Björt framtíð, archiviert vom am 25. April 2013; abgerufen am 15. April 2013 (isländisch). Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- ↑ Örlygur Hnefill: Jón Gnarr: “I am not a politician, I am a comedian.” In: goiceland.is. 30. Oktober 2013, abgerufen am 26. Dezember 2013 (englisch).
- ↑ Kjartan Atli Kjartansson: Dagur segir allt samfélagið hafa lært af Jóni Gnarr. In: Vísir. 16. Juni 2014, abgerufen am 19. Juni 2014 (isländisch).
- ↑ Julia Wäschebach: Reykjaviks Bürgermeister, der Clown Jón Gnarr, gibt sein Amt nach vier Jahren auf. „Leben ist wie ein Freizeitpark.“ Interview mit Jón Gnarr. In: Weser Kurier, 30. Mai 2014, S. 6.
- ↑ Henryk M. Broder: Umfragevorsprung für Spaßpartei: Reykjavik erwartet den Staats-Streich. In: SpOn. 28. Mai 2010, abgerufen am 23. Juni 2014.
- ↑ Facebook-Eintrag vom 10. April 2014
- ↑ Peter Martens und Georg Renner: Jón Gnarr: „Ich war und bin noch immer Anarchist.“ In: Die Presse, 26. März 2011, Interview mit Jón Gnarr.
Vorgänger | Amt | Nachfolger |
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Hanna Birna Kristjánsdóttir | Bürgermeister von Reykjavík 2010–2014 | Dagur B. Eggertsson |