Judith von Flandern oder Jutka van Vlaanderen (* um 1030; † 5. März 1094, begraben im Kloster Weingarten) stammt wahrscheinlich aus der Familie der Balduine, der Familie der Grafen von Flandern. Sie war Gräfin von Northumbria (in erster Ehe mit Toste Godwinsson) und Herzogin von Bayern (in zweiter Ehe mit Welf IV.).

Abstammung

Die Einordnung Judiths in die flämische Grafenfamilie war lange unklar, ist aber umso wichtiger, weil Judith die Urgroßmutter sowohl von Friedrich Barbarossa als auch von Heinrich dem Löwen ist. Im Wesentlichen finden sich in der Literatur drei konkurrierende Versionen, die alle aus den unterschiedlichen Angaben in den verschiedenen Quellen stammen. In der Forschung besteht mittlerweile weitgehender Konsens zugunsten der dritten Version, in älteren oder nicht aktuellen Werken finden sich noch die beiden anderen.

Erste Version

Judith wurde 1027/28 als Tochter von Herzog Richard III. von Normandie und Adela von Frankreich geboren. Damit war Judith die Stieftochter von Balduin V. von Flandern, der Adela 1028 nach dem Tod Richards III. heiratete. Die Angabe zum Geburtsjahr Judiths ergibt sich aus dem Todesdatum Richards III. (6. August 1027).

Diese Version ist jedoch mehr als zweifelhaft, da man davon ausgehen kann, dass es sich bei der Verbindung zwischen Adela von Frankreich und Richard III. von der Normandie nur um eine Verlobung handelte, die wegen des Todes Richards III. nicht mehr in die Ehe einmünden konnte. Nachkommen Richards und Adelas sind jedenfalls nicht bekannt.

Zweite Version

Judith wurde um 1030 als Tochter von Balduin V. von Flandern und Adela von Frankreich geboren. Diese Aussage stammt einerseits von Alberich von Trois-Fontaines, andererseits (als zweite Tochter nach Mathilde) aus einer Handschrift, deren Zuschreibung zu Ordericus Vitalis umstritten ist.

Auch Florentius von Worcester gibt Judith als Tochter eines Grafen Balduin von Flandern an, sagt aber nicht, welchen Balduin er meint, auch erschließt sich dies nicht aus dem Zusammenhang, so dass bei ihm sowohl diese als auch die folgende Version in Frage kommt.

Die enge Verwandtschaft zwischen Balduin V. und dem Geschlecht der Welfen wäre jedoch wahrscheinlich als Ehe zweier im dritten Grad miteinander Verwandter ein Hindernis für die spätere Heirat von Judith mit Welf IV. gewesen. Judith und Welf IV. hätten mit Friedrich, Graf im Moselgau, und Irmtrud von der Wetterau die gleichen Urgroßeltern gehabt:

  • Friedrich/Irmtrud – Otgiva – Balduin V. – Judith einerseits, sowie
  • Friedrich/Irmtrud – Irmentrud – Kunigunde – Welf IV. andererseits.

Die Ehe Welfs mit Judith wurde jedoch nur als "öffentlicher Ehebruch" (publicum Adulterium) gegenüber Welfs erster Ehefrau angeprangert, nicht aber als Verwandtenehe. Daher ist diese Version ebenfalls als zweifelhaft anzusehen.

Dritte Version

Judith wurde 1031/32 als Tochter von Balduin IV. von Flandern und dessen zweiter Ehefrau Eleonore von Normandie, der Schwester von Richard III., geboren. Damit war Judith die Halbschwester von Balduin V. von Flandern, der aus der ersten Ehe ihres Vaters mit Otgiva von Luxemburg stammte. Die Schätzung für das Geburtsjahr ergibt sich aus dem Jahr der Heirat zwischen Balduin IV. und Eleonore (ca. 1031). Ihren Namen hätte sie nach ihrer Großmutter Judith de Bretagne († 1017).

Diese Version wird dadurch unterstützt, dass der Annalista Saxo Judith als amita (Tante väterlicherseits, also Schwester des Vaters) des Grafen Robert I. bezeichnet, womit er sie als Tochter Balduins IV. und Schwester Balduins V. identifiziert. In der Vita Ædwardi Regis wird Judith ebenfalls als Schwester Balduins V. bezeichnet.

Die Ehe mit Toste Godwinsson

Judith von Flandern war im September 1051 in erster Ehe mit Toste Godwinsson verheiratet. In diesem Jahr mussten Toste und seine Familie nach ihrem Aufstand gegen König Eduard den Bekenner aus England fliehen. Toste und sicher auch Judith flohen nach Flandern zu Balduin V. Im Jahr darauf (1052) konnten sie nach England zurückkehren. 1055 wurde Toste zum Graf (Earl) von Northumbria ernannt. 1061 reisten Toste und Judith zusammen mit dem Erzbischof von York nach Rom. 1065 wurde Toste nach einem Aufstand gegen ihn in Northumbria abgesetzt und verbannt, er floh erneut zu Balduin V.

Inwieweit Judith Toste bei seinem nun folgenden Kampf um die englische Krone begleitete, ist nicht geklärt (Reise nach Dänemark und Norwegen, um Unterstützung zu erhalten, und die Invasion in England). Toste fiel am 25. September 1066 in der Schlacht von Stamford Bridge im Kampf gegen seinen Bruder, König Harald II. von England, der Anfang des Jahres die Nachfolge Eduards angetreten hatte. Der Annalista Saxo berichtet, sie sei mit Schätzen aus dem Erbe Eduards und ihres Ehemanns auf den Kontinent zurückgekehrt.

Die Vita Ædwardi Regis berichtet, die Kinder Tostes und Judiths seien bei seinem Tod noch "nicht entwöhnt" gewesen, also im Kindesalter. Snorri Sturluson berichtet: "Skule, ein Sohn von Earl Toste, … und sein Bruder Ketil Krok … von hoher Familie aus England" begleiteten König Olav Kyrre (regierte 1066–1093), die Morkinskinna präzisiert, dass "Skúli, der Sohn von Jarl Toste Godwinsson, und Ketill krókr aus Hålogaland nach Norwegen kamen", gemeinsam mit König Olav nach dessen gescheiterten England-Feldzug 1066, sowie dass Skuli nicht lange nach Haralds Sturz zurück nach England reiste, und dort die Herausgabe des Leichnams Haralds erreichte. Diese Informationen deuten darauf hin, dass es sich bei Skule und Ketill um Erwachsene und somit nicht um Söhne Judiths handelt. Für den von Symeon von Durham im Jahr 1066 erwähnten Olav, den Sohn Tostis, dürfte das Gleiche gelten, sofern es sich bei "Tosti" überhaupt um Toste Godwinsson handelt. Über die Kinder Tostes und Judiths ist somit nichts weiter bekannt.

Die Ehe mit Herzog Welf

In zweiter Ehe heiratete Judith 1070/71 Welf IV., der Weihnachten 1070 als Welf I. Herzog von Bayern wurde. Welf überlebte seine Ehefrau und starb am 9. November 1101. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor:

Judith von Flandern als welfische Ahnfrau

Judith wird in den Welfen nahestehenden Chroniken häufig fälschlicherweise als "Königin von England" bezeichnet:

  • Der Annalista Saxo gibt sie als Ehefrau von Tostes Bruder, König Harald von England aus
  • Die Genealogia Welforum nennt Welfs Ehefrau Judith "Tochter des Grafen von Flandern, Königin von England"
  • Der Nekrolog von Raitenbuch meldet den Tod von "Judith, Königin von England, Tochter des Markgrafen von Este, Ehefrau unseres Gründers Welf"
  • Der Nekrolog von Weingarten meldet den Tod von "Herzogin Judith, Königin von England"

Judith von Flandern und die Heiligblut-Reliquie

Im Jahr 1053 teilten sich Kaiser Heinrich III. und Papst Leo IX. eine Heiligblut-Reliquie, die in Mantua aufgefunden worden war. Die Reliquie ging mit dem Tod Heinrichs 1056 auf Graf Balduin V. von Flandern über, der sie 1067 Judith vererbte. Judith wiederum stiftete die Reliquie der Abtei Weingarten zusammen mit wertvollen Handschriften, die sich heute in New York, Montecassino, Fulda und Stuttgart befinden. Jedes Jahr findet am Freitag nach Christi Himmelfahrt in Weingarten der Blutritt zu Ehren der Reliquie statt.

Literatur

  • Edward Freeman, The History of the Norman Conquest, Band 3 (1869), S. 656–658.
  • Léon Vanderkindere, La formation territoriale des principautés belges au Moyen Âge, Band 1 (1902), S. 298.
  • Wilhelm Störmer: Judith. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 10, Duncker & Humblot, Berlin 1974, ISBN 3-428-00191-5, S. 641 (Digitalisat).
  • Detlev Schwennicke, Europäische Stammtafeln Band II (1984), Tafel 5 (Balduine, ohne Erwähnung Judiths), und Tafel 81 (Rolloniden, mit Judith als Tochter Richards III.), Band I.1 (2005) Tafel 18 (Welfen, mit Judith als Tochter Balduins IV.))
  • Hartwig Cleve, Eduard Hlawitschka: Zur Herkunft der Herzogin Judith von Bayern († 1094), in: Eduard Hlawitschka, Stirps Regia (1988), Seite 511–528.
  • Jürgen Lott: Judith von Flandern. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 3, Bautz, Herzberg 1992, ISBN 3-88309-035-2, Sp. 771.
  • Dieter R. Bauer, Matthias Becher (Hrsg.): Welf IV. Schlüsselfigur einer Wendezeit. Regionale und europäische Perspektiven. (= Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beiheft, Reihe B; 24). Beck, München 2004, ISBN 3-406-10665-X.
Commons: Judith von Flandern – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Anmerkungen

  1. Die Quellen geben unterschiedliche Daten an: Bernold von Konstanz meldet "1094 IV Non Mar" (4. März), der Nekrolog des Klosters Raitenbuch (Necrologium Raitenbuchense, S. 105) und der Nekrolog von Weingarten (Necrologium Weingartense, S. 221) hingegen "III Non Mar" (5. März)
  2. "apud monasterium…Sancti Martini" (Bernoldi Chronicon 1094, MGH Scriptores (in folio) 5, S. 457)
  3. Siehe Schwennicke (1984), Tafel 81, wo Juditha als mit Geburtsjahr 1028 und als „posthuma“ bezeichnet wird (in Schwennicke (2005), Tafel 18 wird diese Version nicht mehr gebracht), und Lott ("Judith von Flandern, * 1027/28, Tochter Richards III. von der Normandie und Adelheids von Frankreich…" bautz.de (Memento vom 29. Juni 2007 im Internet Archive))
  4. Chronica Albrici Monachi Trium Fontium, MGH Scriptores (in folio) 23, S. 792.
  5. Marjorie Chibnall (Hrsg. und Übers.), The Ecclesiastical History of Orderic Vitalis (Oxford Medieval Texts, 1969-80), Vol. IV, Appendix I, S. 350
  6. Thomas Forester (Übers.): The Chronicles of Florence of Worcester with two continuations (1854) 1051, S. 152.
  7. Vgl. Cleve/Hlawitschka
  8. Erich Brandenburg, Die Nachkommen Karls des Großen (1935), Tafel 4, Seite 9: "* ca. 1033"
  9. Erich Brandenburg bezeichnet in der Anmerkung S. 131 zu Tafel 4, Seite 9, Judith als "Stiefschwester Balduins V." (und meint Halbschwester), verweist dabei auf Freeman und Vanderkindere (der wiederum auf Freeman verweist)
  10. Annalista Saxo 1066: "Huius Haroldi coniunx amita Rodberti comitis de Flandria, ex cognatione beati Ethmundi regis fuit. Hans postea Welphus, filius Azzonis marchionis Italorum, duxit uxorem, genuitque ex ea duces Welphum iunorem et Heinricum. Hec Iuditha dicta…" (die Bezeichnung als Ehefrau Haralds anstatt Tostes ist falsch, der "welfische" Teil der Angaben stimmt), MGH Scriptores (in folio) 6, S. 694
  11. Frank Barlow, The Godwins: the Rise and Fall of a Noble Dynasty (1992), S. 38.
  12. In der Anglo-Saxon Chronicle sind zu diesem Zeitpunkt Godwin von Wessex, dessen Sohn Toste und Tostes Ehefrau erwähnt, die eine Verwandte von "Balduin von Brügge" war (GeorgeNorman Garmonsway (Übers.), The Anglo-Saxon Chronicle (1972), D, 1052 [1051])
  13. Kurt Ulrich Jäschke gibt in Die Anglonormannen (1981), S. 73, den Sommer 1051 als Zeitpunkt der Hochzeit an
  14. Schwennicke (1984) gibt für Hochzeit "um 1045/47" an
  15. Cleve/Hlawitschka; Bernd Schneidmüller, Die Welfen. Herrschaft und Erinnerung (2000), S. 134/135; laut Charles Cawley floh sie nach Dänemark ()
  16. Frank Barlow (Hrsg. und Übers.), The Life of King Edward Who Rests at Westminster (1962, 2. Ausgabe 1992), S. 38.
  17. Samuel Laing (Übers.) Snorri Sturluson, Heimskringla: A History of the Norse Kings Snorre (Norroena Society, London), King Harald’s Saga Part II (1907), S. 102
  18. Beides: Theodore Murdock Andersson, Kari E. Gade, (Übers.) (2000) Morkinskinna (2000), 52, S. 276
  19. Joseph Stevenson (Übers.) The Historical Works of Simeon of Durham (1855), S. 546
  20. So Schneidmüller, S. 134; Cleve/Hlawitschka und Schwennicke (1984): 1070; Schwennicke (2005): um 1070
  21. Schneidmüller vermutet in der Ehe eine politische Verbindung, bei der auch Welfs Vater Alberto Azzo II. d’Este mitwirkte, der nicht nur die italienischen Besitzungen der Familie verwaltete, sondern auch für seinen Sohn Hugo, Welfs älteren Halbbruder, 1069 die Grafschaft Maine erworben hatte; dadurch stand Alberto Azzo im Kampf gegen Wilhelm den Eroberer, und wird bei der Verheiratung Welfs sicher nicht übersehen haben, dass Judith auch die Tante von Wilhelms Ehefrau Mathilde von Flandern war.
  22. Vgl. Cleve/Hlawitschka
  23. "Haroldi coniunx", siehe oben
  24. Genealogia Welforum 9, MGH Scriptores (in folio) 13, S. 734
  25. "Iudinta regina Anglie, filia marchionis de Este uxor Welfonis nostri fundatoris", Franz Ludwig von Baumann (Hrsg.), Necrologium Raitenbuchense, MGH Necrologia Germaniae 3, S. 105
  26. "Judita dux regina Angliae", Franz Ludwig von Baumann (Hrsg.), Necrologium Weingartense, MGH Necrologia Germaniae 1 (1888), S. 221.
  27. Zu den Details siehe den Artikel Blutritt
  28. Schneidmüller, S. 134/135
  29. Die Übergabe der Reliquie datiert auf den 31. Mai 1090 bzw. den 12. März 1094 (eine Woche nach Judiths Tod), vgl. Artikel zum Blutritt
  30. Obwohl Brandenburg und Vanderkindere als Quellen angegeben werden
  31. Basierend auf: Gerd Wunder, Wilhelm der Eroberer und seine Verwandten in der Sicht der kontinentalen Dynastengenealogie, in: Genealogisches Jahrbuch 6/7 (1967) S. 19–41, und 8 (1968), S. 143, sowie Augusto Sanfelice di Monteforte, Richerche storico-critico-genealogiche (del 758 al 1194), Band 2 und Supplement (1962), Tafel X
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