Junger Mann am Fenster
Gustave Caillebotte, 1876
Öl auf Leinwand
116× 80cm
J. Paul Getty Museum, Los Angeles

Junger Mann am Fenster (französisch Jeune homme à sa fenêtre) ist ein 1876 entstandenes Gemälde des französischen Malers Gustave Caillebotte. Das in Öl auf Leinwand gemalte Bild hat eine Höhe von 116 cm und eine Breite von 80 cm. Zu sehen ist ein stehender Mann in Rückansicht, der aus dem geöffneten Zimmer einer Wohnung auf Straßen in Paris herabschaut. Das Bild steht am Anfang einer Reihe von Gemälden, in denen der Maler die moderne Pariser Stadtlandschaft als Thema wählte. Obwohl das Gemälde in der zweiten Gruppenausstellung der Impressionisten gezeigt wurde, entspricht die nahezu fotografisch-genaue Ausführung des Bildes eher dem Naturalismus. Das Gemälde gehört zur Sammlung des J. Paul Getty Museums in Los Angeles.

Bildbeschreibung

Für das Gemälde Junger Mann am Fenster stand Gustave Caillebottes jüngerer Bruder René Modell, wie aus Aufzeichnungen der Familie überliefert ist. Er steht im dunklen Anzug mit dem Rücken zum Bildbetrachter an einem weit geöffneten und fast bis zum Boden reichenden Fenster im dritten Stock der elterlichen Wohnung in der Pariser Rue de Miromesnil Nr. 77. Eine diagonal von links unten zur Mitte verlaufene steinerne Balustrade bildet die Trennungslinie zwischen dem privaten Innenraum der Wohnung und der öffentlichen Außenwelt der Metropole. Der Blick geht seitlich von hinten auf den Mann, den der Maler vor der rechten Seite der Balustrade platziert hat, wodurch ein nahezu unverstellter Blick auf den Stadtraum möglich ist. Die vor dem Fenster des Eckhauses verlaufende Rue de Lisbonne trifft hier auf die Rue de Miromesnil, im Hintergrund wird diese vom baumbestandenen Boulevard Malesherbes gequert. Das zarte Grün der Bäume lässt auf einen Frühlingstag schließen. Die relativ leeren Straßen werden von wenigen Passanten bevölkert, aus der die zentrale Figur einer Frau hervorsticht. Zudem sind mehrere geschlossene Kutschen zu sehen. Die mehrstöckigen Häuser entsprechen der zeitgenössischen Architektur, wie sie seit Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris üblich war. Das helle Sonnenlicht fällt auf detailreich ausgeführte helle Steinfassaden, Zinkdächer und Schornsteine. In der Mitte ist ein wolkenloser hellblauer Himmel zu sehen.

René Caillebotte steht mit den Händen in den Hosentaschen und gespreizten Beinen dicht vor der Balustrade. Die Kunsthistorikerin Marjorie Munsterberg hat festgestellt, dass der Säulenabstand zwischen den Beinen so nicht stimmen kann, wenn die Reihung der Säulen der linken Seite logisch fortgesetzt würde. Dieser „Fehler“ erfolgte vermutlich aus malerischen Gründen, um auch hier einen Durchblick zur Straße zu ermöglichen. Die Silhouette von René Caillebotte spiegelt sich in den mit einer Gardine verhangenen Scheiben des nach innen geöffneten rechten Fensterflügels. Vom Raum selbst ist hingegen wenig zu sehen. Neben einem dunklen Teppich in Rot- und Blautönen gibt es lediglich einen zum Fenster ausgerichteten Stuhl mit Armlehne und üppiger Polsterung. Durch die Anordnung des Stuhls direkt hinter René Caillebotte kann der Eindruck entstehen, er sei gerade aufgestanden, um etwas auf der Straße genauer zu beobachten – möglicherweise die Frau, die gerade dabei ist, die Straße zu überqueren. Karin Sagner sieht den dunklen privaten Innenraum und die helle öffentliche Stadtlandschaft „durch eine imaginäre Blickachse miteinander verbunden“. Für sie zeigt Caillebotte „ein überzeugendes Bild von der Beziehung des Individuums zum städtischen Raum: eine neue Art der Stadtwahrnehmung“. Das Gemälde ist unten links im Bereich des Teppichs mit „G. Caillebotte 1876“ signiert und datiert.

Provenienz

Das Gemälde Junger Mann am Fenster war ein Geschenk von Caillebotte an seinen in Meaux lebenden Rechtsanwalt Albert Courtier. Dessen Erben gaben das Bild an den Pariser Kunsthändler Jean Metthey, der es um 1945 im Bestand seiner Galerie de l’Elysée führte. 1951 erwarb die New Yorker Filiale der Kunsthandlung Wildenstein & Compagny das Gemälde, die es mehrere Jahrzehnte in ihrem Besitz behielt. Am 26. Juni 1995 erwarb der texanische Kunstsammler Edwin L. Cox das Bild und behielt es bis zu seinem Tod 2020. Seine Erben ließen das Gemälde am 11. November 2021 in der New Yorker Filiale des Auktionshauses Christie’s versteigern. Das Bild ging hierbei für 53.030.000 US-Dollar an das J. Paul Getty Museum in Los Angeles.

Literatur

  • Marie Berhaut: Gustave Caillebotte. Catalogue raisonné des peintures et pastels. Wildenstein Institute, Paris 1994, ISBN 2-908063-09-3.
  • Anne Distel: Gustave Caillebotte: Urban impressionist. Ausstellungskatalog Galerie Nationales du Gran Palais Paris, Art Institute of Chicago und Los Angeles County Museum of Art, Abbeville Press, New York 1995, ISBN 0-7892-0041-4.
  • Anne-Brigitte Fonsmark, Dorothee Hansen, Gry Hedin: Über das Wasser – Gustave Caillebotte. Ein Impressionist wieder entdeckt. Ausstellungskatalog Kunsthalle Bremen, Ordrupgaard in Charlottenlund und Museo Thyssen-Bornemisza in Madrid. Hantje Cantz, Ostfildern 2008, ISBN 978-3-7757-2190-5.
  • Michael Marrinan: Gustave Caillebotte: painting the Paris of naturalism, 1872–1887. Getty Research Institute, Los Angeles 2016, ISBN 978-1-60606-507-5.
  • Karin Sagner: Gustave Caillebotte, neue Perspektiven des Impressionismus. Hirmer, München 2009, ISBN 978-3-7774-2161-2.
  • Kirk Varnedoe: Gustave Caillebotte. Yale University Press, New Haven 1987, ISBN 0-300-03722-8.

Einzelnachweise

  1. Der deutsche Titel Junger Mann am Fenster findet sich beispielsweise in Karin Sagner: Gustave Caillebotte, neue Perspektiven des Impressionismus, S. 34.
  2. Der französische stammt aus Marie Berhaut: Gustave Caillebotte. Catalogue raisonné des peintures et pastels. 1994, S. 73.
  3. Marie Berhaut: Gustave Caillebotte. Catalogue raisonné des peintures et pastels. 1994, S. 73.
  4. Martial Caillebotte hat in einem Album mit Fotografien von Gemälden seines Bruders Gustave auf der Rückseite von Junger Mann am Fenster den Namen René notiert. Zoé Caillebotte, eine Cousine von Gustave, René und Martial Caillebotte bestätigte später diesen Eintrag. Siehe hierzu Kirk Varnedoe: Gustave Caillebotte, S. 212.
  5. Kirk Varnedoe: Gustave Caillebotte, S. 60.
  6. Kirk Varnedoe: Gustave Caillebotte, S. 212.
  7. Rodolphe Rapetti: Paris seen from a window in Anne Distel: Gustave Caillebotte: Urban impressionist, S. 149.
  8. Karin Sagner: Gustave Caillebotte, neue Perspektiven des Impressionismus, S. 34.
  9. Obwohl im Gemälde die Datierung „1876“ lesbar ist, gibt es in der älteren Literatur wiederholt die Jahresangabe „1875“, so auch im Werkverzeichnis Marie Berhaut: Gustave Caillebotte. Catalogue raisonné des peintures et pastels, 1994, S. 73. In der neueren Literatur wird hingegen das Entstehungsjahr „1876“ angegeben, so in Michael Marrinan: Gustave Caillebotte: painting the Paris of naturalism, 1872–1887, S. 76.
  10. Marie Berhaut: Gustave Caillebotte. Catalogue raisonné des peintures et pastels, S. 73.
  11. Informationen zur Versteigerung des Gemäldes auf der Internetseite des Auktionshauses Christie’s.
  12. Angelica Villa: Van Gogh, Warhol Bring Christie’s Modern Art Sales to $751.9 M.: ‘You Won’t Find Another One of These Soon’, Onlineartikel auf www.artnews.com vom 12. November 2021.


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