Kleopatra V. Selene, auch Kleopatra Selene I. (altgriechisch Κλεοπάτρα Σελήνη Kleopátra Selḗnē; * etwa zwischen 135 und 130 v. Chr.; † 69 v. Chr. in Seleukeia am Zeugma) war eine ptolemäische und seleukidische Königin. Sie heiratete um 115 v. Chr. ihren Bruder Ptolemaios IX. und nach dessen Vertreibung 107 v. Chr. wahrscheinlich auch ihren zweiten Bruder Ptolemaios X. Ab 103 v. Chr. war sie nacheinander mit drei Seleukiden-Königen vermählt. Nach dem Tod ihres letzten Gatten Antiochos X. lebte sie aus Sicherheitsgründen in Kilikien. 69 v. Chr. wurde sie auf Befehl des armenischen Königs Tigranes II., der sie in Ptolemais belagert und gefangen genommen hatte, in Seleukeia am Zeugma hingerichtet.
Leben
Kleopatra Selene war die jüngste Tochter des ägyptischen Königs Ptolemaios VIII. Euergetes II. und dessen Nichte Kleopatra III., die im Jahr 140 oder 141 v. Chr. geheiratet hatten. Sie hieß ursprünglich nur Selene und nahm den zusätzlichen dynastischen Namen Kleopatra bei ihrer Heirat mit ihrem Bruder Ptolemaios IX. Soter II. an. Diese Hochzeit erfolgte wohl im Jahr 115 v. Chr., und zwar kurz nach Ptolemaios’ IX. Regierungsantritt im Vorjahr nach dessen von seiner Mutter erzwungenen Scheidung von seiner Schwester Kleopatra IV. Kleopatra III. empfand wahrscheinlich ihre jüngere Tochter Kleopatra Selene als „lenkbarer“ und fügsamer als Kleopatra IV., was dem Erhalt ihres Einflusses förderlich war. Eine aus Anlass dieser Hochzeit geprägte Münze blieb erhalten. Zwar bekam Kleopatra V. durchaus die ihr als Königin gebührenden Ehren und fand Aufnahme in den ptolemäischen Kult der Theoí philometores soteres, wurde aber von ihrer herrschsüchtigen Mutter von der Regierung ferngehalten. Anscheinend wurde Ptolemaios IX. auf seiner Reise nach Südägypten (August und September 115 v. Chr.) nicht nur von seiner Mutter, sondern auch von seiner Gemahlin Kleopatra Selene begleitet.
Im März 108 v. Chr. dürften die latenten Spannungen zwischen Ptolemaios IX. und seiner Mutter eskaliert sein. Er scheint sich mit seiner Schwestergemahlin Kleopatra Selene in die Kyrenaika zurückgezogen und dort für etwa zwei Monate unabhängig von seiner Mutter regiert zu haben. Falls, wie die Althistoriker Walter Otto und Hermann Bengtson annehmen, ein Dekret von Kyrene auf den 10. Mai 108 v. Chr. zu datieren ist (allerdings ist diese Datierung in der Forschung umstritten), dann spiegelt sich in ihm der unruhige Zustand des Lands infolge eines Bürgerkriegs wider. Kleopatra Selene wird darin ebenso wie ihr Gemahl und ihr Sohn mit religiösen Ehren bedacht. Nach der vorübergehenden Aussöhnung zwischen Ptolemaios IX. und seiner Mutter Ende Mai 108 v. Chr. musste Kleopatra Selene aus ihrer Stellung als an der Herrschaft mitbeteiligter Königin wieder hinter ihre Mutter zurücktreten.
Als Ptolemaios IX. im Herbst 107 v. Chr. von seiner Mutter Kleopatra III. endgültig aus Ägypten vertrieben wurde, blieb Kleopatra Selene mit ihren beiden nicht näher bekannten Söhnen in Ägypten zurück und wurde wohl mit ihrem jüngeren Bruder Ptolemaios X. Alexander I. vermählt. Der Althistoriker Chris Bennett vermutet, dass aus dieser Verbindung Ptolemaios XI. Alexander II. hervorgegangen sei. Wahrscheinlich im Jahr 103 v. Chr. löste Kleopatra III. aber diese Ehe auf und schickte Kleopatra Selene dem Seleukidenkönig Antiochos VIII. Grypos als Gemahlin nach Syrien, da sie Antiochos’ Unterstützung gegen Ptolemaios IX. suchte. Der Seleukide war zuvor schon mit Tryphaina, der ältesten Tochter Kleopatras III. verheiratet gewesen, und auch Kleopatra Selene sollte quasi als „Nachfolgerin“ ihrer älteren Schwester ein Unterpfand für die ptolemäisch-seleukidische Kooperation sein.
Aus der Ehe von Antiochos VIII. und Kleopatra Selene entsprossen keine Nachkommen. Als Antiochos VIII. um 97 v. Chr. eines gewaltsamen Todes gestorben war, wurde Kleopatra Selene von seinem Halbbruder und Nachfolger Antiochos IX. Kyzikenos übernommen, da er sie als Legitimation in seinem Kampf gegen Seleukos VI. verwenden wollte. Ebendarum wurde sie nach dem schon ein Jahr später erfolgten Tod des Antiochos IX. im Jahr 95 v. Chr. von dessen Sohn Antiochos X. Eusebes geheiratet, der mehrere Söhne Antiochos’ VIII. befehdete. Aus dieser letzten Ehe von Kleopatra Selene gingen wohl zwei Söhne hervor, darunter der spätere Antiochos XIII. Asiaticus. Nach dem Ableben ihres letzten Gemahls (92 oder 83 v. Chr.) verließ sie zu ihrer Sicherheit Syrien, das 83 v. Chr. vom armenischen König Tigranes II. besetzt wurde. Zu diesem Zeitpunkt wohnte Kleopatra Selene mit ihren Söhnen in Kilikien, wo sie eine bescheidene, aber unabhängige Stellung innehatte.
Nach der Ermordung des Kurzzeit-Pharaos Ptolemaios XI. (80 v. Chr.) war Kleopatra V. Selene das einzige überlebende legitime Mitglied der Familie der Ptolemäer. Doch die Bevölkerung Alexandrias entschied sich, alleine schon, um ihre eigenen Machtansprüche zu untermauern, umgehend für die in Syrien lebenden illegitimen Söhne von Ptolemaios IX., von denen der ältere als Ptolemaios XII. inthronisiert wurde. Fünf Jahre später, 75 v. Chr., erhob Kleopatra Selene für ihre Söhne aus ihrer letzten Ehe Anspruch auf die Thronfolge in Ägypten. Doch auch als sich die Söhne auf Aufforderung ihrer Mutter zwecks direkter Intervention nach Rom begaben, wurde ihr Anliegen vom Senat ignoriert, so dass sie nach zwei Jahren ergebnislos heimkehren mussten. Dabei wurde der eine der beiden ptolemäischen Prinzen auf der Rückreise in Sizilien vom dortigen Statthalter Gaius Verres seines wertvollen Geschirrs beraubt. Tigranes II. belagerte Kleopatra Selene 69 v. Chr. in Ptolemais, weil sie bei dessen Anmarsch die Stadttore hatte schließen lassen. Nachdem der armenische König Ptolemais erobert hatte, ließ er die alte Königin in Seleukeia am Zeugma, einer am Euphrat bei Samosata gelegenen Festung, grausam zu Tode bringen.
Literatur
- Adrian Dumitru: Kleopatra Selene – A look at the Moon and her bright side. In: Altay Coşkun, Alex McAuley (Hrsg.): Seleukid Royal Women. Creation, Representation and Distortion of Hellenistic Queenship in the Seleukid Empire (= Historia Einzelschriften. Band 240). Steiner, Stuttgart 2016, ISBN 978-3-515-11295-6, S. 253–272 (nicht ausgewertet).
- Günther Hölbl: Geschichte des Ptolemäerreiches. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1994, ISBN 3-534-10422-6, S. 182; 185 f.; 189; 195; 264; 324, Anmerkung 151.
- Werner Huß: Ägypten in hellenistischer Zeit 332–30 v. Chr. Beck, München 2001, ISBN 3-406-47154-4, S. 631; 633 f.; 635; 649; 661; 673 f.; 678 f.
- Lloyd Llewellyn-Jones: Cleopatra Selene. In: Roger S. Bagnall et al.: The Encyclopedia of Ancient History. Bd. 3, Wiley-Blackwell, Malden (MA) 2013, ISBN 978-1-405-17935-5, S. 1572 f.
- Felix Stähelin: Kleopatra 22). In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band XI,1, Stuttgart 1921, Sp. 782–784.
- John Whitehorne: Cleopatras. Routledge, London/ New York 1994, ISBN 0-203-03608-5, S. 164–173.
Weblinks
Einzelnachweise
- 1 2 Iustinus, Epitoma historiarum Philippicarum Pompei Trogi 39,3,2.
- ↑ Strabon, Geographie 16,749; Flavius Josephus, Antiquitates Judaicae 13,420.
- ↑ Werner Huß: Ägypten in hellenistischer Zeit 332–30 v. Chr. München 2001, S. 631.
- ↑ Ioannis N. Svoronos: Die Münzen der Ptolemäer. Nr. 1726.
- ↑ Inscriptiones Graecae (= IG) Thèbes/Syène 244; dazu Werner Huß: Ägypten in hellenistischer Zeit 332–30 v. Chr. München 2001, S. 632, Anmerkung 33; Felix Stähelin: Kleopatra 22). In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band XI,1, Stuttgart 1921, Sp. 782–784 (hier: Sp. 783).
- ↑ Supplementum epigraphicum Graecum (SEG) IX 5.
- ↑ Werner Huß: Ägypten in hellenistischer Zeit 332–30 v. Chr. München 2001, S. 633 f.; Hans Volkmann: Ptolemaios 30. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band XXIII,2, Stuttgart 1959, Sp. 1738–1743 (hier: Sp. 1740).
- ↑ Iustinus, Epitoma historiarum Philippicarum Pompei Trogi 39,4,1; Pausanias, Helládos Periēgēsis 1,9,2.
- ↑ Chris Bennett, Cleoaptra Selene, Anmerkung 13 und 14.
- ↑ Chris Bennett: Cleopatra Selene, Anmerkung 19.
- ↑ Iustinus, Epitoma historiarum Philippicarum Pompei Trogi 39,4,4; vgl. Appian, Syriake 69; dazu Werner Huß: Ägypten in hellenistischer Zeit 332–30 v. Chr., 2001, S. 649.
- ↑ Appian, Syriake 69.
- ↑ Felix Stähelin: Kleopatra 22). In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band XI,1, Stuttgart 1921, Sp. 782–784 (hier: Sp. 783).; Chris Bennett: Cleopatra Selene, Anmerkung 28–30.
- ↑ Iustinus, Epitoma historiarum Philippicarum Pompei Trogi 40,2,3.
- ↑ Marcus Tullius Cicero, In Verrem actio 2,4,61–68.
- ↑ Flavius Josephus, Antiquitates Judaicae 13,420 und Bellum Iudaicum 1,116.
- ↑ Strabon, Geographie 16,749.