Die Lateinische Rasse ist ein Konzept des Rassismus, das eine rassentheoretisch einheitliche romanische Menschengruppe postuliert.

Begriffsgeschichte

Der Begriff erscheint schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts, etwa als « race latine » im Deutschlandhandbuch der Germaine de Staël (De l’Allemagne, 1810/1813). Das wurzelt in der französischen Revolution, als eine gallische (französische) „Rasse“ des Bürgertums der fränkischen Rasse der Aristokratie gegenübergestellt werden. was schon auf Historiker wie Henri de Boulainvilliers (Histoire de l’ancien gouvernement de la France, 1727; Essai sur la noblesse de France, 1732) zurückgeht. Dieser Rassebegriff, wie ihn auch Augustin Thierry (Sur l'antipathie de race qui divise la nation française, 1820) verwendete, ist aber noch primär ethnisch-kulturell, nicht vornehmlich biologisch, gemeint. Bis in die 1940er etabliert sich aber die Ansicht, dass der Widerstreit der europäischen Rassen eine zentrale Kraft der Menschheitsgeschichte sei, wenn auch mit anderen Begriffen, nämlich einer gallisch-keltischen Rasse für Westeuropa und einer pelagischen Rasse für Südeuropa (alte Griechen und Römer).

Das Konzept einer «raza Latina» beginnt in den 1830ern, im Kontext der zunehmenden US-amerikanischen Dominanz in Mittel- und Südamerika, in Abgrenzung zum amerikanischen Anglo-Saxonismus, einer ladinidad als Selbstverständnis, und einer Wiederannäherung an Europa nach der Abgrenzung des ausgehenden Kolonialismus. Dieser Begriff führt letztendlich zum Begriff Lateinamerika und zum Panlatinismus. Weniger bedeutend ist er in der rassentheoretischen Abgrenzung der Weißen gegenüber Indios, Schwarzen und Mischlingen (Mestize, Mulatten, Kreolen), die eine Gemeinsamkeit der Menschen europäischer Herkunft betont, findet sich aber etwa im Diskurs in Mexiko.

In Frankreich erscheint er erst später. Autoren wie Joseph Arthur de Gobineau (Essai sur l’inégalité des races humaines, 1853–55) betonen noch arische Rassenkonzepte. Prägend für den französischen Romanismus ist beispielsweise die Zeitschrift Revue des Races Latines (1857–64). Persönlichkeiten wie Michel Chevalier oder Gustave Le Bon (Les lois psychologiques de l'évolution des peuples. 1894) beeinflussten mit der Abgrenzung zur angelsächsischen Rasse auch den lateinamerikanischen Nationalismus.

Erst als ab der Niederlage 1871 die Lehre von der deutsch-französischen Erbfeindschaft auch im französischen Nationalismus Bedeutung gewinnt, wird versucht, der germanischen Rasse auch im biologischen Sinne eine lateinische gegenüberzustellen, die zusammen mit einer keltischen Rasse die Nationalidentität Frankreichs prägt. In den 1870er erscheinen auch Pananglizsmus und Panslawismus. Dazu treten dann zunehmend Gedanken aus der rassischen Dekadenztheorie, die sowohl versuchen, die damalige Unterlegenheit Frankreichs gegenüber Deutschland und auch Großbritannien, wie auch der Lateinamerikaner gegenüber den US-Amerikanern, zu erklären.

Im deutschen Rassismus blieb der Begriff selten. Friedrich Nietzsche verwendet zwar den Ausdruck lateinische Rasse (Jenseits von Gut und Böse, 1886), aber ebenfalls in einem psychologisch-kulturellen Sinne, nicht einem biologisch-rassistischen. Die nationalsozialistische Rassentheorie nach Hans F. K. Günther entwickelte das Konzept der westischen (mediterranen) und dinarischen (südosteuropäischen) Rasse, um die auch von der NS-Ideologie nicht abstreitbaren Durchmischung in den Randgebieten des deutschen Sprachraumes zu rechtfertigen. Auch im italienischen Faschismus spielt der Begriff einer razza Latina – ähnlich wie im Risorgimento des 19. Jahrhunderts – eine untergeordnete Rolle, da er wenig geeignet war, eine Einheit oder Vormachtstellung Italiens zu erklären. Hier berief man sich eher auf die Konzepte der kulturell-zivilisatorischen Latinität. In Europa gab es auch weder im 19. noch im 20. Jahrhundert einen nennenswerten Panromanismus im Sinne einer Einheit aller romanischen Ethnien.

Literatur

  • Käthe Panick: La race latine. Politischer Romanismus im Frankreich des 19. Jahrhunderts (= Pariser historische Studien. Band 15). Röhrscheid, Bonn 1978, ISBN 3-7928-0410-7.
  • Joseba Gabilondo: Genealogía de la “Raza Latina”: para una teoría atlántica de las estructuras raciales Hispanas. In: Revista Iberoamericana. Vol. LXXV, Núm. 228, 2009, S. 795–818 (Artikel pdf, revista-iberoamericana.pitt.edu).

Einzelnachweise

  1. 1 2 3 Hubert Fehr: Germanen und Romanen im Merowingerreich: Frühgeschichtliche Archäologie zwischen Wissenschaft und Zeitgeschehen. (= Reallexikon der Germanischen Altertumskunde – Ergänzungsbände. Band 68). Verlag Walter de Gruyter, 2010, ISBN 978-3-11-021461-1, S. 109 f (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  2. 1 2 3 4 Oliver Trey: Die Entwicklung von Rassentheorien im 19. Jhdt.: Gobineau und sein Essai "Die Ungleichheit der Menschenrassen". disserta Verlag, 2014, ISBN 978-3-95425-684-6, S. 62 ff, insb. S. 65–67 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  3. 1 2 3 John Morán González, Laura Lomas: The Cambridge History of Latina/o American Literature. Verlag Cambridge University Press, 2018, ISBN 978-1-316-87367-0, The discourse of raza Latina …. S. 212. (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  4. 1 2 Maike Thier: The View from Paris: ‘Latinity’, ‘Anglo-Saxonism’, and the Americas, as discussed in the Revue des Races Latines, 1857–64. In: Size Matters: Scales and Spaces in Transnational and Comparative History. (= The International History Revie. Volume 33, Issue 4). 2011, S. 627–644 (Abstract, tandfonline.com).
  5. 1 2 3 Karl Hölz: Das Fremde, das Eigene, das Andere: Die Inszenierung kultureller und geschlechtlicher Identität in Lateinamerika. Erich Schmidt Verlag, 1998, ISBN 3-503-04917-7, S. 161. (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  6. Wolfgang Matzat: Lateinamerikanische Identitätsentwürfe: essayistische Reflexion und narrative Inszenierung. Gunter Narr Verlag, 1996, ISBN 3-8233-5164-8, S. 135. (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  7. Ernest [Antoine Aime] L’Seilliere: Le Comte de Gobineau Et L'Aryanisme Historique. Paris 1903. (https://archive.org/details/lecomtedegobinea00seiluoft/ Volltext, archive.org; Reprint: Nabu Press, 2014, ISBN 978-1-294-55673-2).
  8. Gustave Le Bon: Les lois psychologiques de l'évolution des peuples. Félix Alcan, Paris, 1894; deutsch Die psychologischen Grundgesetze der Völkerentwicklung. 1894.
  9. Charles Seignobos: Histoire sincère de la Nation française. Essai d'une histoire de l'évolution du peuple français. 1933; deutsch z. B. Geschichte der französischen Nation. Verlag J. Kohl, Bad Kreuznach 1947, dort S. 23 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  10. 1 2 Hermann von Laer, Klaus-Dieter Scheer: Kultur und Kulturen. (= Vechtaer Universitätsschriften. Band 23). LIT Verlag, Münster 2004, ISBN 3-8258-8313-2, S. 141 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  11. Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. z. B. Achtes Hauptstück Völker und Vaterländer, in der Werkausgabe 195: Band 2, S. 725 (Text auf zeno.org); auch andernorts.
  12. Gerd Schank: "Rasse" und "Züchtung" bei Nietzsche. (= Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung. Band 44). Verlag Walter de Gruyter, 2000, ISBN 3-11-016872-3, S. 93 ff (Digitalisat, Google, vollständige Ansicht).
  13. Werner Stegmaier: Nietzsches Befreiung der Philosophie: Kontextuelle Interpretation des V. Buchs der "Fröhlichen Wissenschaft". (= Nietzsche heute / Nietzsche Today). Verlag Walter de Gruyter, 2012, ISBN 978-3-11-026976-5, S. 364 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  14. Giorgio Israël, Pietro Nastasi: Scienza e razza nell'Italia fascista. (= Biblioteca storica). Verlag Soc. Ed. Il Mulino, 1998, ISBN 88-15-06736-1;
    Giorgio Israël: Il fascismo e la razza: la scienza italiana e le politiche razziali del regime. (= Biblioteca storica). Il mulino, 2010, ISBN 978-88-15-11612-3.
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