Liminalität ist ein vom Ethnologen Victor Turner geprägter Begriff. Er beschreibt einen Schwellenzustand, in dem sich Individuen oder Gruppen befinden, nachdem sie sich rituell von der herrschenden Sozialordnung gelöst haben. Turner unterscheidet im Rückgriff auf Arnold van Gennep bei den Übergangsriten drei Phasen: die Trennungs-, die Schwellen- und die Angliederungsphase. Liminalität befindet sich in der zweiten Phase, dem Schwellenzustand. Beispiele sind die Initiationsriten archaischer Gesellschaften oder Revolutionen industrialisierter bzw. moderner Gesellschaften. Während der liminalen Phase befinden sich die Individuen in einem mehrdeutigen Zustand. Das Klassifikationssystem der (alltäglichen) Sozialstruktur wird aufgehoben. Die Individuen besitzen weder Eigenschaften ihres vorherigen Zustandes noch welche des zukünftigen – sie sind „betwixt and between“.

Im Falle des klassischen Initiationsritus sind die Passanten während der liminalen Phase keine Kinder mehr, aber auch noch keine Erwachsenen. In den westlichen Kulturen, in denen oft keine wirkmächtigen Initiationsriten dieser Art mehr existieren, können sich Heranwachsende in Pubertät und Adoleszenz zeitweise immer wieder als in einer liminalen Phase gefangen erleben (Coming of age), ebenso wie junge Erwachsene in der Übergangszeit nach Beendigung des Studiums (sog. akademisches Prekariat). Anders als klassische Initiationsriten, die für gewöhnlich einer gewissen Geheimhaltung unterliegen, werden diese Übergangszeiten in der Moderne stark in populären Medien thematisiert und öffentlich diskutiert (z. B. im Bildungsroman und anderen Coming-of-age-Narrativen).

Turner verwendete auch den Begriff liminoid, um zwischen einem zwangsläufigen liminalen Phänomen (z. B. Pubertät) und den freiwilligen (z. B. Besuch eines Rockkonzerts) zu unterscheiden. Während das Liminale Teil der Gesellschaft ist, ist das Liminoide ein Ausbruch aus den Fesseln der Gesellschaft. Während das Gehen zu Fuß in den Zeiten, als dies das wesentliche Fortbewegungsmittel war, zu Liminalität führen kann (vergl. Canterbury Tales), ist Wandern heute liminoid, weil man es freiwillig macht.

Liminale Räume sind Räume der Veränderung und Innovation, Räume in denen alles möglich scheint und die sich ständig im Wandel befinden. Der liminale Zustand ist kein fester, sondern ein fluktuierender Schwebezustand.

Das Konzept der Liminalität in der physischen Welt

Das Studium von Übergangsriten bietet eine Analogie, aus der Prinzipien für die Gestaltung eines transformativen Raums gezogen werden können. Klassisch können Treppenhäuser und Aufzüge als Zwischenräume oder Schwellen betrachtet werden. Der Zweck dieser Räume besteht in der Transition von Ort A nach Ort B. Auch ein Parkplatz ist ein Zwischenraum, der nur in Verbindung mit einem Zielort funktioniert. In der Regel ist also nicht der Parkplatz selbst das Ziel, sondern der Ort, der an den Parkplatz angrenzt oder in dessen Nähe liegt. Beispielsweise sind Terminals an Flughäfen Orte, die nur als Wartebereich dienen. Das Ziel ist hierbei das Flugzeug und ein möglicher neuer Ort. Auch wenn Orte die Funktion verlieren, die sie einmal hatten, können sie zu liminalen Räumen werden. Zum Beispiel bietet ein Leuchtturm ohne Licht keine Funktion. Zusammenfassend betritt man diese Zwischenräume jedes Mal, wenn man sich auf dem Weg Wohin befindet. Der Weg vom Schreibtisch zu einem Konferenzraum, auf dem man Kollegen trifft und ein Austausch stattfindet, gehört zu diesen Zwischenräumen. Liminale Räume können auch über Orte für Gespräche hinausgehen und als Orte der Entspannung dienen. Beispielsweise kann das ein Ruheraum sein, in dem man sich vor einem großen Meeting vorbereitet oder nach einem intensiven Meeting entspannen kann. Diese Konzepte entstammen der Verhaltenspsychologie und berücksichtigen menschliche Bedürfnisse, die auf angeborenen neurologischen Reaktionen beruhen.

Das Konzept der Liminalität in Computerspielen

Im Bereich der Computerspiele wird das Konzept der Liminalität, wenn auch teils unabsichtlich, als Element des Horrors genutzt. Leere, Entrückung und ein schwer zu fassender Schwebezustand sind Gefühle, die in manchen Spielen durch die Gestaltung anhand liminaler Prinzipien erreicht werden. Die Isolation und die fehlende Identifikation mit der Umgebung durch die Abwesenheit von Mitmenschen kann eine unheimliche Stimmung zum Ausdruck bringen. Zum Beispiel verliert ein Büro ohne Menschen oder Mobiliar gewissermaßen seinen Zweck und wird dadurch aus der Realität gehebelt.

Beispiele von Computerspielen, die sich am Konzept der Liminalität bedienen:

Beispiele aus der Medienkunst

Literatur

  • Victor W. Turner: Betwixt and Between. The Liminal Period in Rites de Passage. In: June Helm (Hrsg.): Symposium on New Approaches to the Study of Religion. Proceedings of the 1964 Annual Spring Meeting of the American Ethnological Association (= Proceedings of the Annual Spring Meeting of the American Ethnological Society. University of Washington Press, Seattle WA 1964 ISSN 0731-4108) S. 4–20
  • Victor W. Turner: Liminalität und Communitas. In: Andréa Belliger, David J. Krieger (Hrsg.): Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch. Westdeutscher Verlag, Opladen 1998, ISBN 3-531-13238-5, S. 251–264

Einzelnachweise

  1. Arnd Krüger: Historie des Wanderns. In: Axel Dreyer, Anne Menzel, Martin Endreß: Wandertourismus. Kundengruppen, Destinationsmarketing, Gesundheitsaspekte. Oldenbourg, München 2010, ISBN 978-3-486-58810-1, S. 15–21.
  2. We Are All So Entangled. Abgerufen am 25. Februar 2021 (amerikanisches Englisch).
  3. Patrick Zimmerman: Liminal Space in Architecture: Threshold and Transition. In: Masters Theses. 1. Mai 2008 (tennessee.edu [abgerufen am 24. Februar 2021]).
  4. Understanding How Liminal Space Is Different From Other Places | Betterhelp. Abgerufen am 24. Februar 2021 (englisch).
  5. Liminal Spaces | M+A Architects. Abgerufen am 24. Februar 2021 (englisch).
  6. Michael Cherdchupan: Liminal Spaces – Die psychologische Wirkung von Räumen im Schwellenzustand [Anzeige]. In: GameStar.de. 25. Oktober 2020, abgerufen am 25. Februar 2021.
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