Lisa L. Littman ist eine US-amerikanische Ärztin, Forscherin und Hochschulprofessorin an der School of Public Health der Brown University. Bekanntheit erlangte sie 2018 mit ihrer kontroversen Studie zum Phänomen der Rapid-Onset Gender Dysphoria bei sich als transgender identifizierenden Jugendlichen.

Ausbildung und Karriere

Littman schloss ein erstes Studium an der Brandeis University 1988 ab. Einen Graduiertenstudiengang an der nun zur Rutgers University gehörigen Robert Wood Johnson Medical School schloss sie 1992 mit dem Doktor der Medizin (M.D.) ab. Im Rahmen ihrer Facharztausbildung arbeitete sie in den Bereichen der Gynäkologie und Geburtshilfe am Women & Infants Hospital of Rhode Island und in den Bereichen der Krankheitsprävention und Public Health an der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York, wo sie auch 2007 einen zusätzlichen Masterabschluss in Public Health erwarb.

Littman war außerplanmäßige Assistenzprofessorin für den Bereich der Krankheitsprävention an der Icahn School of Medicine at Mount Sinai, wo sie unter anderem dazu forschte, welche Aufklärungsbedürfnisse bei Frauen bezüglich Schwangerschaftsabbrüchen bestehen.

Seit 2018 ist Littman Assistenzprofessorin an der School of Public Health der Brown University für das Gebiet der Verhaltens- und Sozialforschung. Ihre Forschungsinteressen sind Reproduktionsmedizin, Geschlechtsdysphorie, insbesondere das iatrogene, also durch Behandlung bedingte, Anhalten dieser Dysphorie, Detransition, das heißt das Rückgängigmachen einer geschlechtlichen Transition, sowie Frühgeburten und die Auswirkungen von Substanzmissbrauch während der Schwangerschaft.

Littmann ist Mitglied des American College of Preventive Medicine, einer auf Krankheitsprävention spezialisierten Ärzteorganisation.

Studie zu Rapid-Onset Gender Dysphoria und nachfolgende Kontroverse

Studie zu Rapid-Onset Gender Dysphoria

Littman hatte in ihrem eigenen Umfeld bemerkt, dass eine wachsende Zahl von Teenagern zur selben Zeit wie ihre Freunde in den sozialen Medien verkündeten, transgender zu sein. Bei einer anschließenden Recherche konnte sie feststellen, dass auch immer mehr Eltern in Internetforen berichteten, dass ihre jugendlichen Kinder zeitgleich mit Gleichaltrigen ihrer Peergroup oder nach verstärkter Internetnutzung, insbesondere sozialer Medien wie Tumblr und YouTube, begannen, sich als transgender zu identifizieren, obwohl sie in der Kindheit keine Anzeichen von Geschlechtsdysphorie zeigten. Ein solches plötzliches Einsetzen einer Geschlechtsidentitätsstörung sei laut Littman nicht kongruent mit der bisherigen Forschung zu Transsexualität bei Jugendlichen. Zudem sei es statistisch unwahrscheinlich, dass mehrere Personen einer Freundesgruppe transgender sind. Um zu erforschen, ob die plötzliche Identifikation als transgender auf „soziale Ansteckung“ („social contagion“) zurückgehen könnte, ließ sie Eltern, die sie über drei entsprechende Internetforen rekrutierte, 90 Fragen zur Geschlechtsidentität ihrer Kinder, der Nutzung sozialer Medien, dem Freundeskreis und früheren psychischen Störungen beantworten.

Insgesamt konnte Littman 256 Fragebögen auswerten, wobei über 82 % der betroffenen transgender Jugendlichen als weiblich geboren wurden. Das Durchschnittsalter der Jugendlichen betrug 16,4 Jahre. Es stellte sich heraus, dass bei über 62 % der Jugendlichen eine psychische Störung, zum Beispiel Depressionen, oder eine neurologische Entwicklungsstörung wie Autismus diagnostiziert wurden, bevor ihre Geschlechtsdysphorie einsetzte. Zudem identifizierten sich im Freundeskreis von mehr als 36 % der Jugendlichen die Mehrheit der Freunde als transgender. Viele an der Studie teilnehmende Eltern beklagten außerdem eine Verschlechterung des Eltern-Kind-Verhältnisses, nachdem das Kind sein Coming-out als transgender hatte, häufig dadurch, dass sich das Kind zunehmend von der Familie isolierte. Auch vertraute fast die Hälfte der Jugendlichen nur noch Informationen über Geschlechtsdysphorie, die aus Quellen stammten, welche sich direkt an Transmenschen richteten oder von Transmenschen verfasst wurden; mehr als die Hälfte misstraute Informationen von Ärzten und Psychologen.

Littman schlussfolgerte, dass insbesondere die Zahlen zu transgender Individuen im Freundeskreis der Betroffenen darauf hinweisen, dass „soziale Ansteckung“ für die wachsende Anzahl von sich als transgender identifizierenden Jugendlichen mitverantwortlich sei. Dies sei vergleichbar mit der bereits erforschten sozialen Ansteckung bezüglich Essstörungen wie Anorexia nervosa in jugendlichen Peergroups. Zudem scheine die geschlechtliche Transition für viele Jugendliche eine Bewältigungsstrategie sein, um mit negativen Emotionen umzugehen, wie es auch Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten und Drogenmissbrauch sein können, so Littman. Die Ergebnisse der Studie bewiesen laut Littman das von üblichen Erklärungsmustern für Geschlechtsdysphorie bei Jugendlichen abweichende Phänomen der plötzlich einsetzenden Geschlechtsdysphorie, für das sie den Begriff der Rapid-Onset Gender Dysphoria (ROGD) prägte.

2017 veröffentlichte Littman vorläufige Ergebnisse ihrer Studie in einem wissenschaftlichen Aufsatz unter dem Titel Rapid Onset of Gender Dysphoria in Adolescents and Young Adults: a Descriptive Study (deutsch: Plötzlich einsetzende Geschlechtsdysphorie bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen: eine beschreibende Studie) im Journal of Adolescent Health. Endgültige Ergebnisse veröffentlichte Littman im August 2018 im Wissenschaftsmagazin PLOS One. Während Littmans Studie insbesondere von Wissenschaftlern, die geschlechts-affirmative Therapien kritisch betrachten, positiv aufgenommen wurde, wurde sie von Wissenschaftlern, die sich mit Trans-Gesundheit auseinandersetzen und Mitgliedern verschiedener trans-Communities stark kritisiert.

Debatte zu akademischer Freiheit

In Reaktion auf die Kritik kündigte das Wissenschaftsmagazin PLOS One am 27. August 2018 an, den Aufsatz einer erneuten Prüfung hinsichtlich Methodik und Analyse zu unterziehen. Am gleichen Tag gab auch die Brown University eine Mitteilung heraus, wonach sie die Nachricht über die Veröffentlichung von Littmans Artikel von ihrer Webseite entfernen wolle.

Das Vorgehen des Magazins und der Universität lösten eine weitere Debatte über akademische Freiheit aus. Eine Petition, mit der die Brown University aufgefordert wird, an der Seite Littmans für die akademische Freiheit einzutreten, fand mehr als 5000 Unterzeichner. Der ehemalige Dekan der Harvard Medical School Jeffrey Flier kritisierte die Brown University in einem Artikel für das Magazin Quillette offen dafür, Littman nicht gegenüber Kritikern verteidigt zu haben. Die Entscheidung der Universität und des Magazins werfen ihm zufolge die Frage auf, inwieweit Forschung zu kontroversen Themen noch möglich sei.

Die Brown University sah sich veranlasst, klarzustellen, dass ihre Reaktion von Bedenken hinsichtlich akademischer Standards, nicht aber der Unterdrückung akademischer Freiheit motiviert war.

Am 19. März 2019 veröffentlichte PLOS One das Ergebnis der nachträglichen Prüfung des Artikels, an der sich zwei Herausgeber wissenschaftlicher Schriften, ein Statistikexperte und ein Forscher, der sich mit Abweichungen von Geschlecht und Gender bei Jugendlichen beschäftigt, beteiligt hatten. Der Artikel erwies sich in ihrer Prüfung als berechtigter Beitrag zur wissenschaftlichen Forschung auf dem Gebiet. Um die Ergebnisse der Studie angemessener zu framen, wurden aber kleineren Änderungen unter anderem hinsichtlich des Titels und des Abstracts vorgenommen, weshalb der Artikel neu veröffentlicht wurde. Die Sprache des ursprünglichen Artikels wurde abgeschwächt (beispielsweise wurde das Wort „outbreak“, englisch für „Ausbruch“, entfernt) und es wurde klargestellt, dass ROGD bislang nicht als klinisch bestätigte Diagnose gilt. In einem Kommentar, der mit der neuen Version des Artikels veröffentlicht wurde, hob der Herausgeber Angelo Brandelli Costa hervor, dass Littmans Studie bislang nur indirekte Beweise dafür liefere, dass soziale Medien für die Jugendlichen eine besondere Rolle bei der Identifikation als transgender spielen. Der Chefredakteur des Wissenschaftsmagazins Joerg Heber entschuldigte sich zudem bei der Transgender-Community und anderen Betroffenen für die Fehler bei der ursprünglichen Prüfung des Artikels.

Rezeption im deutschsprachigen Raum

In Deutschland wurde die Theorie der Rapid-Onset Gender Dysphoria in den Medien z. B. in einem Artikel der Ärzte Zeitung im Oktober 2018 und in einem Interview des Spiegels mit dem Kinderpsychiater Alexander Korte thematisiert. Beide Texte stießen auf Kritik der deutschen Transgender-Community und von Kollegen.

Nachweise

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